Mondschein-Sonate

 

 

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Kapitel 7: Precipitoso



An diesem Abend fühlte sich Mirela leicht und befreit, als sie zu den Kerkern hinunter stieg. Sie schwebte förmlich die Treppe hinab. Heute Abend würde sie dem bösen Spuk ein Ende machen. Irgendein unbeobachteter Moment würde sich schon bieten, in dem sie den Observator wegnehmen konnte. Sie würde die Beweise gegen Severus vernichten, und außer einem wütenden Rick, der in seinem eigenen Interesse besser den Mund hielt, und Bobby, der nichts kapiert hatte, würde nie ein Mensch davon erfahren. Sie würde die Sache vergessen und sich irgendwann selbst verzeihen, dass sie so dumm gewesen war. Es war ja nichts passiert. Sie würde weiter abends in Snapes "Kathedrale" Geige üben und die Freundschaft mit ihm - ja, so konnte man es wohl nennen - ohne Hintergedanken weiterführen. Erst als ihr die Last ihres grausamen Plans von den Schultern fiel, merkte sie, wie sehr sie sie bedrückt hatte.

Zu ihrem Erstaunen stand die Kerkertür offen. Das war gar nicht Snapes Art. Er versiegelte sie äußerst penibel mit Zauberbannen, wenn er fort ging, und auch, wenn er daheim war, war die Tür zur Außenwelt immer verschlossen. Unangemeldete Besuche gab es bei ihm nicht. Wer etwas von ihm wollte, musste klopfen und oft eine ganze Weile warten, bis Snape sich entschloss, nachzusehen. Mirela schubste die angelehnte Tür weiter auf und betrat den Unterrichtskerker. "Severus?" Plötzlich wurde sie von einem Hustenanfall geschüttelt. Beißender Qualm stieg ihr in die Nase und trübte ihre Sicht. Mirela ergriff den Saum ihres Umhangs und hielt ihn sich vor Mund und Nase, ehe sie weiterging. Als sie tiefer in den Raum hineinging, ließ das Brennen in ihren Augen nach, und sie wagte sie zu öffnen. Was sie sah, war unfassbar. Ein heilloses Chaos herrschte in Snapes sonst so ordentlichem Arbeitsbereich! Scherben lagen überall verstreut, und an einer etwas abgesenkten Stelle des Fußbodens, nahe der Tür, waren verschiedene Flüssigkeiten zu einer Pfütze zusammengelaufen, aus der der infernalische Dampf aufstieg. Die farbigen Rinnsale kamen aus verschiedenen Richtungen, liefen aus zerbrochenen Gefäßen, die die unterschiedlichsten Flüssigkeiten beherbergt haben mussten. Was da zusammenfloss, vertrug sich mit Sicherheit nicht gut, konnte brennbar sein, explosiv oder giftig. In jedem Fall stank es und brannte in den Atemwegen. Mirelas fassungsloser Blick wanderte über die Regale an den Wänden, wo Professor Snapes Gläser mit Trankzutaten zu stehen pflegten, fein säuberlich und liebevoll geordnet und beschriftet. Alles, nahezu alles, war kaputt. Scherbenhaufen, wohin man auch blickte. Die wenigen Behältnisse, die überhaupt noch in den Regalen standen, oder besser lagen, ließen scharfkantige Abbruchkanten aufragen. Flüssigkeiten tropften von den Regalbrettern zu Boden. Teile von eingelegten Pflanzen oder Tieren lagen grotesk herum. Mirela konnte keinen klaren Gedanken fassen. Sie fühlte nur ein würgendes Gefühl von Panik. Scherben knirschten unter ihren Füßen, als sie ins Schlafzimmer stürzte. "Severus? Poe?" Nicht einmal der Rabe war da. Ein Pfosten von Severus´ Himmelbett war eingeknickt, als hätte jemand mit einer Axt darauf losgeschlagen. Mirela rannte weiter, hinab in´s Musikzimmer. Auch hier: totale Verwüstung! Severus´ Bücher, oder was von ihnen übrig war, lagen auf dem Boden verstreut. Herausgerissene, zerknüllte Seiten, wo man hinsah. All die Notenblätter, die Severus so liebevoll gesammelt hatte, achtlos hingeschleudert. Ein Gedanke durchzuckte Mirela. Sie ging in eine Ecke des Raumes. Der Observator! Er war weg.

Im ersten Moment hatte Mirela das Gefühl, sie würde ohnmächtig werden. Sie ließ sich langsam zu Boden sinken. Rick! Er musste ihr zuvorgekommen sein! Wie hatte sie auch glauben können, es wäre so einfach, seine Pläne zu durchkreuzen. Er hatte ihr vorhin vermutlich kein Wort geglaubt. Es war ja nicht jeder so gutgläubig wie sie selbst, sie hätte nicht von sich auf andere schließen sollen. Schon gar nicht auf Rick. Er musste gespürt haben, dass sie nicht mehr hinter seiner Sache stand, und hatte sich den Observator selbst geholt. Aber wie war er hier hereingekommen? Mirela griff in ihre Tasche. Der magische Schlüssel war noch da. Die Erkenntnis hätte das Mädchen zu Boden geschmettert, wenn es nicht schon eben dort gesessen hätte: Auroren! Natürlich. Rick war nicht allein hier herunter gekommen. Er hatte die Männer, denen er Snape ausliefern wollte, gleich mitgebracht. Wie dumm von ihr, zu glauben, dass er sie, Mirela, noch brauchte, um ans Ziel zu gelangen! Er hatte die Aufzeichnungen, die er wollte, und er hatte die nötigen Kontakte zu den Leuten, die sie sich mit Gewalt verschaffen konnten.
Auroren, Götter in Gold, mit der Lizenz zum Töten, zum Foltern, und allemal zum Eindringen in jeden privaten Raum ihrer Wahl. Was für ein Kampf musste hier getobt haben, der solche Spuren hinterlassen hatte! Mirela wurde schlecht. Sie presste sich den Handrücken auf den Mund, um sich nicht zu übergeben. Obwohl es in diesem Chaos und Gestank schon kaum noch eine Rolle gespielt hätte. In ihrem Kopf entstanden Bilder, wie Snape verzweifelt versucht haben musste, sich seiner Haut zu wehren. Rohe körperliche Gewalt musste hier stattgefunden haben, und mit Sicherheit waren auf beiden Seiten Zaubersprüche hin- und her geflogen. Auroren durften die Unverzeihlichen Flüche gegen Todesser einsetzen, das wusste Mirela. Sie mochte sich nicht vorstellen, welche Arten von Flüchen in die Gläser auf den Regalen oder den Bettpfosten eingeschlagen sein mussten. Oder in welchem Zustand sie Severus letztendlich mitgenommen hatten.

Mirela hatte den Brechreiz unterdrückt und nahm den Handrücken vom Mund, fuhr damit über ihr Gesicht. Sie spürte, dass es nass war. Sie hatte nicht gemerkt, dass sie weinte. Sie erhob sich und wankte hinüber zum Flügel. Er stand offen. Auf dem Notenpult am Deckel stand noch ein Blatt Pergament. Noten, handgemalt. Ein unvollendetes Stück, offensichtlich noch nicht zu Ende komponiert. Mittendrin abgebrochen. Wie ein Leben, das mitten in seiner Blüte beendet wurde. Nun würde es nie fertig werden. Mirela las die Überschrift, die in Snapes akkurater Handschrift über den Noten stand: "Für Mirela."

Sie sank auf den Klavierhocker und ließ ihren Kopf und ihre Arme auf die Tasten fallen, die eine schaurige Dissonanz herausschrieen. "Das hab ich nicht gewusst!", schluchzte sie. Sie hatte nicht gewusst, dass Severus auch komponierte. Sie hatte nicht gewusst, dass er es für sie tat. Für sie! Die ihn verkauft und verraten hatte! Sie hatte so vieles nicht gewusst.

In wenigen Tagen wäre das Stück wohl fertig gewesen. Er hätte es ihr geschenkt. Wahrscheinlich hätte er dabei gelächelt und versucht, es hinter einem Vorhang aus wirren, schwarzen Haarsträhnen zu verbergen. Furchtbar stolz wäre er gewesen und furchtbar ängstlich, ob es ihr gefallen würde. Das alles würde nun nie mehr stattfinden. Niemals. Sie würde das angefangene Blatt behalten, zur Erinnerung an einen Menschen, der gerade erst gelernt hatte zu lächeln, und der es nie wieder tun würde. Und sie würde nie im Leben wissen, wie die Melodie weiterging.

Das Lied war verstummt. Sein Leben war zerbrochen. Ihr eigenes Leben war zerstört. Und alles war ihre Schuld! So fühlte es sich also an, wenn man wahnsinnig wurde.

Schwankend erhob sich Mirela von dem Hocker, das Notenblatt in der Hand, und schlurfte durch die Buchseiten am Boden, wie durch eine Schicht toter Blätter im Herbst. Doch hier würde es keinen Frühling geben, der alles wieder gut machte. Sie stolperte über ein Buch, landete auf allen vieren. Ihr Blick fiel auf das Buch, an dem sie hängengeblieben war. "Fidelio", das Text- und Notenbuch zur Oper, illustriert von Severus Snape. Ihre zitternden Finger blätterten durch die Seiten. Eine eiskalte Hand griff nach ihrer Seele, beim Betrachten der furchtbaren Bilder. Die schwarzen, undurchdringlichen Mauern des Gefängnisses, getränkt von Angst und stummen Schreien. Die Dementoren. Askaban. Der Gefangene im untersten Verlies, halb tot. "Nein!", schluchzte Mirela, "nein! Ich wollte das nicht! Was hab ich getan!"

Rick! Mirela klammerte sich an den einen Gedanken: Rick! Er war schuld, nicht sie! Sie hatte das doch nicht gewollt. Er war es! Er ganz allein! Und er musste machen, dass es wegging! Er musste machen, dass alles wieder gut war! Wo war er?

***



"Was´n mit dir los, Miri?", fragte Bobby. Er sah erschrocken aus. "Miri, hast du geweint?"
"Bobby, wo ist Rick?"
"Der is´ nich´ da. Er hat mir nich´ mal gesagt, wo er hin will. Und ich warte schon ganz lange auf ihn." Bobby guckte wie ein kleines Kind, das von seiner Mama allein gelassen wurde und halb ängstlich, halb trotzig herumsteht. Miri war ihm auch keine Hilfe. Jetzt rannte die auch noch weg! Warum sagte ihm keiner was? Und wie sie ausgesehen hatte...

Mirela rannte die Gänge entlang. 'Dumbledore!', dachte sie, 'wenn es einen gibt, der alles wieder gutmachen kann, ist es Dumbledore!'

Kapitel 6

Kapitel 8

 

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