Kapitel 2: Nach Hogwarts
Nachdem er diesen Entschluß gefaßt hatte, kam Severus zittrig auf die Beine. Ihm war noch immer schwindelig vor Schmerz und durch den Blutverlust. Apparieren kam in seinem derzeitigen Zustand nicht in Frage. Blieb der Fahrende Ritter. Die Busfahrt würde ihm sogar Zeit geben, aus seiner mentalen Erstarrung herauszukommen und seine Entscheidung zu durchdenken. Zu planen, was er Dumbledore erzählen würde. Eine Strategie zu entwickeln. Vielleicht wäre der erste strategische Schritt, seine Kleidung zu trocknen und etwas zu säubern. Präsentabel sah er nicht gerade aus. Warum bloß hatte er keinen wasserabweisenden Zauber auf seinen Umhang gelegt, bevor er in den Regen hinaus gerannt war? Und das Blut auf seiner Kleidung und an seinen Händen würde auch keinen guten Eindruck machen, obwohl es dieses Mal ausschließlich sein eigenes war.
Seine Hände suchten nach seinem Zauberstab, aber er fand sich in keiner seiner Taschen. Verdammt! Der Zauberstab war verbrannt und begraben in dem verfluchten Haus, das einmal sein Zuhause gewesen war. Zusammen mit seinem ‚heißgeliebten Vater'. Und Lucius Malfoys. Wenigstens dieser Gedanke brachte eine gewisse Befriedigung. Zwei treue Speichellecker weniger für den Dunklen Lord. Aber keinen Zauberstab zu haben war nicht gut, ohne ihn fühlte er sich nackt und wehrlos. War jetzt wohl nicht zu ändern. Und es ersparte dem Ministerium die Arbeit, ihn zu brechen ...
Der Fahrende Ritter. Glücklicherweise konnte er ohne Zauberstab herbeigerufen werden. Severus gab das Signal, und mit einem ‚Plop' tauchte wie aus dem Nichts das merkwürdige Gefährt auf und kam mit furchterregender Geschwindigkeit auf ihn zu. Der junge Zauberer mußte schnell zurück springen, um nicht überfahren zu werden. Verdammter, irrsinniger Fahrer! Mit laut kreischenden Bremsen kam der Bus vor ihm zum Stehen, und die Tür öffnete sich.
Als Severus einstieg, fielen dem ältlichen Fahrer fast die Augen aus dem Kopf. Wenn es nicht inzwischen heller Tag gewesen wäre, hätte er schwören können, daß es sich bei diesem totenbleichen, vom Regen durchweichten und blutbesudelten neuen Fahrgast um einen Vampir auf der Flucht handelte. Aber von einer lichtresistenten Vampirrasse hatte er bisher noch nie gehört. Gewiß gab es eine ganz harmlose Erklärung für das ungewöhnliche Aussehen des jungen Mannes. Vielleicht eine kleine Rauferei mit einem Freund nach einer durchzechten Nacht? Nach dem ersten Schock gewannen seine mitfühlende Neugierde und gutmütige Natur wieder die Oberhand.
"Himmel, Kumpel, du siehst grauenhaft aus. Wohl von 'nem Bus angefahren worden, was?"
"Kümmere dich um deine eigenen Angelegenheiten!" giftete Severus und bedachte den Fahrer mit einem verächtlichen Blick.
"'Tschuldigung, wollte dir nich' zu nahe treten! Wo willst'de überhaupt hin?"
"Hogwarts."
"Das kann 'n Weilchen dauern. Besser, du suchst dir 'nen Platz und machst es dir bequem. Willst'nen heißen Kakao? Schokolade? Bonbons? Zeitschriften? Kopfhörer?"
"Nein" brüllend und dem geschwätzigen Mann fast das Fahrgeld ins Gesicht schleudernd stürmte Severus zum Ende des Busses, so weit weg von dem krankmachend jovialen Fahrer wie möglich.
Es waren eine ganze Menge Passagiere im Bus, zumeist Hexen mit ihren Kindern, die Weihnachtseinkäufe erledigen oder Verwandte besuchen wollten. Sie alle starrten ihn an, aber ein mörderischer Blick war genug, um die gaffenden Kinder in Angst und Schrecken die Augen abwenden zu lassen. Sogar Flüstern schien zu gefährlich in der Gegenwart des düster aussehenden Mannes.
In einer dunklen Ecke fand Severus einen abgeschiedenen Sitz und nahm Platz. Doch als der Bus mit einem plötzlichen Ruck losfuhr, wurde er fast zu Boden geschleudert. Er fluchte. Dieser Fahrstil war geradezu Gift, wenn einem ohnehin schon schlecht war. Er mußte sich sehr zusammennehmen, um sich nicht übergeben zu müssen. Vielleicht legte er sich besser hin. Vorsichtig stand Severus wieder auf und streckte seine langen Glieder auf einer der dünnen Matratzen aus, die von der Nacht noch nicht weggeräumt worden waren. Das war besser. Aber er war bis auf die Haut durchnäßt, und es war ihm so kalt, daß seine Zähne zu klappern begannen. Als der unerträgliche Fahrer nach hinten kam und eine Decke über den frierenden Mann breitete - glücklicherweise ohne ein Wort zu sagen - schaffte Severus nur einen leicht bösen Blick, bevor er sich unter der Wolldecke zusammenrollte.
***
"Hey, Kumpel, aufwachen. Nächster Halt is' Hogwarts."
Hogwarts. Nach einem unruhigen Schlaf voller Bilder von Feuer und Tod öffnete Severus die Augen. Bei seinem Schulabgang vor vier Jahren war er sich sicher gewesen, daß er niemals wieder seinen Fuß auf Hogwartsboden setzen würde. Jedenfalls nicht freiwillig. Die Schule war ihm zwar mehr ein Zuhause gewesen als jedes andere, das war schon wahr. Aber dennoch war es eine Erleichterung gewesen, endlich von den Dummköpfen wegzukommen, die seine Klassenkameraden gewesen waren, und von den argwöhnischen Blicken der überwiegend inkompetenten Lehrer. Und dann waren da noch die erniedrigenden sogenannten Streiche von Sankt Potter und seinen Jüngern und das irritierende Blitzen in den Augen des Schulleiters. Wenngleich das Blitzen dem kalten, durchdringenden Zornesblick in diesen selben Augen, der sein menschliches Ziel bis auf die Knochen auszuziehen schien, entschieden vorzuziehen war.
Ihn schauderte. Diesem Blick ausgesetzt zu sein war nicht etwas, das er gerne ein zweites Mal erleben wollte, obwohl es sehr wahrscheinlich genau das und sogar schlimmeres war, was er zu erwarten hatte noch bevor der Tag vorüber war. Potter war natürlich nie das Ziel von Dumbledores stillem Zorn gewesen. Nicht einmal dieser hohlköpfige Mistkerl Sirius Black oder der Werwolf. Nein, es war alleine Severus gewesen, der alles abbekommen hatte, nachdem er fast von der ‚Dreiheiligkeit' in den Tod geschickt worden war. Sie waren trotz allem noble Gryffindors. Und er war nichts als eine heimtückische Slytherin-Schlange.
Wenn er bloß nach seinem Schulabschluß nach Amerika gegangen wäre, oder Australien, oder sogar Alaska. Alles wäre besser gewesen als zu bleiben. Zu bleiben und sich zusammen mit einigen seiner Hausgenossen den Todessern anzuschließen. Und in das verfluchte Haus in der Nockturngasse zurückzukehren und seinem ‚Vater' beim Brauen von Zaubertränken für den Dunklen Lord zu helfen. Oder seltene Zutaten für die Experimente seiner Lordschaft zu besorgen. Aber er war schon zu tief in die Sache verwickelt gewesen, hätte alles getan für einen einzigen Blick der Anerkennung, ein lobendes Wort von seinem Patenonkels und Meisters. Gerade erst war er von einem Auftrag zurückgekehrt, dieses Mal sollte er eine gewisse marine Schnecke besorgen, von der gesagt wurde, sie enthalte ein sehr potentes Gift. Er hatte das Gefäß mit dem eingelegten Tier noch in seiner Tasche ...
Und jetzt kehrte er freiwillig nach Hogwarts zurück. Wie ironisch. Zu dem lächelnden und, wie so viele glaubten, vertrauensseligen alten Dummkopf von einem Schulleiter. Aber Severus wußte es besser. Er hatte das schlafende Biest in Dumbledores Augen gesehen. Und wehe, wenn das Biest losbrach.
Wortlos stieg Severus aus dem Bus und ging zu dem eindrucksvollen schmiedeeisernen Tor der Schule. Quietschend öffneten sich die großen Torflügel. Es war inzwischen später Nachmittag, und es regnete noch immer leicht. Severus betete zu allen Göttern - oder zum Teufel, wer auch immer seinen Wunsch erfüllen würde - daß sich die Schüler und Lehrer noch immer im Unterricht befanden und nicht in der Eingangshalle oder den Korridoren herumliefen. Das allerletzte, wonach ihm jetzt der Sinn stand, war, in eine Horde vergnügter Erstkläßler hineinzurennen. Er zog seine Kapuze hoch, um sich vor dem Regen und neugierigen Blicken zu schützen, und setzte seinen Weg zum Haupteingang fort.
Ihm war kalt und schwindlig, und je näher er dem Schloß kam, desto nervöser wurde er. Als er die große, hölzerne Tür erreichte, konnte er sich kaum davon abhalten, umzudrehen und in Panik davonzurennen. Klingel schon, du verdammter Feigling, schalt er sich selbst. Und mit zitternden Händen folgte er seinem Befehl.
Oh, Freude! Von allen Lehrern mußte es ausgerechnet Minerva McGonagall, die gestrenge Hauslehrerin von Gryffindor, sein, die an die Tür kam. Durch die halb geöffnete Tür betrachtete sie ihn abschätzig von oben bis unten, ihre Augenbrauen argwöhnisch nach oben gezogen.
"Wer sind Sie, Mister, und was wollen Sie hier? Erklären Sie sich!" Ihre Stimme war genauso schneidend und vorwurfsvoll wie Severus sie aus seiner Schulzeit in Erinnerung hatte. Zeig jetzt nur bloß nicht, wie nervös du bist, reiß dich zusammen! Nur nicht von ihrem durchdringenden Blick beeindrucken lassen.
"Severus Snape. Ich muß mit Professor Dumbledore sprechen."
Snape. Der Name ließ bei ihr alle Alarmglocken schellen. Sie erinnerte sich an den Jungen. Sehr intelligent, ehrgeizig und überaus arrogant. Ein Einzelgänger, der die meiste Zeit alleine mit seinen Büchern verbrachte, wenn er nicht gerade in diese unglaubliche persönliche Fehde mit James Potter und seinen Gryffindor-Freunden verwickelt war. Mit Sicherheit war nichts Gutes von ihm zu erwarten. Von dieser gerissenen, heimtückischen, schleichenden kleinen Slytherin-Schlange. Und diese Flecken auf seinem Umhang, war das nicht Blut?
"Worüber wollen Sie mit dem Direktor sprechen, Mr. Snape?" fragte sie scharf.
"Geht Sie verdam..." Nein, das war nicht gut. Überhaupt nicht gut. Man schnauzte die Professorin nicht an, und fluchen tat man schon gar nicht. Sie würde ihm einen schneidenden Vortrag über gutes Benehmen halten und ihm dann die Tür ins Gesicht knallen. Beruhige dich und versuch es noch einmal.
"Es ist streng persönlich."
"Sie müssen verstehen, Mr. Snape, daß dies gefährliche und bewegte Zeiten sind. Ich kann Sie unmöglich in die Schule lassen, ohne die Legitimität ihres Ansinnens zu überprüfen, vor allem, wenn Sie beabsichtigen, die kostbare Zeit des Direktors in Anspruch zu nehmen. Nun, Mr. Snape?"
Keine Antwort.
"Dann, Mr. Snape, muß ich Sie darum bitten zu gehen." Mit Bestimmtheit begann sie die Türe zu schließen.
"Warten Sie, Professor! Es ist wichtig, dringend. Bitte ..." Die offensichtliche Verzweiflung in der Stimme des jungen Mannes ließ die gestrenge Professorin zögern.
"Würden Sie sich endlich dazu entschließen mir zu erzählen, worum es hier geht, Mr. Snape?"
"Ich kann nicht." Seine Stimme war heiser, fast ein Flüstern. Plötzlich war nicht mehr viel von dem stolzen, arroganten Slytherin übrig, an den sie sich erinnerte. Den Blick zu Boden gesenkt, mit zitternden Händen und augenscheinlich bemüht, die Tränen zurückzuhalten, kam ihr ihr ehemaliger Schüler eher vor wie ein zu groß geratener, verängstigter Erstkläßler, der aufs Nachsitzen wartete. Gegen besseres Wissen gewann der normalerweise wohlverborgene mütterliche Teil in Professor McGonagall, der sogar für einen verirrten Slytherin etwas Trost und Mitleid übrig hatte, die Oberhand.
"Okay, Mr. Snape, ich werde Sie den Direktor sehen lassen. Aber nur unter einer Bedingung: Sie müssen mir, so lange Sie sich in Hogwarts aufhalten, Ihren Zauberstab aushändigen."
"Ich habe keinen Zauberstab." Seine ruhige Antwort überraschte sie.
"Sie haben keinen Zauberstab?" fragte sie ungläubig. "Und Sie glauben wirklich, daß ich Ihnen diesen Unsinn abnehme?"
"Ich habe ihn verloren." Beunruhigend schwarze Augen blickten in die ihren. Der Junge sah eindeutig aus, als hätte er mehr als seinen Zauberstab verloren. Sollte sie Madame Pomfrey rufen? Aber dies könnte tatsächlich von Wichtigkeit sein. Schließlich traf sie eine Entscheidung.
"Folgen Sie mir, und keine miesen Tricks!"
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