Seine Seele häuten

 

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Kapitel 1: Geheimnisse in der Dunkelheit



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Severus Snape betrat das düstere Haus in der Nockturngasse durch die Hintertür. Nur im schwachen Licht, das der Spitze seines Zauberstabs entsprang, und vorsichtig darauf bedacht, keinen Lärm zu machen, bewegte er sich auf die Treppe zu. Eine Begegnung mit seinem - höchst wahrscheinlich betrunkenen - Vater war nicht gerade das, was er sich nach seiner soeben vollbrachten Mission für seinen Meister wünschte. Natürlich hatte er die Mission erfolgreich erledigt, wie immer, und er hatte den Auftrag viel schneller ausgeführt als erwartet. Aber es war ziemlich anstrengend gewesen, und momentan war das einzige, wonach er sich sehnte, einige Nächte Schlaf nachzuholen.

Im Wohnzimmer brannte noch Licht. Severus konnte es durch die Risse in der alten Holztür sehen. Und er konnte gedämpft die Stimmen von Scelestus Snape und Caligula Malfoy hören. Welche Teufelei sie wohl diesmal ausheckten? Neugier siegte über Müdigkeit, und vorsichtig schlich er zur Tür. Aber was er nun hörte, sollte sein ganzes Leben auf den Kopf stellen ...

"... und das beste ist, daß er rein gar nichts davon weiß. Nicht mal den leisesten Schimmer einer Ahnung hat er. Kannst du das glauben? Wir haben die perfekten Eltern gemimt, die arme, verblichene Sylvia und ich, findest du nicht auch?" Scelestus' betrunkenes Gelächter füllte den ungepflegten Raum. Der Säufer bemerkte weder den angewiderten Gesichtsausdruck seines Gastes, noch den stillen Lauscher draußen im dunklen Korridor.

Caligula Malfoy verachtete diesen Todesserkollegen aus tiefstem Herzen, aber ab und zu war er durch Notwendigkeit dazu gezwungen, sich mit dieser armseligen Entschuldigung für einen Reinblütler abzugeben. Diesmal war er gekommen, um einige spezielle Zutaten für einen gewissen, illegalen Zaubertrank abzuholen, die nur Scelestus liefern konnte. Und der Bastard war nicht dazu bereit, die wertvollen Zutaten herauszurücken, ohne Caligula vorher zu einem gemeinsamen Drink zu nötigen. Der billige Whiskey brannte Caligulas Kehle hinunter und ließ ihn nach Luft schnappen. Aber die Geschichte hörte sich interessant an, das mußte er zugeben, vielleicht ein noch nie erzähltes Geheimnis, aus dem er später seinen Nutzen ziehen konnte, wer weiß? Also, Scelestus und Sylvia waren nicht Severus' Eltern. Wer hätte das gedacht? Mit seinem fettigen, schwarzen Haar, der fast farblosen Haut und der Hakennase sah der Junge exakt aus, wie eine eher unvorteilhafte Mischung aus seinen Eltern - nein, nicht seinen Eltern, wenn das, was Scelestus ihm gerade erzählt hatte, wahr war und nicht das sinnlose Gefasel eines alten, brabbelnden Säufers.

"Wer sind dann seine Eltern, und was ist mit ihnen passiert?"

"Das willst du wohl gerne wissen, lieber Freund. Aber es ist Top Secret, auf aller höchsten Befehl." Scelestus brach in ein irres Kichern aus. "Deine Neugier wird dich eines Tages noch um Leib und Leben bringen, lieber Caligula."

"Und übertriebene Heimlichtuerei bringt dich früher oder später noch unter die Erde, Scelestus Snape. Wie dem auch sei, ich glaube dir ohnehin nicht. Warum sollte der Dunkle Lord sich für die Herkunft des Jungen interessieren? So außergewöhnlich kann sie ja wohl kaum sein?!" Dies war die beste Methode, den filzigen, selbstzufriedenen Bastard zu überlisten. Einfach vorgeben, nicht an die Wichtigkeit seiner Informationen zu glauben. Dann würde der fettige Mistkerl das Geheimnis bereitwillig genug ausplaudern.
"Du glaubst mir nicht?" Scelestus lehnte sich weiter vor, sein nach Alkohol stinkender Atem schlug dem jüngeren Mann unangenehm ins Gesicht. "Und was wäre, wenn Seine Hoheit selbst den Jungen bei seinem verläßlichsten und treusten Gefolgsmann und seiner Frau abgeladen hätte? Was, wenn der Dunkle Lord sein Vater ist?"

In der Dunkelheit des Korridors hielt Severus den Atem an.

"Das kann nicht dein Ernst sein. Du hast zu viel Whiskey getrunken!"

"Glaub es oder laß es bleiben. Aber ich kann dir sagen, da draußen gibt es Gräber, drei Gräber. Unser Meister hat gründliche Arbeit geleistet, als er den Jungen von dieser Schlammblut-Hure geholt hat, die seine Mutter war, und von deren Eltern. Übrigens bin ich mir ziemlich sicher, daß du sie kanntest. Ging nach Hogwarts, gleicher Jahrgang wie du und Tom. Wirklich eine Schönheit. Ihr Name war Helena Evans, Gryffindor."

Caligula starrte ihn an. Er wußte, was damals zwischen seinem Klassen- und Hauskameraden, dem ehemaligen Tom Riddle, und Helena Evans passiert war. Aber er hatte nie geahnt, daß der Zwischenfall Konsequenzen gehabt hatte. Und niemals hätte er vermutet, daß diese Konsequenzen den Namen Severus Snape trugen.

"Kannst du das beweisen?"

"Schau den beiden nur in die Augen, dann hast du deine Beweise." Scelestus kam noch näher, seine Nase nur Zentimeter von Malfoys entfernt. "Und Severus spricht Parsel ..."

Der junge Mann, über den die beiden Zauberer im Wohnzimmer sprachen, lehnte sich schwer gegen die Tür, zu benommen von dem, was er gehört hatte, um auch nur einen vernünftigen Gedanken zu fassen oder sich zu bewegen. Fast vergaß er zu atmen. Der Dunkle Lord war sein Vater. Die einzige Person, die je Interesse an ihm gezeigt hatte, derjenige, der ihm seinen ersten Zauberstab gekauft hatte, als er gerade drei war, der ihm faszinierende Bücher voller Dunkler Magie gegeben und ihm lobend auf die Schulter geklopft hatte, als er es mit nur sieben Jahren schaffte, eine Ratte mit dem Imperius-Fluch zu belegen. Sein über alles bewunderter Patenonkel, der ihm erklärt hatte, was Macht bedeutete. Und der ihm beigebracht hatte, auf sein Kommando hin zu foltern und zu töten. Ohne darüber nachzudenken. Dieser Mann war in Wirklichkeit sein Vater. Und er hatte ihn in diesem Höllenloch in der Nockturngasse zurückgelassen. Mit einem ‚Vater', der, wenn er betrunken war, seinen ‚Sohn' regelmäßig verprügelte, und, wenn er nüchtern war, ihn mit seinem boshaften Sarkasmus überschüttete. Nicht einmal heute konnte er sagen, was schlimmer gewesen war. Früh hatte er gelernt, wie man sich geräuschlos im Haus bewegte, wie man sich unsichtbar machten konnte, indem man mit den rettenden Schatten verschmolz, die das finstere Haus großzügig zur Verfügung stellte. Alles nur um zu vermeiden, die Aufmerksamkeit seines ‚Vaters' auf sich zu ziehen. Manchmal hatte er es geschafft, ihm so tagelang aus dem Weg zu gehen. Das waren seine Glückstage. Aber es dauerte nie lange, bevor sein ‚Vater' nach ihm suchen würde, um seine betrunkene Wut an ihm abzureagieren. Oder er verlangte nach seiner Hilfe im Zaubertränkelabor.

Schon immer hatte Severus das Labor geliebt. Es war der einzige Raum im ganzen Haus, der stets sauber und aufgeräumt war, obwohl er mehr einem Kerker als einem gewöhnlichen Zimmer glich. Kessel waren auf glatten Steintischen aufgestellt, Phiolen jeglicher Größe, Form und Farbe standen auf hölzernen Regalen und alle nur erdenklichen Zutaten waren ordentlich in Schubladen, Schachteln und Körben verstaut. Andere waren in den zahlreichen Gläsern konserviert, die auf weiteren Holzregalen an den Wänden angeordnet waren. Diese Glasgefäße mit ihren mysteriösen Inhalten, die in ebenso mysteriösen Flüssigkeiten schwammen, hatten es ihm als Kind immer kalt den Rücken herunter laufen lassen, aber gleichzeitig hatten sie eine seltsame Faszination auf ihn ausgeübt, ihn magisch angezogen. Jetzt, im Alter von zweiundzwanzig Jahren und mit einem meisterhaften Wissen über Zaubertränke, das das seines ‚Vaters' bei weitem übertraf, kannte er die Inhalte der Gläser in- und auswendig, und es gab im Grunde wenig Mysteriöses dabei, aber dennoch konnte er ein leichtes Prickeln in seinem Rücken und dieselbe magische Faszination fühlen, wenn er sie betrachtete. Wären nicht die bedrohliche Anwesenheit seines ‚Vaters' und die Schläge gewesen, die unausweichlich und meist ohne jeden Grund nach jeder Arbeitssitzung auf ihn warteten, hätte er im Tränkelabor glücklich sein können.

Seine ‚Mutter' war ihm keine Hilfe gewesen. Anfangs hatte sie sich wegen ihm ein paar Mal mit ihrem Mann gestritten, aber die meiste Zeit hatte sie in die Luft gestarrt, auf Dinge, die nur in ihrem verschwommenen Geist sichtbar waren, und war sich kaum seiner Existenz bewußt. Wenn Ickly, der alte Hauself, nicht gewesen wäre, wäre Severus wahrscheinlich lange bevor er nach Hogwarts kam verhungert oder an Vernachlässigung gestorben. Als seine ‚Mutter' während seines zweiten Schuljahres starb - höchst wahrscheinlich an einer Überdosis Zaubertrank - hatte er nichts gefühlt, keine Trauer, nichts. Es machte für ihn keinen Unterschied, ob sie da war oder nicht, da sie nie für ihn da gewesen war. Sie war nicht mehr für ihn als ein einstmals schönes Möbelstück, das schon lange seine Nützlichkeit verloren hatte und schließlich abgestoßen wurde.

Aber der Tod des alten Ickly im gleichen Jahr hatte ihn fast verzweifeln lassen. Nun war er wirklich alleine und seinem ‚Vater' ausgeliefert. Wenn nur der Sommer und diese gefürchteten Ferien nie kommen würden. Aber sie kamen so unausweichlich wie die Erde sich drehte und auf ihrem niemals endenden Weg um die Sonne kreiste. Die einzige Hoffnung, die ihn vor völliger Verzweiflung bewahrt hatte, war, daß vielleicht sein Patenonkel ein, zwei Mal während der Sommerferien zu Besuch kommen würde und neue Bücher mitbrachte, oder, falls er sehr viel Glück hatte, sich die Zeit nahm und ihm einige neue Flüche beibrachte.

Sein Patenonkel. Er hätte eine richtige Familie haben können, oder wenigstens eine Mutter und Großeltern, die sich etwas aus ihm machten, hätte im Licht leben können, wenn nicht sein ‚Patenonkel' gewesen wäre, der in Wirklichkeit sein Vater war. Der seine wirkliche Familie ausgelöscht hatte. Der ihn zu einem Leben in der Hölle verdammt hatte. Der ihn zu seinem seelenlosen Sklaven gemacht hatte. Zu einem Mörder, der genauso wenig Herz besaß wie sein Vater selbst. Der verdammte Bastard, verflucht soll er sein bis in alle Ewigkeit!

Ihm war schwindlig, übel. Er hörte die leisen Schritte nicht, die auf die Tür zukamen. Bemerkte nicht, wie Malfoy die Klinke herunterdrückte. Als die Tür plötzlich aufsprang, verlor Severus das Gleichgewicht und fiel vor Überraschung nach Luft schnappend rückwärts ins Wohnzimmer. Nicht weniger überrascht waren Malfoy und Snape Senior, als der junge Zauberer wie aus dem Nichts auf den Boden vor ihren Füßen gepurzelt kam.

"Was zum Teufel machst du hier, verdammter Hurensohn?!" brüllte Scelestus, während er bedrohlich über seinem gefallenen ‚Sohn' stand. Er griff den verblüfften Severus beim Kragen, riß ihn hoch und knallte ihn in unverhohlener Wut schmerzhaft gegen die Wand.

Obwohl Severus einige Zentimeter größer war als sein ‚Vater', war er mit seinem eher schmalen, hageren Körperbau dem stämmigen, muskelbepackten Scelestus physisch unterlegen, der trotz seiner Trunksucht und seinen fast sechzig Jahren stark wie ein Bulle war und jederzeit bereit anzugreifen.

"Was hast du gehört, du verfluchte Schlange?" grollte Snape Senior gefährlich. "Antworte!"

"Siehst du nicht, daß er unmöglich antworten kann? Du erwürgst den Jungen noch." Caligula grinste höhnisch. Er schien das Drama, das sich vor seinen Augen abspielte, in vollen Zügen zu genießen.

Zögerlich löste Scelestus seinen Würgegriff um Severus' Hals ein wenig und wartete ungeduldig, bis der junge Mann wieder zu Atem gekommen war.

"Jetzt antworte deinem Vater, was genau hast du gehört?!"

Plötzlich füllten ein fürchterlicher Zorn und grenzenloser Haß Severus' Brust.

"Du bist nicht mein Vater, du verdammter, wertloser Bastard!" schleuderte er ihm mit Nachdruck entgegen und befreite sich mit einer flinken, unerwarteten Bewegung aus dem Griff um seinen Hals, zog seinen Zauberstab und ließ Scelestus quer durch das Zimmer fliegen.

"Wie kannst du es wagen ...?" Innerhalb von Sekunden war Scelestus wieder auf den Beinen, seinen Zauberstab in der Hand.

Das konnte interessant werden, ein Vater-Sohn-Duell, oder doch nicht Vater-Sohn. Caligula trat ein wenig zurück, weit entfernt davon zu versuchen, die unterhaltsame Vorstellung zu unterbrechen. Scelestus schien durch die Aufregung nüchtern geworden zu sein, und er war als ausgezeichneter Duellist bekannt, der sich nicht um Regeln scherte. Zu was der junge Severus fähig war, konnte er noch nicht beurteilen. Aber nach dem zu urteilen, was ihm sein Sohn Lucius über seinen Slytherinkameraden erzählt hatte, kannte auch er sein Geschäft.

Flüche flogen schnell wie der Blitz. Bald gingen die Kombattanten zu den dunkelsten Flüchen über, und in den Augen beider Männer schimmerte der Wille zu töten.

"Crucio!" brüllte Scelestus schwer keuchend.

Aber Severus schaffte es, mit einem geschmeidigen, katzenartigen Satz dem Fluch auszuweichen, und nun war er es, der angriff.

"Das reicht jetzt! Expelliarmus!" Die beiden Kämpfer wurden mit Kraft rückwärts geschleudert, ihre Zauberstäbe flogen hoch in die Luft.

"Misch dich nicht ein, Malfoy!" zischte Severus, während er sich wieder auf die Füße rappelte, seine Aufmerksamkeit und Wut nun auf den höhnisch lächelnden Blonden gerichtet, der Severus' Zauberstab geschnappt hatte.

"Ich kann es wohl kaum zulassen, daß ihr zwei euch gegenseitig umbringt, oder? So sehr ich dieses Spektakel auch genießen würde. Aber was sollte ich dem Dunklen Lord erzählen, wenn ihr beide beim nächsten Treffen fehlt? Es ist nur zu eurem Besten, weißt du, und zu meinem." Und mit einem eleganten Schwung seines Zauberstabs ließ Caligula dicke Fesseln erscheinen, die sich fest um Severus' Arme, Beine und um seinen Brustkorb schlangen.

In der Zwischenzeit war Scelestus unbemerkt zu seinem Zauberstab gekrochen. Er würde den Jungen töten, komme was wolle. Mörderischer Irrsinn hatte von ihm Besitz ergriffen.

"Avada kedavra!" Grünes Licht schoß aus der Spitze von Scelestus' Zauberstab. Instinktiv ließ sich Severus fallen, gerade noch rechtzeitig, um dem Todesfluch um Haaresbreite zu entgehen.

Und dann brach die Hölle über sie herein. Severus wußte nicht, wie er es getan hatte, aber plötzlich explodierte sein brennender Zorn in einer erderschütternden Eruption von sengender Energie. Die Fesseln, die ihn banden, flogen in hunderte glühend-zischende Stücke zerfetzt durch die Luft, während mit einem Donnerschlag die halbe Zimmerdecke auf seine Angreifer herunterstürzte, die schweren Balken lichterloh brennend wie Fackeln aus dem Fegefeuer.

Sofort fing der ganze Raum Feuer. Severus stolperte, benommen von der machtvollen Demonstration unkontrollierter Magie, durch Staub, Rauch und Flammen zur Tür, während er die wahnsinnigen Schmerzensschreie ignorierte, die von demjenigen kamen, den er sein Leben lang ‚Vater' genannt hatte, als dieser von den Flammen verschlungen wurde. Malfoy wenigstens hatte einen schnelleren Tod gefunden.

Im Garten hinter dem Haus gaben seine Beine nach und er brach völlig erschöpft im nassen Gras zusammen. Die Flammen erreichten bereits den zweiten Stock des Hauses reckten gierig ihre feurigen Zungen in den schwarzen Nachthimmel empor.

***



Bald würden Leute hier sein. Er mußte weg. Schnell. Aber wohin sollte er gehen? Was zum Teufel sollte er jetzt tun? Severus konnte keinen klaren Gedanken fassen, konnte sich nicht konzentrieren. Er wollte nur raus, raus aus diesem Alptraum. Und er wollte Rache. Sein Vater hatte ihn verraten - und jetzt würde er seinen Vater verraten. Merkwürdigerweise hatte dieser Gedanke einen beruhigenden Effekt. Wenigstens hatte er jetzt ein Ziel. Er mußte sich nur noch einen Plan für seine Rache ausdenken. Aber nicht jetzt. Irgendwann später, wenn sein Kopf sich nicht mehr anfühlte, als würde er jeden Augenblick explodieren. Jetzt mußte er weg von hier. Er mußte einfach.

Zu erschöpft, um ein Apparieren wagen zu können, richtete er sich langsam auf. Ohne auf das Inferno von Flammen zurückzublicken, das er angerichtet hatte, raffte Severus die letzten Reste Energie zusammen, die ihm geblieben waren, und stolperte aus dem Garten hinaus.

Weder die Kälte, noch den herunter prasselnden Regen wahrnehmend, wanderte er ziellos die nächtlichen Straßen entlang. Schließlich kam er in einen ihm unbekannten Park und ließ sich auf eine verwitterte Holzbank fallen. Er schloß die Augen. Aber der Schlaf wollte nicht kommen, nur Bilder von seinem Leben als Todesser, von den Überfällen, dem Chaos, von Flammen und Blut. Die Gesichter von Leuten, die er gefoltert und getötet hatte. Die Schreie. Und über allem die kalte, boshafte Stimme und das schrille, wahnsinnige Gelächter seines Meisters. Vor Abscheu und Selbstverachtung hätte er sich übergeben können.

Wie sehr er dies alles haßte, sich haßte, das Mal haßte, das ihn für immer mit dem Dunklen Lord verband. Das Zeichen des Bösen, von Sünde und Verdammnis, das in sein Fleisch gebrannt war. Und obwohl er wußte, daß es vergeblich sein würde, wußte, daß es nie verschwinden würde, riß und kratzte er an dem Mal auf seinem linken Unterarm mit Zähnen und Fingernägeln und hieß den brennenden Schmerz willkommen. Aber Kratzen war nicht genug. In den Taschen seines schweren Reiseumhangs fand er das kleine Messer, das er beim Sammeln von Kräutern benutzte, und schnitt wild in das blutige Mal, das ihm noch immer boshaft entgegen grinste. Er schnitt tief.

***



Der kalte und trübe Dezembermorgen fand Severus auf dem feuchten Boden liegend und langsam aus seiner Bewußtlosigkeit erwachend. Sein Kopf dröhnte und ein betäubender Schmerz pulste durch seinen linken Arm. Er wußte weder, wo er war, noch, warum er noch am Leben war. Er zitterte vor Kälte, und sein durchweichter Umhang bot kaum Schutz vor dem nassen Winterwetter. Ihm war schwindlig und speiübel, und er fühlte sich so miserabel wie nie zuvor in seinem Leben. Am liebsten hätte er sich zusammengerollt wie ein Igel, um in diesem gottverlassenen Park zu sterben.

Aber da gab es etwas, das er zuerst tun mußte. Bevor er aufgab - Rache. Das war es. Er hing an diesem Wort wie an einer Rettungsleine. Und plötzlich erschien das Bild eines alten Zauberers mit langem, weißem Haar, langem Bart und blitzenden, blauen Augen hinter einer halbmondförmigen Brille vor seinem inneren Auge. Dumbledore. Albus Dumbledore. Der Schulleiter. Natürlich. Er würde ihm zuhören. Wenn er sich dem Ministerium stellte, würden sie ihn ohne auch nur mit der Wimper zu zucken nach Askaban schaffen oder auf der Stelle dem Kuß der Dementoren ausliefern. Nicht, daß er es nicht verdiente. Er wußte, dass er die Strafe verdient hatte. Er würde sie sogar begrüßen. Es würde dem Chaos von Gefühlen, den schrecklichen Erinnerungen, die nach den Ereignissen des vorigen Abends seinen Verstand überfluteten und drohten, seine mentalen Schutzschilder einzureißen, ein Ende bereiten. Aber zuerst wollte er Voldemort so viel Schaden wie möglich zufügen. Dem Feind alles sagen, was er wußte. Dumbledore würde zuhören, bevor er ihn verurteilte, und er würde wissen, was zu tun war ...


 

 

 

 Kapitel 2



 

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