Muggel
Kapitel 10
Snape schluckte.
Der letzten Sätze hallten hinter seiner Schläfe nach.
Er würde nie wieder zaubern können. Die Befürchtung, die er gehabt hatte, wurde gerade zur bitteren Realität. Er begann wieder am ganzen Körper zu zittern. Nie wieder? Und wenn doch, dann erst in einigen Jahren. Das wollte er nicht glauben. Wie sollte er das überstehen? Er brauchte die Magie. Er war ein Zauberer. Ein Zauberer, ohne die Fähigkeit zu zaubern, war ein billiger Taschentrickspieler. Ein Scharlatan, noch schlimmer ein Squib! Aber er war Zaubertränkemeister. Und er war gut. Ohne von sich selbst in den höchsten Tönen zu sprechen, konnte er doch sagen, dass er verdammt gut war. Er würde nur noch Substanzen zusammenmischen, aber über die Hälfte der Tränke würden keinerlei Wirkung haben. Er war unwichtig. Für niemanden von Nutzen. Und alle hassten ihn. Zum ersten Mal wünschte sich Severus er wäre freundlicher zu seinen Mitmenschen gewesen, aber das hätte auch nichts gebracht. Er war früher freundlich gewesen. Ein netter kleiner Junge und trotzdem hatte man ihn gemieden. Er hätte sich doch nur lächerlich gemacht, wenn er hinter ihnen hergelaufen wäre, wie dieser lächerliche Peter Pettigrew hinter den verhassten Gryffindors.
Hätte er auch hinter Potter und Konsorten herlaufen sollen? Zum einen hätten ihn die Slytherins zur Schnecke gemacht, im wahrsten Sinne des Wortes, zum anderen hätten die Gryffindor sich nicht darauf eingelassen.
Was dachte er hier? Sein Leben war total zerstört und er dachte über verpasste Chancen, mit Sirius Black Freundschaft geschlossen zu haben, nach. Er stand unter Schock. Eindeutig.
"Ich hatte recht, ich bin tot", flüsterte er wieder. Dumbledore sah ihn mitleidig an. Severus wusste gar nicht wie er darauf reagieren sollte. Er hasste Mitleid, aber in gewisser Weise konnte er es jetzt auch gebrauchen. Ja, eigentlich wollte er einen Menschen haben, der sich um ihn kümmerte, nur zugeben? Das war etwas anderes. Denn ebenso wie er sich jemanden wünschte, genauso verabscheute er es einer Person auf der Tasche zu liegen oder von ihr abhängig zu sein. Doch genau das schien jetzt auf ihn zuzukommen.
Er war auf das Mitleid und die Gnade der Zauberer angewiesen. Squibs waren nicht wirklich nützliche Geschöpfe der Gesellschaft. Mr. Filch hatte so ziemlich den höchsten Posten, den ein Squib in der magischen Welt erreichen konnte. Dadurch dass es so wenige von ihnen gab, fiel das natürlich nicht sehr auf.
Aber er wurde jetzt einer von ihnen.
"Mach dir erst mal keine Gedanken darum, Junge. Ich sagte dir schon, dass du auf Hogwarts in Sicherheit bist. Trotzdem muss ich dich bitten, das Gelände in nächster Zeit nicht mehr zu verlassen."
"Stattdessen bleibe ich hier und spiele Hofnarr", erwiderte er sarkastisch
"So ungern ich das sage, aber es ist wirklich besser, wenn du in der nächsten Zeit nur theoretisch unterrichtest!"
"Zaubertränke kann man nicht theoretisch unterrichten!"
"Ich könnte dir jemanden zur Seite stellen, der die Sicherheit gewährleistet und die Zauber ausführt."
Severus stöhnte genervt auf. "Albus können wir das später besprechen? Ich fühl mich gerade nicht dazu in der Lage."
Dumbledore nickte. "Aber natürlich. Gib die Hoffnung nicht auf. Wir finden eine Lösung!" Dann wandte er sich der Krankenschwester zu.
"Wenn du nichts gegen die Symptome machen kannst, kannst du zumindest erst mal verhindern, dass das Gehirn noch mehr geschädigt wird?"
Madam Pomfrey nickte. "Ich werde dir etwas geben, das deinen Blutdruck senkt und deine Nerven entspannt. Unterricht verbiete ich dir in dieser Woche ohnehin!"
Sie ging in einen Nebenraum und kam mit einer roten Flasche wieder. Severus kannte das Mittel. Erstaunt schaute er sie an. "Das ist ein Psychopharmaka", rief er entsetzt und rückte von der Krankenschwester weg.
"In der Tat. Es versetzt dich künstlich in einen Zustand der Entspannung. Du bist nicht wirklich jemand, der das gut beherrscht. Am liebsten würde ich dich hier behalten, aber ich kenne dich gut genug, dass du das nicht willst."
"Natürlich kehre ich in meine Räume zurück! Und dieses Zeug werde..."
"...wirst du nehmen!!!!" Sie schaute ihm tief in die schwarzen funkelnden Augen. Sie füllte gleich einen kleinen Becher ab.
"Das ist viel zu viel." Das konnte die Krankenschwester nicht ernst meinen. Es würde seinen kompletten Verstand aussetzen lassen. Das war noch schlimmer als der Tod.
"Du sollst dich entspannen, Severus. Oder ich lasse dich hier im Krankenflügel für die nächsten zwei Tage einschlafen!"
"Aber ich werde herumlaufen wie ein grinsender Breitmaulfrosch."
Dumbledore musste leicht auflachen.
"Oder wie ein Direktor!" gab Snape noch aufgebrachter zu Bedenken.
"Ich habe auch nicht gesagt, dass du herumlaufen sollst. Du trinkst das hier jetzt, gehst in deine Räume, legst dich ins Bett und entspannst und schläfst bis morgen früh. Dann bekommst du ein ausgewogenes Frühstück, ruhst dich anschließend gut aus, mit einer Tätigkeit die deinen Kreislauf anregt, aber nicht den Blutdruck in die Höhe schießt, ebenso wenig wirst du etwas lesen oder laute Musik hören. Ich schlage dir einen Spaziergang vor. Natürlich mit einer Aufsichtsperson. Danach kommst du wieder her. Ich untersuche dich noch einmal und du darfst Mittagessen. Alles weitere klären wir morgen."
Severus schnaubte auf und trank die bittere rote Flüssigkeit, die ihm immer noch unter die Nase gehalten wurde. "Ich scheine wirklich nur noch als Lachfigur gut zu sein. Snape der Hofnarr. Zu etwas anderem bin ich nicht mehr gut, oder? Wird Zeit, dass ich mich an diese Rolle gewöhne."
Sofort legte sich eine angenehme Wärme um seinen Körper. Schwindel überkam ihn und er wankte ein wenig. Seine Beine fühlten sich leicht an. Er musste sich hinlegen, um nicht vom Bett zu rutschen. Ungefähr eine Viertelstunde später spürte er die ersten Anzeichen einer ungewohnten Zufriedenheit. Er schüttelte irritiert den Kopf. Dieses Zeug wirkte verdammt schnell und verdammt gut. Er glaubte, dass er gerade den Rest seines Verstandes verlor und gab sich dem leichten Rauschgefühl hin, das die Welt gar nicht mehr so grauselig erscheinen ließ. Es war ein wenig wie der Imperiusfluch. Nur dass man keinen Befehlen folgen musste. Warum hatte er sich eigentlich so aufgeregt? So schlimm war es doch gar nicht. So ein bisschen Urlaub von der Magie zu nehmen. Sollte jeder mal machen. Jetzt hatte er ganz andere Möglichkeiten. Er konnte leben wie ein Muggel. Warum eigentlich nicht? Hatte er noch nie. Muggelurlaub, wie schön.
Er lächelte den Direktor freundlich an. Der besorgte Blick wich einem ungewollten Grinsen.
"Eigentlich sollte ich mich nicht darüber freuen, aber du hast ein sehr nettes Lächeln, mein lieber Freund."
"Nicht wahr? Ich denke, ich lächle sehr gerne", brachte er zaghaft vor. Eine ganz kleine Stimme in seinem Hinterkopf murrte auf, er solle nicht so einen Schwachfug zusammenlabern, aber die war leicht zu ignorieren.
"Poppy, war diese hohe Dosis unbedingt notwendig?"
"Ich denke schon. Natürlich werde ich die Dosierung die nächste Tage stark heruntersetzen. Er soll sich ja mit dem Problem auseinander setzen und nicht betäubt werden. Allerdings ist sein Adrenalinspiegel gerade am Limit. Sein Blutdruck besorgniserregend. Das kommt nicht nur von den Folterungen Voldemorts, sondern weitestgehend von Stress und der ungesunden Lebenshaltung. Er muss endlich zur Ruhe kommen. Sonst kann es noch zu weiteren Anfällen kommen. Zwar kommen diese Fälle in der Muggelwelt häufiger vor, aber sie sind extrem selten bei noch so jungen Leuten wie Severus und in der Zaubererwelt geradezu unwahrscheinlich. Ich halte es für besser ihn erstmal völlig ruhig zu stellen. Anders hört er ja ohnehin nicht auf mich... Könntest du ihm diesen Schlaftrank geben, wenn er unten ist? Dann muss er diesen... Zustand, in dem er sich jetzt befindet, nicht so lange ertragen. Auch wenn er jetzt der goldigste Zeitgenosse im ganzen Schloss sein wird." Poppy lächelte den Zaubertränkemeister freundlich an, der es ebenso freundlich erwiderte. Der geringe Verdacht, die Krankenschwester hätte die Dosis nur aus dem Grund so hoch gemacht, damit sie Severus lächeln sah, verdrängte der Direktor gleich wieder. Sie drückte Albus eine Phiole in die Hand. Dumbledore las die Aufschrift "Träumschön" auf dem Fläschchen. Ja, das war gewiss eine gute Idee.
Poppy sah Severus tief in die Augen, der interessiert die Lichter der Krankenstation beobachtet hatte. Sie gefielen ihm. Schön hell.
"Wenn du irgendwelche Probleme hast. Dann zögere nicht auf mich zuzugehen. Das wird nicht leicht für dich werden. Aber wir lassen dich nicht damit alleine, ja?"
"Alles klar, Ma'am! Nimm's locker!" Severus grinste überdreht. Poppy zog die Augenbrauen hoch. Vielleicht war die Dosis doch etwas zu hoch gewesen?
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