Mondschein-Sonate

 

 

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Kapitel 2: Furioso / Paterico



Viertel nach acht. Severus Snape schaute auf die magische Uhr im Unterrichtskerker. Der Zeiger stand auf "Das Gryffindor-Gör ist schon eine Viertelstunde zu spät!" Wie von der Tarantel gestochen, sprang der Meister der Zaubertränke auf und knurrte wütend: "Das muss ich mir nicht bieten lassen! Dieses Prinzesschen wird sich nicht zu fein sein, meine Kessel zu scheuern, und wenn ich sie an ihren langen, blonden Haaren herschleifen muss!"
"Haarrrrrrrrre!" krächzte der Rabe aus dem Nebenzimmer.
Snape schnaubte: "Ja, lange, glatte, weißblonde Haare! Von hinten sieht sie aus wie Lucius Malfoy! Pfui Muggel! Ich weiß überhaupt nicht, was sie alle an dieser Halbveela finden!"
"Garrrrrr nicht wahrrrrrrr!",spottete Poe. Snape warf eine Knollenwurzel durch die geöffnete Zwischentür nach dem Raben und schrie: "Pass bloß auf! Ich hätte da ein Rezept für einen Zaubertrank, für den man Rabenleber braucht!" Dann verließ er den Kerker, schlug die schwere Tür geräuschvoll zu und rauschte mit wogendem Umhang die Treppe hinauf.

***



Nachdem Mirela den größten Teil des Tages anweisungsgemäß in dem stinkenden Umhang herumgelaufen war, hatte sie irgendwann die Nase voll gehabt und sich in das kleine Zimmerchen zurückgezogen, das Professor Dumbledore ihr zur Verfügung gestellt hatte, damit sie in Ruhe Geige üben konnte. Sie war dem Schulleiter unendlich dankbar für dieses Refugium. Es lag außerhalb des Gryffindor-Bereichs, auf "neutralem" Gebiet, unweit der Großen Halle und doch in einer ruhigen Ecke, wo sich selten jemand hin verirrte. Hier würde selbst Snape schwerlich überwachen können, ob sie den ekelhaften Umhang anbehielt. Also hatte sie ihn kurzerhand ausgezogen und einer Hauselfe für die Magische Wäscherei mitgegeben. Und nun war sie schon seit über zwei Stunden ins Geigenspiel vertieft und hatte nicht die geringste Lust, damit aufzuhören, um ihren Abend in Snapes "angenehmer" Gesellschaft zu verbringen! Es musste schon nach acht sein, aber sie beschloss trotzig: "Ich geh da nicht hin! Soll er seine blöden Pötte selber schrubben!"

Die sehnsuchtsvolle rumänische Melodie steigerte sich in immer schwindelerregendere Höhen, die Saiten schluchzten und schwirrten, und der jungen Geigenspielerin fielen verschwitzte blonde Haarsträhnen ins Gesicht. Das endlos erscheinende, vorher eher leise, geheimnisvolle Stück klang in einem furiosen Finale aus. Mirela ließ den Bogen langsam in voller Länge über die A-Saite gleiten und genoss den letzten, sirrenden Ton, bis er endgültig verklang. Stille. Und dann ein leises Klatschen aus dem Hintergrund.

Mirela wirbelte herum. Wer zum Teufel...? Ihre Augen weiteten sich vor Schreck, als sie den Urheber des Geräusches erkannte: Auf dem kleinen Sofa an der Wand des Zimmerchens hockte eine dunkle Gestalt, wie ein übergroßer Rabe und klatschte mit leichten, langsamen Bewegungen in die Hände. "Professor Snape!" schrie die Schülerin auf."We lange sitzen Sie schon da?"
"Hm, lassen Sie mich rechnen... Sie sind inzwischen eine Stunde zu spät für Ihre Strafarbeit. Ich habe mich auf den Weg gemacht, als Sie eine Viertelstunde überfällig waren, brauchte dann noch einmal etwa zehn Minuten, bis ich Professor Dumbledore traf, der mir sagen konnte, wo ich Sie vermutlich finde... Demnach sitze ich hier seit etwa einer halben Stunde."

Mirela sah ihren Lehrer entgeistert an. Dass er sich lautlos anschleichen konnte, war ihr nicht neu. Aber er hatte eine halbe Stunde lang ruhig dagesessen, statt sie anzuschreien, weil sie seine Strafarbeit geschwänzt hatte? War er krank? "Aha", brachte sie nur wenig originell hervor, "und was jetzt? Runter zu den Kesseln?"
"Nein", sagte Snape ruhig und lehnte sich auf dem Sofa zurück, die Arme auf der Rückenlehne ausgebreitet.
"Wie, nein? Und was ist mit meiner Strafarbeit?"
"Die wurde umgewandelt. Statt Glanz auf meine Kessel zu polieren, bringen Sie nun eben etwas Glanz in mein Leben. Ha, ich kann grauenvoll poetisch sein, nicht wahr?" Das Lächeln, das seine Mundwinkel umspielte, wirkte sehr ironisch. "Ihre Strafarbeit war angesetzt bis zehn Uhr, und solange werden Sie jetzt ein Konzert für mich geben. Los, spielen Sie!"

"Ich pflege nicht auf Befehl zu spielen!", protestierte Mirela.
"Möchten Sie lieber Kessel schrubben?", fragte Snape gleichmütig und besah sich seine Fingernägel.
"Na gut", knurrte Mirela, "aber ich muss Sie warnen: Wir Veela können mit unserer Musik Männer zum Tanzen zwingen, bis sie tot umfallen."
"Ihre Schulkameraden wären Ihnen sehr verbunden", meinte Snape gelangweilt, "aber leider sind Sie nur eine Halbveela. Also los, worauf warten Sie?" Missmutig nahm Mirela ihre Geige wieder auf und begann zu spielen.

Ihr Unmut verflog während des Spiels. Mirela ging zu sehr in ihrer Musik auf, als dass irgendein unangenehmer Gedanke gleichzeitig in ihr Platz gehabt hätte. Was sie jedoch erstaunte, war, dass es ihrem Zuhörer offenbar ähnlich erging. Ab und zu riskierte sie einen Blick auf ihn und fand ihn stets ganz entspannt auf dem Sofa lehnend vor, die Augen mal verträumt ins Nichts gerichtet, mal geschlossen, und ohne jede Spur von Grausamkeit oder Spott in seinen Gesichtszügen. Nur Ruhe und, bei manchen eher wehmütigen Passagen des Konzerts, eine gewisse Trauer.

Um Punkt 10 Uhr erhob sich Snape mit den Worten: "Sie sollten um diese Uhrzeit nicht außerhalb des Gryffindor-Schlafsaals sein." Sein Gesicht, eben noch völlig entrückt, wirkte wieder streng wie eh und je. "Gehen Sie! Wenn ich Sie in zehn Minuten noch hier draußen erwische, gibt es Punktabzug. Und Sie haben Ihr Haus heute bereits 50 Punkte gekostet."
Wütend packte Mirela Geige und Bogen in den Kasten und ging zur Tür. Soviel also zur Dankbarkeit für ein Privatkonzert! Sie wollte in ihrem Ärger grußlos verschwinden, doch Snape hielt sie am Ärmel fest. Schon das zweite Mal heute. Sie erwartete eine neue Gemeinheit aus seinem Mund, doch sie wurde enttäuscht: "Sie spielen sehr gut, Mirela."
Ihr blieb der Mund offen stehen. Wusste man bei diesem Mann denn nie, woran man war? Er hatte sie eben gerade... gelobt? Und ihren Namen richtig ausgesprochen: Mirellllla?
"Aber..."
Aha! Natürlich, jetzt kam das große Aber! Irgendein vernichtender Kommentar über ihre Musik würde ihm schon noch einfallen. "Aber die Akustik dieses kleinen Raumes ist grauenhaft", vollendete Snape seinen Satz, "wenn Sie möchten, könnte ich Ihnen einen wesentlich geeigneteren Übungsplatz anbieten. Natürlich nicht zu jeder Tages- und Nachtzeit, denn der Raum befindet sich in meinem Privatbereich. Aber wenn Sie möchten... sagen wir, morgen Abend um acht?" Mirela gelang nur noch ein fassungsloses Nicken. Snape antwortete seinerseits mit einem Nicken, einem knappen, ruckartigen, und rauschte ab.

***



Bobby blickte Mirela fassungslos von der Seite an: "Du gehst heute Abend schon wieder zu Snape? Freiwillig?!" Mirela verdrehte leicht die Augen; bei aller Freundschaft konnte Bobbys Begriffsstutzigkeit schon manchmal nervig sein. "Ich sagte doch, er hat mir irgendeinen Übungsraum angeboten", erklärte sie nochmals, "mehr weiß ich doch auch noch nicht. Aber allein die Tatsache ist doch nett."
Rick schnaubte verächtlich: "Nett? Snape ist nett, ja? Auf einmal? Wie naiv bist du eigentlich, Mirela? Der wird schon irgendeinen Hintergedanken haben, pass bloß auf!" Mirela sah ihn mit großen Augen an und fragte: "Denkst du, er hat mich bloß eingeladen, um mich mit irgendeiner Fiesheit zu überraschen? Dass ich doch noch seine Kessel schrubben soll, oder so?"
"Das meinte ich nicht unbedingt...", zischte Rick leise und offensichtlich voller Wut. Mirela blickte ihn verständnislos an. Wenn er das nicht meinte, was dann?
Rick bemerkte ihren fragenden Blick und schlug sich mit der Hand an die Stirn. "Wie naiv kann eine so schöne Frau eigentlich sein?" fragte er aufgebracht.
"Frau?", fragte seine Klassenkameradin ehrlich erstaunt, "meinst du mich?"
"Ja, Frau!", gab Rick giftig zurück, "du bist eine sehr begehrenswerte Frau, das sollte dir klar sein. Und Snape ist ein Mann..."
Mirela lachte ungläubig auf. "DAS meinst du also? Nee, oder? Also hör mal, Rick, er ist kein Mann, sondern ein Lehrer, und ich bin keine Frau, sondern ein Mädchen, eine Schülerin, Mirela, hörst du? Winkewinke, Rick, ich bin´s, deine alte Klassenkameradin Mirela!" Sie winkte ihm mit der Hand vor den Augen herum, immer noch hoffend, dass er nur Witze machte. Doch er sah gar nicht aus, als ob er Spaß verstünde. Mit einer ärgerlichen Bewegung wischte er ihre Hand weg. "Du scheinst wirklich blind zu sein, Mirela", sagte er böse, "aber die Männer in deiner Umgebung sind es nicht. Weder Snape, noch... ich. Aber gut, das scheint dich nicht zu interessieren, ich beginne zu begreifen, dass du wirklich noch sehr unreif bist. Vergiss es einfach."
Langsam wurde er ihr unheimlich. So hatte sie ihren Schulfreund nie erlebt. Hatte sie ihn immer mit falschen Augen gesehen? Der Gedanke, dass er Dinge von ihr wollte, an die sie nicht einmal dachte, behagte ihr ganz und gar nicht. Sie hatte jahrelang geglaubt, ihn zu kennen, und nun auf einmal war er ihr furchtbar fremd. Seine Worte und sein Blick machten ihr Angst. Wenn es aber stimmte, dass ihr langjähriger bester Freund so anders war, als sie immer gedacht hatte, vielleicht wollte dann wirklich auch Snape...? Sie wusste überhaupt nicht mehr, was sie denken sollte. Völlig verunsichert blickte sie Rick an, als ob sie ausgerechnet von ihm jetzt Hilfe erwartete. Sein Gesicht, eben noch von Aufregung und Wut verzerrt, nahm plötzlich einen eiskalten Ausdruck an, und sie konnte nicht sagen, dass ihr das lieber war. "Naaaa gut", sagte er gedehnt, "ich habe die ganze Zeit falsch getickt, Mirela. Vergiss es einfach, bitte, wirklich, es war dumm von mir. Ich bin dein guter alter Freund Rick, nicht mehr und nicht weniger. Okay? Und wenn diese Schlange Snape allen Ernstes versucht, sich an dich heranzumachen, dann ist das unsere Chance, ihm endlich das zu geben, was er verdient." Mirela sah ihn zweifelnd an. Rick hatte alle Gefühle von sich abgeschüttelt und war wieder ganz, wie so oft, der eiskalt-berechnende Planer und Anführer. Er spürte Mirelas Unsicherheit sehr genau und machte sie sich zunutze, um ihr zu sagen, wo es lang ging. "Du gehst heute Abend da hin", bestimmt er, "natürlich passt du auf dich auf, und dann berichtest du mir erst mal alles ganz genau. Wenn er dich wirklich in seine Privaträume lässt, dann können wir..."
"Was?"
"Ach, das wirst du dann schon sehen."

***



Punkt acht Uhr abends stand Mirela vor der Kerkertür und klopfte zaghaft an. Sie fühlte sich unwohl. Noch unwohler als sonst, wenn sie vor dieser Tür stand und auf den Unterricht wartete. Denn diesmal war sie allein. Und Ricks seltsame Worte spukten ihr immer noch im Kopf herum. Ihre Finger umklammerten krampfhaft den Griff des Geigenkoffers. Langsam öffnete sich die Tür, und Snape stand dahinter wie ein Schatten. Ohne ein Wort der Begrüßung winkte er sie herein. Ebenso wortlos folgte sie ihm, durch den Unterrichtsraum hindurch zu der Tür, durch die er am Vortag verschwunden war, um sich umzuziehen. Diese Schwelle zu überschreiten, war mehr als nur ein Schritt durch einen Türrahmen! Sie betrat das "Allerheiligste", Räumlichkeiten, die nie ein Schüler zu sehen erwartet hatte, Snapes Privaträume, wo man doch allgemein annahm, dass er kein Privatleben haben könne! Das Zimmer hinter der Tür war nur spärlich erleuchtet, und das einzige, was sie erkannte, war eines dieser großen Hogwarts-Himmelbetten. Unwillkürlich dachte sie an Ricks Worte und schluckte. Was zum Teufel hatte sie abends in Professor Snapes Schlafzimmer verloren? Snape war jedoch bereits mit langen Schritten an dem Bett vorbeigeeilt und hinter einer weiteren Tür verschwunden. Was konnte denn hinter dem Schlafzimmer noch sein? Das Bad vielleicht? Sie hörte Snapes Stimme aus dem anderen Zimmer: "Warten Sie bitte noch einen Moment, bis ich alles vorbereitet habe!"
Vorbereitet? Mirela blieb gehorsam im Schlafzimmer stehen und harrte der Dinge, die da kommen mochten. Sie hatte ein mulmiges Gefühl im Magen. Plötzlich sprach eine grässlich schnarrende Stimme sie aus der Dunkelheit an: "Brrrrrrrrav warrrrrten!" Mirela zuckte heftig zusammen. Zitternd spähte sie in die düstere Ecke des Schlafzimmers, aus der die Worte gekommen waren. "W... wer d... da?", brachte sie kaum hörbar hervor. Keine Antwort, nur ein unheimliches Rascheln aus der Ecke. Ein Rauschen wie... wie Flügelschlagen, und es kam schnell näher! Ein kleiner Aufschrei entfuhr dem Mädchen, als eine klauenartige Hand nach ihrem Kopf griff. Sie langte sich panikartig in die Haare und packte das krallenbewehrte Was-auch-immer-es-war. Das Was-auch-immer kreischte ebenso erschrocken auf wie sie. Sie riss die Hand herunter und starrte auf das, was sie umklammert hielt. Es war ein ziemlich zerdrücktes Bündel schwarzer Federn mit einem langen Schnabel und sehr, sehr vorwurfsvollen schwarzen Knopfaugen. "Ja, wer bist du denn?", äußerte Mirela ihr Erstaunen.
Das schwarze Etwas zappelte, und sie begriff, dass es ihrem eisernen Griff entkommen wollte, und lockerte ihn. "Poe, derrrrr Rrrrrrabe", stellte das Wesen sich vor, während es seine zerzausten Federn unwillig schüttelte, und ergänzte: "Schwarrrrrzerrr Unglücksrrrrrrabe, Haustierrrr von Severrrrrrus, Geißel derrrrr Menschheit."
Mirela dachte noch darüber nach, ob sich die letzte Bezeichnung auf den Raben selbst oder auf "Severrrrrrus" bezogen hatte, als letzterer sie aus dem Nebenzimmer rief: "Miss Doinescu? Sie können jetzt kommen." Zögernd näherte sich Mirela der Tür zu dem geheimnisvollen weiteren Zimmer. Der Rabe flatterte zurück auf seine Stange und krächzte: "Nurrrr keine Furrrrrcht! Auf in die Kammerrrrr des Schrrrrreckens! Hähähäää!" Wenig ermutigt durch diese Bemerkung, betrat Mirela nun aber doch das hintere Zimmer. Sie wäre beinahe gestolpert, denn direkt hinter der Tür lag eine Treppe im Halbdunkel. Mirela tapste die Stufen hinunter und versuchte zu erfassen, wo sie war. Eins war jedenfalls sicher: Dies war definitiv nicht das Badezimmer! Die Decke des Raumes befand sich in derselben Höhe wie die des Schlafzimmers; da man aber über besagte Treppe etwa zwei Meter in die Tiefe steigen musste, bis man den Fußboden erreichte, war der Raum insgesamt viel höher als die angrenzenden Kerkerräume. Eher eine Halle. Eine düstere Kerker-Halle mit denselben meterdicken Steinmauern, wie der Rest von Snapes Wohn- und Arbeitsbereich, ohne Fenster, erleuchtet von ein paar Fackeln an den Wänden und einer Unzahl von Kerzen, die überall herumstanden. "Professor Snape?", fragte Mirela ängstlich und zuckte erneut zusammen, denn ihre Stimme hallte in dem großen Raum. Keine Antwort. Aber plötzlich hörte sie etwas... nein, keine Stimme... sie hörte Musik! Eine leise, wundervolle Musik. Sie wandte ihren Kopf in die Richtung, aus der die Töne kamen, und entdeckte einen Flügel. Das schwarze Holz des Instruments glänzte ebenso im Kerzenlicht, wie die gleichfarbigen Augen und Haare des Mannes, dessen lange, schmale Finger über die Tasten glitten. Nie war die Schülerin auf die Idee gekommen, diese eleganten Hände könnten zu noch etwas anderem gut sein, als Zaubertrank-Zutaten minutiös zurechtzuschneiden und zu mischen. Nie wäre ihr in den Sinn gekommen, das verhasste "Monster" von einem Lehrer könnte Musik hervorbringen, und das mit so offensichtlich viel Gefühl. Die Melodie, die er spielte, passte zu ihm: Sie war leise und zurückhaltend, sehr exakt, und doch erfüllt von einer deutlich spürbaren, stillen Traurigkeit.
Mit angehaltenem Atem lauschte Mirela der Musik, bis sie nach langer Zeit verklang. Die letzten Töne hingen noch einen Moment lang in der Luft. Mirela wurde klar, warum der Raum diese Ausmaße hatte: Sie verschafften ihm die Akustik einer Kathedrale! Wer hätte tief unter Hogwarts eine Kathedrale vermutet? Und erwartete man in einer Kathedrale nicht etwas "Heiligeres" als ausgerechnet Snape? Unwillkürlich fragte sie sich, ob ein Mann wie er betete oder etwas ähnliches. Befremdlicher Gedanke, aber warum eigentlich nicht... wenn er schon musizierte? Musik war für Mirela das, was für andere Menschen Gebet oder Meditation sein mochten. Eine Quelle der Kraft und der Ruhe. Sie hatte noch nie darüber nachgedacht, ob es noch andere Menschen gab, die ähnlich empfanden.

Der Nachhall des letzten Tones war schon einige Zeit verklungen, bis Mirela es endlich wagte, die beunruhigende Heiligkeit dieser Stille zu unterbrechen. "Das war wunderschön", hauchte sie leise, "was war es?" Snape strich sich langsam die Haare aus den Augen, die ihm beim Spielen ins Gesicht gefallen waren. "Die Mondschein-Sonate von Ludwig van Beethoven", antwortete er. Mirela machte ein beeindrucktes Gesicht. In Snapes Züge, die während des Spiels ganz entspannt gewesen waren, schlich sich ein kleines, ironisches Lächeln, als er sagte: ""Ja, stellen Sie sich vor: Der Mondschein hat noch anderes zu bieten als Werwölfe! Selbst jemandem wie mir."

"Beethoven", murmelte Mirela, "eines der bedeutendsten Genies, das die Muggel hervorgebracht haben. Ich habe noch nicht viel von ihm gespielt, aber ein bisschen etwas doch."
"Er ist mein Lieblingskomponist", sagte Snape. Mirela nahm den Faden wieder auf: "Er ist so... hm, das ist schwer zu beschreiben... sehr gefühlvoll, aber auch fast immer irgendwie... schwer? Dunkel? Und machtvoll."
"Die Macht des Schicksals", stimmte Snape zu, "aber er hat auch andere Seiten. Kennen Sie seine Pastorale? Sie müssen sie sich anhören, wenn Sie Sehnsucht nach einer friedlichen, heiteren Welt haben."
Mirela sah ihren Professor prüfend an. Ob er diese Sehnsucht hatte? Es gab wohl einige Gedanken, an die sie sich erst gewöhnen musste. "Was ist für Sie das Besondere an Beethoven?" fragte sie ehrlich interessiert. Die Gelegenheit, mit jemandem auf einem annehmbaren Niveau über Musik reden zu können, bot sich ihr selten.
Er musste nicht lange überlegen. "Beethoven war taub", sagte er, "das isolierte ihn von den anderen. Er lebte einsam mitten unter Menschen. Er hat es geschafft, Gefühle auszudrücken, die sie ihm nie zugestanden hätten. Und er hat dieser Welt, an der er nicht teilhaben konnte, soviel gegeben."

Während Mirela noch über seine Worte nachdachte, war Snape aufgestanden und zu einer großen Bücherwand gegangen. "Kommen Sie!" forderte er sie auf. "Ich möchte Ihnen etwas zeigen." Sie trat zu ihm und ließ ihren Blick voll ehrfürchtigem Staunen über die Regale wandern. Eine Unzahl wertvoller alter Bücher standen hier, hauptsächlich Notenbücher, wie sie erkennen konnte, daneben aber auch einige fachwissenschaftliche Werke der Magie und Alchemie. Sie überflog die Buchrücken und prägte sich einige Titel ein. Snapes Hand wies mit einer weit ausholenden Geste über eine bestimmte Abteilung: "Sehen Sie? Beethovens Gesamtwerk. Die Noten aller seiner Werke. Sie dürfen sich gern bedienen, es sind auch Stücke für Streicher dabei. Ah ja, weshalb wir eigentlich hier sind: Probieren Sie doch einmal die Akustik dieses Raumes aus. Wie gesagt, Sie können gern zu bestimmten Zeiten hier üben."
Doch noch war Mirela viel zu gefesselt von den Büchern, um ans Geigespielen zu denken. Sie zog ein besonders großes aus dem Regal. "Fidelio", las sie in goldenen Buchstaben auf dem ledernen Einband.
"Das Libretto, mit Text und Noten", erläuterte Snape, "zu Beethovens einziger Oper."
Mirela nickte: "Ich kenne das Stück. Meine Eltern sind einige Male mit mir in die Oper gegangen. Ich habe auch 'Fidelio' gesehen, aber es ist einige Jahre her. Das ist doch die Geschichte mit dem Gefangenen in dem dunklen Verlies, oder?"
"Ja."
"Oh, ich erinnere mich. Ich war noch ein ziemlich kleines Kind, als meine Eltern mich mit in die Aufführung nahmen, und ich habe geweint. Es war so schrecklich: Der arme Mann, der von dem grausamen Gouverneur in dem allertiefsten Verlies gefangengehalten wurde!"
Snape räusperte sich kurz: "Aber es geht ja gut aus, der Mann wird gerettet."
"Ja", erinnerte sich Mirela, "nachdem er da unten schon fast verhungert und verdurstet ist."
"Ähm, ja", sagte Snape knapp und fuhr mit einer fuchtigen Handbewegung durch die Seiten des Buches, "es hat auch Bilder, wenn Sie gucken möchten..."
"Oh ja, gern." Mirela blätterte andächtig durch die Seiten und betrachtete die Bilder. "Oh", sagte sie halb bewundernd, halb schaudernd, "diese Bilder sind ja noch bedrückender als die Aufführung damals auf der Bühne. Sie sind sehr düster und beklemmend, wirklich."
Snape hob leicht die Schultern: "Das war auch meine Absicht beim Zeichnen."
"Sie haben das Buch selbst illustriert?" rief Mirela aus. Snape nickte. Mit nun noch weit größerem Interesse betrachtete das junge Mädchen die Bilder. Wie musste es in jemandem aussehen, damit er ein so grauenvolles Gefängnis malen konnte? Die Finsternis und die Angst, die in diesen schwarzen Mauern steckten, waren förmlich greifbar. Musste man nicht beinahe schon wahnsinnig sein, um so etwas zu zeichnen, oder wurde man es erst beim Zeichnen... oder auch beim Betrachten der Bilder? Mirelas Blick blieb an einem Detail hängen. "Aber das sind ja Dementoren!" stellte sie ungläubig fest, "'Fidelio' ist eine Muggel-Oper, und in einem Muggel-Gefängnis gibt es keine Dementoren. Nur in Askaban."
Snape klappte das Buch zu, ungehalten über ihr mangelndes Verständnis. "Das ist künstlerische Freiheit", meinte er, "jeder inszeniert ein Stück anders und mit seinen eigenen Zeitbezügen. Im übrigen... Auch Muggel können von Dementoren umgeben sein. Sie können sie nur nicht sehen, aber ebenso deutlich spüren wie wir. Glauben Sie nicht, dass der Mann in dem Gefängnis von jedem glücklichen Gedanken leergesaugt war?" Mirela sah ihn etwas hilflos an und ärgerte sich über sich selbst, dass sie so wenig verstanden hatte. Eilig öffnete sie ihren Geigenkasten, um das Thema zu beenden.

Snape versank in einem Sessel und lauschte eine lange, lange Zeit dem sehnsuchtsvollen Gesang der Geige, bis er Mirela schließlich wieder um Punkt zehn Uhr in seinem üblichen Lehrer-Tonfall aufforderte, ihren Schlafsaal aufzusuchen.

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