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Kapitel 10: Anima Soul / Dolore
Alle Farbe war aus Mirelas Gesicht gewichen. Er hatte ihr Gespräch mit angehört? Oh nein, wie furchtbar musste es für ihn gewesen sein, zu erfahren, dass sie die ganze Zeit nur mit seinen Gefühlen gespielt hatte! Auf die grausamste Art und Weise und mit dem alleinigen Ziel, ihn bloßzustellen und zu verspotten und mit Schimpf und Schande von der Schule jagen zu lassen. Sie schämte sich fürchterlich für das, was sie ihm angetan hatte. Die ganze Zeit hatte sie geglaubt, sie habe kaum eine Wirkung auf ihn, und es hatte sie rasend gemacht und angestachelt, immer weiter zu gehen. Sie hatte nicht geahnt, dass er zur selben Zeit ein Lied für sie komponierte. Sie hatte seine tiefen Gefühle für sie nicht erkannt, weil sie so anders waren als die plumpen Annäherungsversuche, die sie gewöhnt war. Dieser vorsichtige, verschlossene Mensch hatte ihr vertraut, ihr die Tür zu seinem Innersten geöffnet - und sie war dort eingedrungen, nur um ihn zu treten und zu verletzen. Um ein Haar tödlich zu verletzen, wie sie nun wusste.
Doch plötzlich kam ihr ein noch schrecklicherer Verdacht. Sie versuchte verzweifelt, sich zu konzentrieren und sich ihr letztes Gespräch mit Rick ins Gedächtnis zurückzurufen. Was genau hatte Severus gehört? Mit einigen Lücken, fiel ihr das meiste wieder ein:
"Na fein, dann wird es ja keine Probleme mit der Sehschärfe geben, falls ich Snape je wirklich in eine verfängliche Situation bringen kann."
"Das wird nicht mehr nötig sein."
"Du willst Snape nicht mehr von der Schule ekeln?"
"Oh doch! Aber ich brauche dich dafür nicht mehr. Du hast deine Aufgabe bestens erfüllt. Vielen Dank."
[...]
"Was hast du vor? Was für Aufzeichnungen? Welche Leute?"
"Das Ministerium! Das Ministerium wird sich brennend für die Aufzeichnungen von Snapes Büchern interessieren!"
[...]
"Ich verstehe, die Bücher, die er da unten versteckt, sind illegal. Dafür fliegt man von der Schule, hab ich Recht?"
"Aber nein, dafür kommt man nach Askaban."
[...]
"Und was bedeutet das jetzt für Snape?"
"Nichts Gutes, Mirela. [...] Ihn trifft die volle Strafe, der er sich damals entzogen hat. Zu dumm von ihm, da versteckt er seine Bücher schon in einem Zimmer, das keiner kennt und gibt sich fünfzehn oder wie viele Jahre lang, das müsste ich nachschauen, soviel Mühe, sich zu bewähren. Und dann verrät er sich, aus Schwäche für eine eine hübsche, kleine Veela oder für die Musik!"
"Ich habe mich im ersten Moment erschreckt, Rick, es waren so viele schockierende Neuigkeiten. Aber du hast vollkommen Recht: Ein Todesser gehört nicht an eine Schule, sondern nach Askaban. Ich bin stolz, an seiner Überführung mitwirken zu können. Bei nächster Gelegenheit hole ich die Kugel und bringe sie dir."
Oh Gott! Sie hatte ja Ricks bösen Plänen mit scheinbarer Begeisterung zugestimmt, um ihn zu täuschen! Gerade da hatte sie doch beschlossen, auszusteigen, aber wie musste es sich für Severus angehört haben! Er glaubte, sie wollte ihn nach Askaban bringen! Ihr tatsächlicher Verrat war schlimm genug. Aber er musste denken, sie hätte alles daran gesetzt, ihn für immer in die Hölle auf Erden zu schicken! Mit einem verzweifelten Aufstöhnen vergrub sie ihr Gesicht in den Händen. Wie sollte sie ihm erklären, dass er sich täuschte? Die "Beweise" waren zu eindeutig, er würde ihr nicht glauben. Was immer sie jetzt sagte, sie würde sich nur noch tiefer in Missverständnisse verstricken. Wie sehr musste er sie hassen! "Sie werden mir nie verzeihen, nicht wahr?", waren die einzigen Worte, die sie herausbrachte.
Er sah sie an, und seine schwarzen Augen waren leer und traurig. "Verzeihen?", fragte er, "wer wäre ausgerechnet ich, um jemandem das zu verweigern? Ich muss Ihnen wohl verzeihen. Aber vergessen? Nein! Vertrauen? Nein. Nie wieder. Ihnen nicht. Niemandem." Dabei fiel ihm etwas ein. Er streckte die Hand aus: "Mein Schlüssel!" Mirela biss die Lippen zusammen, um nicht aufzuheulen und fischte in ihrer Tasche nach dem magischen Schlüssel. Ohne ihn anzublicken, legte sie ihn in seine Hand.
"Sie müssen mich trotz allem noch mögen!", platzte Mirela verzweifelt heraus, "oder warum haben Sie mich gerettet?"
Snape sah sie kalt an und antwortete: "Es ist eine dumme Angewohnheit von mir, Leute zu retten, die ich nicht mag und die mich nicht mögen." Das war deutlich und tat weh. Mirela starrte hinauf zum Mond, damit er ihre Tränen nicht sehen sollte. Leise ergänzte Snape: "Andere Leute als solche gibt es auch nicht." Sie wollte ihn anschreien: "Das ist nicht wahr!" Aber sie wusste, dass ihre Stimme versagen würde, und ihre Augen waren immer noch zu feucht.
"Wenigstens eins haben wir gemeinsam", sagte Snape mit bitterem Spott, "wir sind beide zu feige, uns selbst umzubringen. Wir rennen in den Wald und hoffen, dass jemand das für uns erledigt. Ich hätte in all den Jahren meines Lebens genug Grund und genug Gelegenheit gehabt, meinem Leben ein Ende zu setzen - zwischen lauter Flaschen voller Gift hockend! Ich bin ein erbärmliches Geschöpf."
Mirela schaffte es endlich wieder, ihn anzuschauen. "Ich auch", murmelte sie leise, "ich bin Ihnen nämlich dankbar, dass Sie mich nicht haben sterben lassen."
Snape erwiderte kurz ihren Blick und fragte: "Und was wollen Sie jetzt tun?"
Sie wusste, wie die Frage gemeint war, aber sie nutzte sie, um mit dem Mut der Verzweiflung einen letzten Vorstoß zu wagen: "Was ich jetzt tun will? Am liebsten würde ich Sie küssen. Ganz ohne Observator."
Snape sprang auf, wie von einer Tarantel gestochen. Sein Unterkiefer zitterte. Sie sah ihm an, dass eine ungeheure Wut ihn ergriffen hatte und er sie mühsam unterdrückte, um nicht so loszuschlagen, wie in seinen Räumen. Er stand einen Moment lang nur da und ballte die Fäuste, bis seine Fingerknöchel weiß wurden. Wahrscheinlich zählte er innerlich bis zehn oder hundert, um sich zu beruhigen. Er schloss kurz die Augen, atmete tief durch und griff dann in seine Tasche. Er holte eine Kugel hervor. Seine schlanken Finger krallten sich so fest darum, dass es aussah, als würde das Glas jeden Moment zerspringen. "Ach ja, Ihr Observator", sagte er voller Verachtung, "ich werde ihn vernichten. Die Erinnerungen an diese dummen Abende braucht kein Mensch!" Er steckte die Kugel wieder ein und sah aus, als ob er gehen wollte.
Panik erfasste Mirela. Sie wollte nicht, dass er ging! "Bleiben Sie doch noch einen Moment!" bat sie rasch, "sehen Sie nur, wie schön der Vollmond scheint! Denken Sie an die Mondschein-Sonate! Nicht alle unsere Erinnerungen sind schlecht..."
Snape zog seinen Umhang fester um sich, als wäre ihm kalt, in dieser lauen Sommernacht. "In mir ist Neumond!", zischte er leise und wandte ihr den Rücken zu.
"Werden wir uns wiedersehen?" fragte Mirela kaum hörbar.
Er drehte sich ein letztes Mal um. "Mit Sicherheit", erwiderte er, "fast täglich. Im Unterricht."
Mirela seufzte: "Gute Nacht, Severus."
Er funkelte sie aus seinen schwarzen Augen an: "Es heißt Professor Snape, Miss Doinescu." Dann eilte er zum Schloss, ohne sich noch einmal umzusehen. Er machte große Schritte, und sie sah ihm nach, wie sein schwarzer Umhang hinter ihm her wogte. Der liebste Letifold der Welt. Als Snape in der Schule verschwunden war, legte Mirela das Gesicht in ihre Arme und ließ ihren Tränen freien Lauf.
***