Kapitel 15
Sabina folgte Malfoy in eine riesige Halle, in einen riesigen Wohnraum, der aussah wie aus einem Magazin. Schwarzes Leder, riesige Fenster und so weiter. Sie war selten so wenig an einer Aussicht interessiert gewesen, ging aber trotzdem auf das große Fenster zum Garten, zur Stadt, zur Rettung hin. „Wie wunderwunderschön“, sagte sie in einer Stimme, die sie selten von sich gehört hatte. Sie klang so falsch, dass sie sie zuletzt wahrscheinlich bei einem Bewerbungsgespräch verwandt hatte. Oder bei ihren Eltern. Oder ihrem Ex-Mann. Diese Gedanken trugen nicht gerade zu ihrem Wohlgefühl bei.
Malfoy trat neben sie und sah kurz nach draußen und dann auf sie herunter. Er war groß, groß und dünn und hatte diese langen silberblonden Haare. Er sah ein wenig so aus wie der Russe in diesem Film, damals, in dem Hochhaus. Der hatte auch nicht viel gesprochen, sondern gleich alles platt gemacht. Sie schluckte. Aber dann hing er ziemlich tot da rum, machte sie sich Mut.
„Was wollen Sie wissen?“, fragte er jetzt. Seine Stimme war - fremd.
Sie atmete tief durch. „Können wir uns setzen?“ Sie lächelte ihn an. „Vielleicht da?“ Sie deutete auf den riesigen Eßtisch.
Er nickte, und sie folgte ihm zum Tisch. Er bot ihr einen Stuhl an und setzte sich ihr gegenüber, wie sie gehofft hatte. Der Tisch war groß genug, dass er nicht genau sehen konnte, was sie da als Unterlagen benutzte. Hoffte sie jedenfalls. Sie nahm ihren Anstellungsvertrag aus ihrer Tasche und ihren Schreibblock, den sie so darauf legte, dass nur das Siegel der Stadt zu sehen war. In ihm fand sich noch der Fragebogen ihres letzten Volkshochschulkurses. Es war um die Einteilung nach Ayurveda gegangen. Der Typ machte ganz den Eindruck, vollständig Pitta zu sein. Aber auf die Entfernung über den Tisch sah das hoffentlich korrekt genug aus. Mehr konnte sie nicht tun. Jetzt musste sie improvisieren. Sie atmete tief durch. Und schenkte Lucius ihr süßlichstes Lächeln.
„Ich möchte mich vorab schon bei Ihnen bedanken. Es ist sehr großzügig, mir Ihre kostbare Zeit zu widmen. Sie sehen ganz aus wie ein erfolgreicher Geschäftsmann.“ Ja, spiel das kleine Dummchen, das Weibchen. Aber nicht zu sehr. Immerhin sollst du eine Studentin sein. Völlig verblödet kannst du nicht sein.
Draußen vor dem Fenster wälzte sich eine Schlange in Qualen. Was sie nicht davon abhielt genau zuzuhören. Bereit, zuzuschlagen. Wie auch immer.
Sabina dankte ihrem Schicksal, ihren Göttern oder wem auch immer, dass sie so blöde und weichherzig war. Wie oft hatte sie sich schon von irgendwelchen Leuten belabern lassen, die nur einen Moment ihrer Zeit wollten, um sie dann völlig nebensächliche Dinge zu fragen, stundenlang, die für die Entwicklung eines bahnbrechend neuen Deos unbedingt nötig waren? Jetzt konnte sie diese Erfahrung gut brauchen. ‚Nichts ist umsonst’, dachte sie, als sie Lucius‘ Antwort auf ihre Frage nach seiner liebsten Hemdenmarke (John Philipps, London) eintrug. Sie fragte Fragen, wie sie ihr in den Sinn kamen. Zusammenhängend waren sie sicher nicht, aber das waren diese richtigen Interviews auch nie gewesen. Sie machte Kreuzchen in die Felder bei Pitta, Kapha, und Vata, wie es ihr einfiel. Sie hatte schon jede Menge Kreuzchen, und ein Teil von ihr freute sich über ihren Einfallsreichtum. ‚Doch nicht völlig verblödet, Sabina. Auch wenn manche Leute das gerne denken.’
Ihr gefielen Malfoys Augen immer noch nicht. Aber er war sehr viel umgänglicher als beispielsweise Snape. Warum der ihr jetzt wieder einfiel, wusste sie auch nicht. Der fiel ihr nachgerade zu häufig ein. Aber Malfoy beantwortete einfach ihre Fragen. Nein, er lächelte nicht, und er ließ sie nicht aus den Augen. Sie erfuhr Dinge, die sie erstaunten (nein, er hatte kein Auto, hatten das nicht all diese reichen Typen?), und hatte bei manchen Fragen den Eindruck, als habe er noch weniger Ahnung, was er antworten sollte, als sie, was sie fragen sollte. Bei ihrer Frage nach seinem bevorzugten Einkaufszentrum stand er auf, in einer eleganten, leicht bedrohlich wirkenden Bewegung. „Tee?“, fragte er. Sie schrak zusammen. „Machen Sie sich keine Mühe.“
Er sah sie an. „Es ist keine Mühe.“ Er verschwand aus dem Raum und Sabina holte tief Luft.
Die Schlange überlegte, ob sie eine schnelle Verwandlung bewerkstelligen konnte, bevor Malfoy zurückkam. Das gefiel ihr nicht. Ganz und gar nicht. Malfoy - höflich? Das konnte nicht sein. Da steckte etwas dahinter. Sie würde es getan haben, das Risiko entdeckt zu werden eingegangen sein. Das Problem war die Frau. Wenn sie nur annähernd so widerspenstig war, wie beim letzten Mal, so stur und störrisch, würde Snape noch mit ihr in dem Raum stehen, wahrscheinlich streitend, nein, ganz sicher streitend, wenn Malfoy zurückkäme. Und dann hätte Snape zwei Probleme gleichzeitig. Mindestens. Nein, es ging nicht.
Malfoy kam zurück. Mit pantergleichen Bewegungen und einer Kanne Eistee, wie es aussah. Er stellte die Kanne auf den Tisch und holte zwei Gläser aus dem Schrank. Er schenkte seinem Gast und sich selbst ein.
Sabina war durstig. Sie merkte es erst jetzt richtig. Sie trank gierig. Es schmeckte gut, wenn auch ungewohnt.
Sie bemerkte nicht, dass Malfoy nicht trank. Sondern nur so tat.
Die Schlange bemerkte es. Es gefiel ihr nicht. Ganz und gar nicht.
Malfoy lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Seine blauen Augen glitzerten. „Wie sagten Sie noch mal, dass Sie heißen?“
Sabina überlegte. Gute Frage. Was hatte sie sich da ausgedacht? Und - warum wollte er das wissen? Sie sah ihn an.
Er lächelte. Nicht auf eine sehr vertrauenerweckende Art. „Oder sollte ich besser fragen, wie Sie wirklich heißen?“
Nein, überhaupt nicht vertrauenerweckend.
Sabina sah ihn an. Was sollte das jetzt? Sie fühlte sich plötzlich überhaupt nicht mehr gut. Und vor allem nicht schlau. Nicht annähernd.
Sie fühlte allerdings den starken Drang, ihm zu sagen, wie sie hieß. Wirklich hieß. Und es war nicht nur ein Drang, sondern ein Zwang.
„Sabina Selpent“, sagte sie. Und sah ihn entsetzt an.
Malfoy nickte langsam, als habe sich eine Vermutung bestätigt.
Die Schlange wand sich. Auch ihre Vermutung hatte sich bestätigt.
„Und wieso sind Sie hier?“ Malfoy empfand nicht das Bedürfnis, ein „wirklich“ einzufügen. Es war nicht nötig.
Und Sabina erzählte es ihm. Zu ihrem eigenen Entsetzen.
Malfoy sah sie mit kalten Augen an. Sehr kalten Augen. Selbst ihr kam ihre Geschichte unglaubwürdig vor. Auf so eine dumme Vermutung, ein Gefühl hin, war sie hierher gekommen? Sehr sonderbar.
„Ja.“
„Und das ist alles, was Sie wissen?“, Malfoys Stimme klang nur mittelmäßig interessiert. Die Schlange war es um so mehr. Würde das Veritaserum in den vom hastig und nicht perfekt ausgeführten Obliviate gelöschten Bereich eindringen?
„Ja.“
Malfoy nickte, langsam. Er stand auf und ging um den Tisch herum. Auf Sabina zu, die sich entsetzt ihre Kehle zuzuhalten versuchte. Und ihren Mund. Die ihn entsetzt ansah.
Er lächelte sie an. Ein außerordentlich freudloses Lächeln. Nicht auf die Weise, wie Snape lächelte. Dieses Lächeln war - wirklich absolut kalt. Grausam.
Ihr war auch kalt. Sehr kalt.
„Sie haben mich nie zuvor gesehen?“
„Nein.“
Die Antwort war schnell gekommen. Und wahrhaftig. Wie es nicht anders ging. Aber in Sabinas Kopf ging etwas vor. Nein, sie konnte sich nicht an ihn erinnern, konnte nicht. Aber irgend etwas, irgend etwas, war da. Sie schüttelte den Kopf.
„Weiß jemand, dass Sie hier sind?“
Diesen Satz kannte Sabina aus vielen Fernsehkrimis. Er war absolut unbedingt zu bejahen. Das wußte sie.
„Nein.“
Sie konnte es nicht fassen. Mittlerweile war ihr aufgegangen, dass etwas nicht stimmte. Nicht mit ihr. Der Eistee. Ja. Aber wie ging denn das? Das war ja wie im Film. Das war doch nicht real. Solche Dinge passierten doch nicht. Nicht im realen Leben. Nicht ihr.
Und doch war das Gefühl in ihr, ein Gedanke, ein Fetzen nur. Sie kannte das. Dieses - irreale. Magische. Doch. Aber sie konnte es nirgends festmachen. Nicht die Hand drauf legen.
Nicht dass es einen Unterschied machte.
Sie war gezwungen, ihm die Wahrheit zu sagen.
Durch ein Mittel, das er gegen sie eingesetzt hatte.
Er wusste, dass sie ihn belogen hatte.
Er wusste, dass sie nichts wusste.
Er wusste, dass niemand wusste, dass sie hier war.
Was würde er jetzt mit ihr tun?
Sie war nicht sicher, ob sie das wirklich wissen wollte.
Aber was konnte sie tun?
Was - konnte -sie -tun?
Malfoy stand jetzt ganz nahe bei ihr.
Seine Augen gefielen ihr immer noch nicht.
Der ganze Mann gefiel ihr nicht.
Überhaupt nicht.
Er fasste sie unter dem Kinn. Hart.
Sie versuchte, ihren Kopf wegzuziehen.
Es gelang nicht.
„Haben Sie Angst vor mir?“
„Ja.“
„Gut.“
Na prima, dachte Sabina. So lange er mit Demütigung zufrieden ist, habe ich noch eine Chance. Vielleicht. Aber sie wusste wirklich nicht, was sie tun sollte, um hier raus zu kommen.
Sie versuchte es dennoch.
„Ich weiß ja nicht, was Sie mir gegeben haben, aber es ist imponierend.“ ‚Langsam sprechen, Sabina’, sagte sie zu sich. Du kannst anscheinend nur die Wahrheit sagen. Aber vielleicht kannst du versuchen, nicht die ganze Wahrheit zu sagen. Sophisterei, aber die einzige Chance. Und die war nicht groß. Titanic, denk an Titanic, sagte sie sich. Sie hob ihr Kinn.
„Wirklich beeindruckend. Aber nachdem wir das jetzt hinter uns haben, kann ich vielleicht gehen?“ Falsch, ganz falsch, dachte Sabina, schon bevor Lucius‘ trockenes Lachen, das mehr an Husten erinnerte, zu hören war. ‚Vielleicht‘ ist nicht gerade überzeugend.
„Wieso sollte ich Sie gehen lassen?“, fragte Malfoy, als würde ihn die Idee ganz ungeheuer amüsieren. Ungefähr so, wie einer Spinne alle Beine auszureißen. Oder eine Schlange zu treten.
„Wieso nicht?“, fragte Sabina. Eben, wieso eigentlich nicht. Ihr war schlecht.
Seine andere Hand war in ihrem Haar.
„Weil, du dumme Muggelin, es viel amüsanter ist, hier, mit mir.“ Sein Atem war auch nicht angenehmer als seine Augen und seine Stimme. Sabina mochte den Mann nicht, mochte er noch so attraktiv sein. Da wäre ihr ja sogar Snape lieber gewesen, so nah.
„Ich glaube mir wird schlecht.“
„Nur zu.“
Sie würgte, aber es kam nichts. Wie hatte er sie genannt? Dumm, okay. Sie war nicht gerade in einer Situation, dieser Bezeichnung zu widersprechen. Aber das andere?
„Wie haben Sie mich genannt?“ Sie musste es wissen. Auch wenn sie wenig Hoffnung hatte, dass sie es lange wissen würde.
Er schnaubte. Verächtlich. Und in dieser Verachtung war nicht sehr viel Menschliches mehr. Wenn sie gedacht hatte, dass Snapes Verachtung tödlich gewesen war, wurde sie jetzt eines besseren belehrt. Eines schlechteren. Und es fühlte sich - ziemlich - tödlich an.
„Das tut nichts zur Sache“, sagte Malfoy. Seine andere Hand kroch an den Ausschnitt ihres T-Shirts. Ihr wurde noch schlechter.
„Ich denke“, sagte Malfoy, und trat einen Schritt zurück, wobei er sie kritisch beäugte, „der Meister wird nichts dagegen haben, wenn ich die Opfergabe vorher - ausprobiere.“
Opfergabe?
„Opfergabe? Meister? Sind wir hier in Help?“ Ihre Angst brachte ihr Hirn dazu, absolut unsinnige Dinge zu sagen. Sehr hilfreich, wirklich. Er sah sie verständnislos an. Sonderbar, wirklich jeder, gerade aus seiner Generation, kannte doch den Beatles-Film.
Malfoy zog - ein Ding - aus seinem weißen Hemd und richtete es auf sie. Sabina erstarrte.
Irgend etwas in ihr klickte.
Das hatte sie schon mal gesehen.
Das hatte sie schon mal erlebt.
Sie sprang auf.
„Oh, nein, nicht schon wieder.“
Lucius erstarrte und ließ den Zauberstab sinken.
„Was?“
Vor der Glastür zur Terrasse passierte irgend etwas.
„Was meinen Sie mit ‚nicht schon wieder‘“?, fragte Malfoy.
Sabina schüttelte den Kopf. „Ich weiß es nicht genau“, sagte sie. Und es wäre verdammt besser, wenn das für den Moment auch so bliebe, sagte eine andere Stimme in ihr. „Es ist nicht klar.“
Die Glastür zersprang.
Malfoy und Sabina duckten sich instinktiv.
Snape war plötzlich da. Er richtete seinen Zauberstab auf Malfoy. „Expelliarmus.“ Es klang beinahe lässig. Malfoy flog durch die Luft und landete mit einem befriedigenden Geräusch in der eleganten Schrankwand. Sein Zauberstab flog in die ausgestreckte Hand von ...
„Snape“, schnarrte Lucius in einer Stimme, die Sabina noch nicht von ihm kannte.
Snape nickte, beinahe höflich. „Malfoy.“ Und dann, den Stab auf ihn gerichtet: „Stupefy.“ Malfoy sah sehr unzufrieden aus, und wie eingefroren.
Snape glitt zu Sabina, beide Zauberstäbe in der Hand.
„Wa- wa-was?“
„Ausgesprochen intelligente Frage, Frau Selpent. Und zu einem unglaublich passenden Zeitpunkt. Verzeihen Sie mir, wenn ich mir jetzt nicht die Zeit nehme, sie erschöpfend zu beantworten.“ Er nahm ihre Hand und murmelte etwas. Nichts geschah. Er sah auf den erstarrten Malfoy. „Besser als ich angenommen hatte, Lucius. Du hast tatsächlich was gelernt, was? Und das von Hogwarts. Hätte ich dir nicht zugetraut. Aber das bedeutet natürlich, dass ich noch etwas mehr tun muss. Nein, entschuldige dich nicht. Ich tue es gern.“
Wieder richtete er den Stab auf Malfoy. „Petrificus totalus.“ Malfoy veränderte sich nicht sehr. Er sah eher noch steifer aus und fiel zu Boden.
Sabina sah auf ihn, dann auf Snape. „Das war das verdammt Beeindruckendste, was ich je gesehen habe. Und das von Ihnen. Unglaublich.“
Snape schubste sie durch die Überreste der Glastür. „Vielen Dank, Frau Selpent, ich weiß Ihre Ehrlichkeit zu schätzen.“ Er trat neben sie.
„Und was jetzt?“
Er sah sie an, als habe sie den Verstand verloren. Was sie sicherlich hatte, zusammen mit ein paar anderen Dingen. Ihrer Würde und so weiter.
„Rennen, so schnell wir können. Malfoy hat einen Zauber gegen Apparieren gelegt.“
Er begann zu laufen.
Es sah gut aus.
„Was ist apparieren?“
„Frau Selpent!“
Sie rannte.
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