Kapitel 9:
Nico
Der Wecker riss mich aus dem Schlaf. Ich stöhnte auf. Mein Kopf brummte, meine Glieder fühlten sich bleischwer an. Was war das für ein Schlaf gewesen... völlig unruhig und nicht erholsam. Ich räkelte mich und überlegte, noch im Dämmerzustand, was heute für ein Tag war und warum der Wecker klingelte. Die Augen reibend blickte ich um mich und versuchte mich zu erinnern. War heute nicht Samstag? Ach ja: Nico! Heute muss ich ihn vom Bahnhof abholen. Ich schaute nochmals auf den Wecker. Hu, das war knapp. Ich sprang auf. Meine Glieder schmerzten. Was war denn los? Der Kreislauf machte nicht mit. Als ob ich die Nacht durchgefeiert hätte. Und noch nicht einmal umgezogen hatte ich mich und schaute entsetzt auf mein verklebtes T-Shirt. Verdattert setzte ich mich wieder auf die Bettkante. Mit dem Brummschädel zu denken, fiel mir schwer. Was war nut gestern passiert? Oder hatte ich nur wilde Träume? In meinem Geist schwirrten Bilder von sich drehenden U-Bahnwagen herum, Funkensprühen und irgendwas mit Zauberern. Zauberern? Was ging da für ein Schrott durch meinen Kopf!
Irgendetwas drückte mich in der Hosentasche. Ich zog einen dunklen Stab hervor. Stab? Es dämmerte langsam.
Das war ein Zauberstab! Malfoys Zauberstab! Auf einmal war ich hellwach. Das war kein Traum gewesen!
Snape - er hatte mich hierher gebracht. Tatsächlich, mein Gedächtnis funktionierte noch. Erleichtert sah ich um mich. Er hatte mir meine Erinnerung gelassen, mich wie versprochen in meiner eigenen Wohnung abgeliefert und mich in mein Bett gelegt. Und schien wirklich nichts angerührt zu haben, stellte ich zufrieden fest. Severus hatte gute Arbeit geleistet.
Meine Güte, was hatte ich da erlebt! Ich wusste, dass ich dies nie anderen Menschen erzählen durfte, zumindest nicht Muggeln. So hatte Snape sich ausgedrückt. Ich strich vorsichtig über den Stab. Er fühlte sich edel an. "Schade, dass ich damit nichts anstellen kann", seufzte ich, aber er würde seine Funktion als Erinnerungsstück erfüllen. Mit ihm würde ich mir mein gestriges Erlebnis immer wieder vor Augen führen können.
Ich stand auf und versteckte ihn an einem sicheren Ort, den selbst Nico nicht entdecken konnte.
Die Zeit drängte. Ich griff auf dem Weg zum Bad gierig eine Wasserflasche und trank sie in einem Zug leer. Meine Güte, so viele Stunden nichts getrunken. Dass ich davon nicht krank geworden war... Ich schnappte mir ein paar Brotscheiben, packte meine Tasche, die Snape neben meinem Bett abgestellt hatte, und wollte schon nach draußen zur U-Bahnstation rennen. Doch dann besann ich mich: Keine U-Bahn heute, beschloss ich und dachte mit Widerwillen an den Waggon und sein eindringliches Licht, das mich bestimmt noch viele Träume lang verfolgen würde.
Ich griff zum Telefon und rief ein Taxi. War auch besser so, die Chance höher, noch gerade pünktlich am Bahnhof einzutreffen. Während ich auf das Taxi wartete, huschte ich schnell ins Bad, um wenigstens den schlimmsten Dreck von mir abzuwaschen und mein verschmutztes T-Shirt zu wechseln. Hastig suchte ich ein neues und besah mich erstmals im Spiegel. Grausig sah ich aus. Die Furchen im kahlweißen Gesicht verrieten sehr wohl, was ich ausgehalten hatte. Aber das beruhigte mich. Sollten sich nur Spuren in mein Gesicht eingraben, damit ich den gestrigen Tag nie vergessen würde...
Die Fahrt zum Bahnhof war unspektakulär. Ich war einerseits hundemüde, aber auf der anderen Seite so aufgeregt, nun endlich Nico wiederzusehen. Diese Vorfreude vertrieb mir meine immense Erschöpfung. Und meine leicht aufkeimenden Sorgen, was für ein Ärger mich in der Arbeit erwartete, da ich gestern einfach so die Redaktion vor Redaktionsschluss im Stich gelassen hatte. Ich musste mir einen Unfall ausdenken, versuchte ich mich zu beruhigen. Ja, das würden sie wohl glauben. Ich hatte bisher noch nie blau gemacht. Und die wahre Geschichte, ja, die durfte ich nicht erzählen, aber die würden sie mir eh nie abnehmen. Innerlich lachte ich bei dieser Vorstellung, wie die Kollegen wohl reagieren würden, wenn ich ihnen tatsächlich von Snapes Zauberkräften berichten sollte: von verpufften Schlangen, unortbar gemachten Waggons und der Möglichkeit, Gedächtnisse zu verändern... Sollten sie nur an ihre lächerlichen, heilenden Bananenschalen glauben. Ich kugelte mich fast vor Lachen bei diesen Gedanken. Das war gut. Sie vertrieben mir die Müdigkeit und milderten die Härte der jüngsten Erlebnisse.
Ich kam spät, rannte auf den Bahnhof und hetzte die Stufen hoch, in der Hoffnung, im Vorbeigehen auf dem Aushang das richtige Gleis gelesen zu haben.
Mein Herz raste. Ich hatte auf einmal Angst, dass etwas passiert sein könnte, dass Nico womöglich gar nicht im Zug mitgekommen war oder...
Aber nein, da stand er, verträumt, wie immer, und schien wohl nach mir Ausschau zu halten. Um ihn herum waren kaum noch Kinder zu sehen. Die meisten schienen schon abgeholt worden zu sein. Ich verdrängte mein schlechtes Gewissen und schrie erleichtert: "Nico!"
Er drehte sich um und strahlte mich an. Er schien wohl auch erleichtert.
Wir liefen die Treppe runter. Er wollte seinen großen Rucksack selber tragen.
"Komm, heute machen wir es uns bequem und nehmen ein Taxi", rief ich und zog ihn in Richtung Taxistand.
"So?" Er war verwundert, so selten fuhren wir Taxi. "Ja", antwortete ich, "heute ist ein besonderer Tag. Du bist wieder bei mir."
Er verstand das wohl nicht ganz, warum ich so guter Laune war. Wenn er wüsste, dass er um ein Haar heute ohne Mutter dagestanden wäre, dachte ich und überlegte, ob ich ihm diese Geschichte je erzählen durfte.
Wir stiegen ins Taxi. Nico sagte nichts. Er war auch sonst ein stiller Junge, aber er kam mir heute außergewöhnlich ruhig vor.
"Erzähl doch mal, wie es war. Hast du dich mit den anderen Jungs gut verstanden? Habt ihr tolle Dinge unternommen?"
Er nickte nur langsam mit dem Kopf.
"Ach Mensch, Nico. Erzähl schon. Zeltlager! Das ist doch aufregend. Bestimmt hast du was Lustiges erlebt!"
"Ja, ja, war ganz lustig", antwortete er träge. Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte.
Zu Hause angekommen lief er gleich in sein Zimmer und schaute nach, ob ich seine Pflanzen und Frösche gut gepflegt hatte. Ich ließ ihn seufzend in Ruhe. Innerlich hatte ich große Lust, ihn nach außergewöhnlichen Dingen zu fragen, die ihm passiert sein könnten. Aber wie sollte ich damit anfangen? Und wie ihm erklären, warum ich mich auf einmal für etwas interessierte, was er vor mir womöglich bewusst in letzter Zeit geheimgehalten hatte, weil mich diese Geschichten bislang immer so nervten...
Schuldgefühle stiegen mir hoch. Ab sofort wird sich das ändern, sagte ich mir fest entschlossen und fing erst mal an, die schmutzige Wäsche zu sortieren und Haushaltsdinge zu tätigen.
Unsere Zweisamkeit bei voller Berufstätigkeit war nicht immer leicht gewesen. Nicos Vater war früh gestorben, noch vor Nicos Geburt. Eine kurzlebige Beziehung. Eigentlich hatte selbst ich ihn kaum kennen gelernt. Er hat mir als Erinnerung das Kind hinterlassen. Ich habe Nico also allein großgezogen. Und ihn jetzt in ein Internat abzuschieben tat mir einerseits weh, andererseits war er dann nicht mehr so oft allein, und er würde noch mehr Kinder um sich herum haben, stellte ich mir vor. Und wie sollte ich es sonst schaffen, wenn man so viel arbeiten muss, tröstete ich mich immer wieder. Viele Kinder gingen auf Internate.
Nach einer Weile kam Nico aus seinem Zimmer in die Küche.
"Hi", sagte ich, "hab ich alles richtig gemacht mit den Pflanzen und Tieren?"
"Alles okay."
"Das ist ja schön. Hab mich wirklich an deine Anweisungen gehalten. - Hunger? Sollen wir beide zusammen Einkäufe machen und uns dann ein richtig tolles Essen gönnen? Und schon mal nach Sachen schauen, die du für die neue Schule brauchst? Was meinst du?" Ich spürte, wie mein Magen knurrte. Er nahm mir den gestrigen Diättag noch immer ziemlich übel.
Nico nickte langsam.
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