Kapitel 10:
Der Brief
Ich hörte die Post kommen. "Gehst du mal die Post holen, Nico?" fragte ich ihn, während ich im Kühlschrank nachsah, welche Lebensmittel fehlten.
Nico schlurfte langsam den Flur entlang. Ich kramte herum, schmiss gammeligen Salat weg, schaute nach, ob in den Schränken noch was Essbares war und suchte ein paar Taschen zusammen, um uns für den Einkauf vorzubereiten.
"Nico?" fragte ich, als ich schon eine Weile nichts mehr hörte. Wo war er?
Ich rief nochmals. Keine Antwort. Er war wohl im Zimmer. Von der Toilette zurückkommend sah ich Post auf dem Boden liegen. Er hatte sie wohl fallen gelassen.
"Hör mal, wieso hast du die Post nicht auf den Küchentisch gelegt?" fragte ich, eher verwundert als genervt. Heute konnte ich über nichts böse sein. Nicos Zimmertür stand offen. Ich schaute hinein. Da saß er, auf dem Bett mit einem Brief in der Hand.
"Du hast Post bekommen? Ach wie schön. Urlaubspost von einem Freund?" fragte ich freundlich.
Nico blickte auf. Er war kreideweiß im Gesicht.
Ich erschrak. Ich sprang sofort zu ihm und nahm ihn in die Arme: "Was ist los? Schlimme Nachrichten?" Und ich warf einen Blick auf den Brief. Er war aus dickem gelblichen Papier und beschrieben mit grüner Tinte.
Ich griff nach dem Brief. Doch Nico zog ihn schnell zurück, riss sich von mir los und stand auf.
"Was hast du? Ist es was Schlimmes? Erzähl doch bitte, Nico." Ich sah ihn flehend an.
"Davon verstehst du nichts", sagte er leise, und rannte mit dem Brief nach draußen.
Ich hörte, wie er den Schlüssel der Toilettetür umdrehte. Aber er hatte den Umschlag in der Eile auf den Boden fallen lassen.
Ich hob ihn auf, um den Absender anzuschauen: Ein großes Siegel zierte den Umschlag, so wie man das von alten Briefen kannte, auf dem eine Schlange, ein Adler, ein Dachs und ein Löwe abgebildet waren. Darunter stand das Wort "Hogwarts".
Ich merkte, wie ich zitterte. Der Name sagte mir zwar nichts, aber unweigerlich musste ich an Severus denken. Ja, das könnte passen...
Wenn das nun die Schule wäre, die Zaubererschule...
Ich merkte, wie mein Herz anfing zu rasen.
"Nico!" Ich sprang nach draußen. "Nico, komm bitte raus. Erzähl mir doch, was in dem Brief steht."
Keine Antwort.
"Bitte. Ich ahne es. Aber erzähl es mir selbst, Nico!"
"Nein. Das ahnst du nie." Seine Stimme klang zerbrechlich. Er hatte Angst.
Wie kam ich an ihn ran?
"Nun, lass mich raten: Ist es eine Einladung?"
Keine Antwort.
"Einer Schule?"
Immer noch keine Antwort.
"Einer ...", ich atmete tief durch, "Zaubererschule?"
Die Tür öffnete sich langsam. Nico schaute mich mit verwunderten Augen an. "Woher weißt du das?"
Ich schluchzte los. "Ja, weißt du… Ach, wie soll ich dir das erklären! Ich habe es einfach geahnt."
Nico starrte mich an. Er zog langsam den Brief hervor und reichte ihn mir.
Ich las die in Schreibschrift verfasste Einladung, unterschrieben von Professor McGonagall.
Nico beobachtete mich. Ich las sie immer wieder.
"Warum kriege ich solch eine Einladung? Bin ich ..."
"Ja...", Tränen rannen mir über die Wangen, "ja, du bist ein Zauberer."
"Ein Z...?" Nico starrte mich an. Ich umarmte ihn.
"Ja, Nico. Ich kann es auch kaum glauben. Aber ich habe es jetzt begriffen. Du bist ein Zauberer. Und darum passieren dir auch so komische Dinge. Ich weiß, ich habe dir viel Unrecht getan und dir das alles nicht geglaubt. Aber das wird sich jetzt ändern..."
Nico befreite sich von meiner Umarmung und sah mich irritiert an. "Wieso glaubst du mir das jetzt?"
"Nun", schniefte ich, "ich habe jemanden kennengelernt, also, ich habe erfahren, dass es solche Zauberer gibt und diese Schule..."
"Und du bist einverstanden, dass ich auf diese Schule gehe?" Er sah mich aufgeregt an.
Ich zog ihn wieder zurück in sein Zimmer, aufs Bett, packte ihn an den Schultern und sagte, indem ich ihm fest in die Augen schaute: "Hör mal, wenn du ein Zauberer bist, dann musst du auf diese Schule gehen!"
Er machte einen Luftsprung vor Freude: "Wirklich?" Er konnte es nicht fassen.
"Hast wohl überhaupt nicht damit gerechnet, was? Dass so ein stinknormaler Muggel wie ich dir das erlaubt", sagte ich lachend, immer noch mit Tränen in den Augen.
Irritierte schaute er mich wieder an.
"Nun", fuhr ich mit etwas sachlicherer Stimme fort, "wie beantworten wir diesen Brief, und wo kriegen wir die Sachen her?"
Er ergriff ihn und überflog die Zeilen: "Kein Problem. Ich weiß, wen ich fragen kann."
"Du weißt...?" Der Junge verwunderte mich immer mehr.
"Ja, ich kenne da jemanden mit einer Eule. Der gebe ich den Brief mit. Und ich frage ihn, ob er mit mir diese Sachen da besorgen kann: Zauberstäbe, Bücher und so."
Ich war platt. Er wusste schon so viel. Und ich hatte bis gestern keine Ahnung.
Er schien ganz aufgeregt, aber so richtig erleichtert.
"Aber jetzt gehen wir erst mal einkaufen, ja?" fragte er mit heiterer Stimme.
Sollte hier je wieder ein normaler Alltag einkehren?
Es musste wohl so kommen, dachte ich. Hatte Severus nicht gesagt, dass es viele Zauberer aus Muggelfamilien gab? Und dass die Schule von der liberalen Seite geleitet wurde? ‚Ach je, jetzt geht mich deren Krieg doch was an', dachte ich seufzend, aber als ich Nico sah, wie er munter die Einkaufstaschen holte, so gut gelaunt wie schon lange nicht mehr, da wusste ich, dass ich ihn nicht daran hindern durfte, seinen Weg in seine Welt zu suchen.
Vielleicht war ja sein Vater auch ein Zauberer gewesen, fiel mir ein, als ich mit Nico die Treppe runterging, ja vielleicht. Ich stöberte in meinem Kopf herum nach letzten Erinnerungen über diesen mir immer fremd gebliebenen Mann.
Irgendwann einmal, beschloss ich, werde ich Nico meine Begegnung mit Severus Snape in der U-Bahn erzählen. Irgendwann. Er ist ja schließlich kein Muggel.
Und damit ich wirklich nichts vergesse, habe ich diese Geschichte aufgeschrieben. Ich bin Severus Snape sehr dankbar dafür, dass er mir mein Gedächtnis gelassen hat. Und sicher wird er bald davon erfahren, dass ich nicht ganz Unrecht hatte mit Nico und seinen außergewöhnlichen Fähigkeiten...
Nachwort:
Ein kratzendes Geräusch riss mich aus dem Schlaf. Verstört blickte ich um mich. Was war los? Wer weckt mich am Sonntag in der Früh? Ich sah am Fenster etwas Dunkles, das sich vor der Scheibe bewegte. Eine Eule?
Auf einmal war ich hellwach. Eulen waren die Postboten der Zauberer. Das wusste ich inzwischen. Aber ich war bisher noch nie einer begegnet.
Ich sprang auf, riss das Fenster auf: Die Eule blieb am Fenstersims ruhig sitzen und streckte ein Bein vor. Ein zusammengerolltes Stück Papier war daran geknotet. Vorsichtig näherte ich mich dem Tier und griff zaghaft nach der Rolle. Die Eule hielt brav still. Sie schien tatsächlich eine routinierte Posteule zu sein.
"Danke", sagte ich und überlegte, ob ich ihr jetzt was zu essen anbieten sollte. Aber kaum hatte ich die Rolle abgemacht, da setzte sie schon zum Flug an und war verschwunden.
Aufgeregt entrollte ich das gelbliche Pergament. Der Brief musste von Nico sein. Sein erster Brief. Er war jetzt seit einer knappen Woche fort und ich konnte kaum schlafen vor Aufregung und Angst, in welche Welt ich ihn da entlassen hatte.
Tatsächlich: Die Tinte war höchst ungewöhnlich, und die Kleckse sahen so aus, als hätte er es mit Feder und Tintenfass versucht, aber die Schrift war eindeutig von Nico:
Liebe Mum,
heute haben wir frei, und darum kann ich dir jetzt endlich schreiben.
Es ist so viel passiert. Ich weiß gar nicht, ob das alles auf dieses Stück Pergament passt.
Ich bin gut mit dem Zug angekommen und habe schon auf der Fahrt Jerry kennen gelernt. Er ist sehr nett und kommt auch aus einer Familie ohne Zauberer.
Wir sind dann mit einem Boot zum Internat gefahren. Es ist ein riesiges Schloss. Das glaubst du nicht, wie groß das ist. Und nur mit Kerzen und Fackeln erleuchtet. Ich verirre mich immer noch in den Gängen. Am ersten Abend wurden wir in vier Häuser aufgeteilt. Ich bin in das Haus "Gryffindor" gekommen. Unser Direktor, Professor Dumbledore, soll auch diesem Haus angehört haben. Die Mutigen sollen hierhin kommen.
Wir haben einen sehr schönen Schlafsaal. Und das Essen ist super.
Die Unterrichtsfächer sind wirklich spannend. Am liebsten habe ich Kräuterkunde. Da gibt es Pflanzen, die hast du noch nie gesehen. Zaubertränke ist auch nicht schlecht, obwohl der Lehrer, Professor Snape, sehr streng ist. Er soll alle Schüler aus seinem Haus Slytherin bevorzugen und uns Gryffindors besonders verabscheuen. Aber komischerweise ist er ganz nett zu mir. Das verwundert alle hier. Sie fragen mich schon, ob du mit ihm befreundet seiest oder so. Da muss ich immer lachen.
Bitte mach dir keine Sorgen. Wir lernen viel hier. Und ich spiele jetzt Quidditch, ein ganz tolles Ballspiel mit fliegenden Besen.
Und ich habe schon viele Freunde gefunden.
Ich würde dir am liebsten alles zeigen.
Aber ich schreibe dir wieder, sobald ich Zeit habe.
Viele Grüße
Dein Nico
ENDE
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