Kapitel 8:
Befreiung
Eine Weile sprachen wir nicht. Das Licht brannte immer noch im Wagen seit dem Duell. Vermutlich war es auch magisch...
Doch je mehr ich mich in diese Welt hineindachte, umso trauriger wurde ich. Emotionen packten mich. Ich fing wieder an zu weinen.
Snape schien dies wohl zu bemerken. Er versuchte, seinen Kopf zu mir zu drehen, aber es schien wohl unmöglich. An seinem schweren Atem spürte ich, dass er Schmerzen unterdrückte.
"Geht's Ihnen nicht gut?" fragte er.
"Doch, doch", antwortete ich, "alles okay. Ich bin nur traurig und habe Angst, dass..."
"Angst? Sie haben viel Mut bewiesen. Der Rest hier wird für Sie einfach sein."
"Nein, das meine ich nicht. Ich mache mir Sorgen um Nico, meinen Sohn, wissen Sie."
Severus sagte nichts.
Ich fuhr einfach fort: "Ja, er, er ist manchmal, ja wie soll ich anfangen… er hat manchmal Vorstellungen, die jeden Erwachsenen zum Aufregen bringen, weil er oft so wundersame Gestalten sieht, und weil er auch immer wieder merkwürdige Dinge geschehen lässt, die ihm viel Ärger einbringen. Ich habe sie ihm bisher auch nie geglaubt. Und wirkliche Freunde hat er deswegen auch keine."
Snape antwortete nicht. Ich spürte innerlich, dass er mir nicht so recht glaubte. Als ob ich jetzt in Nico einen Zauberer "hineininterpretieren" wollte, nur um Teil dieser magischen Welt zu werden.
"Ich weiß, Sie glauben mir jetzt nicht, nach all dem, was Sie mir über Ihre Welt verraten haben", sagte ich, "aber ich sehe Ähnlichkeiten zwischen Nico und Ihren Beschreibungen von Zauberern aus Muggelfamilien. Er begegnet Gestalten, die es bei uns nicht gibt. Ich meine, er erzählt mir davon, und ich glaube ihm nicht. Ich dachte immer, er hätte Alpträume. Vielleicht...ach, was soll´s! Vielleicht rede ich jetzt Unfug. Ich bin nach diesen Erlebnissen einfach zu k.o., um normal zu denken", schloss ich. Das brachte jetzt nichts. Ich konnte wirklich keinen klaren Gedanken mehr fassen.
Severus dachte nach. Schließlich sagte er: "Wenn Ihr Sohn keine Einladung von unserer Schule gekriegt hat, dann ist er bestimmt kein Zauberer."
Wir schwiegen wieder. Ich döste so langsam ein. Snapes Worte beruhigten mich etwas. Aber ich würde mehr Verständnis für Nicos Träume aufzubringen, nahm ich mir im Stillen fest vor.
Irgendwann regte es sich neben mir. Ich schreckte auf. Snape konnte sich bewegen. Die Schnüre schienen sich wohl gelockert zu haben. Tatsächlich, sie wurden langsam dünner und verschwanden schließlich. Gebannt betrachtete ich diesen Vorgang. Ich konnte mich immer noch nicht an solche, magisch gesteuerten Vorgänge gewöhnen.
Snape bewegte sich. Er massierte sich den Kopf und den Hals, und schließlich die Handgelenke. Dann blickte er um sich und tastete mit seinen Blicken den Boden ab. Er schien etwas zu suchen. Er stand langsam auf, reckte seine steifen Glieder und ging ein paar Schritte mit wackeligen Beinen zwei Sitzreihen vor. Dort sah ich schließlich, was er suchte: seinen Zauberstab. Er war beim Kampf hinter einen der Sitze gerollt. Snape beugte sich vor und ergriff seinen Stab.
Malfoys Stab hielt ich immer noch in meinen Händen. Ich wollte ihn schon Snape reichen, doch dann besann ich mich und steckte ihn unbemerkt in meine Hosentasche. Vielleicht konnte er mir ja noch mal nützlich sein, dachte ich mir.
Snape machte mit seinem Stab einen routinierten Schwung, zeigte auf den Boden und murmelte etwas. Die verstreuten Sachen sortierten sich wie von selbst und rutschten in meine Tasche. Sie hatten die ganze Zeit da gelegen, ich hatte noch nicht mal die Kraft gehabt, alles aufzuheben. Voll Bewunderung betrachtete ich Snape, der recht angeschlagen aussah. Er musste ziemliche Schmerzen ausgehalten haben.
"Alles okay bei Ihnen?" fragte ich schließlich. "Ich meine, es muss Ihnen doch alles wehtun."
Er sagte nichts dazu, sondern schritt zur Tür und zeigte wieder mit seinem Stab darauf. Und tatsächlich: Sie öffnete sich.
"Gehen wir jetzt. Haben Sie alle Ihre Sachen?" Ich griff nach der Tasche und nickte.
"Gut", sagte er mit fester Stimme: "Wir machen nun folgendes: Sie sagen mir Ihre Adresse und beschreiben mir genau, wo Sie wohnen. Dann werde ich Sie dorthin bringen."
"Wie...", fragte ich erstaunt, "wie wollen Sie mich dorthin bringen?"
"Mit meinen magischen Kräften, das verstehen Sie ja inzwischen", erwiderte er, "also, machen Sie sich keine Sorgen. Ich versichere Ihnen, ich werde nichts in Ihrer Wohnung anrühren und mich dort auch nicht länger aufhalten. Ich werde Sie dort nur abliefern. Sie werden davon nichts spüren. Wenn Sie wieder bei Bewusstsein sind, ist alles so wie früher ..."
Erschrocken blickte ich ihn an: "Wie wollen Sie das schaffen? Ich meine, mir ist klar - mit Ihrem Stab und den dazu passenden Sprüchen, wie auch immer, aber...", und meine Stimme wurde dabei wieder fester, "wie genau gehen Sie dabei vor?"
Snape war das Thema wohl unbehaglich. Ich merkte, er musste mir etwas mitteilen, was er nicht gerne sagen wollte:
"Also, ich werde Sie in eine Art Schlaf versetzen, dann bringe ich Sie in Ihre Wohnung, mit meinen magischen Reisemöglichkeiten ist das kein Problem. Wenn Sie wieder aufwachen, dann bin ich schon weg, und Sie haben all das hier vergessen...", schloss er mit vorsichtiger Stimme die letzten Worte.
Ich sah ihn entgeistert an: "Wie? Vergessen? Wollen Sie mein Gedächtnis zerstören?"
Ich war dabei aufgesprungen und versuchte, aufkeimende Wut zu unterdrücken.
Snape nickte. "Das wird Ihnen nicht wehtun." fuhr er mit sachlicher Stimme fort, als ob es nur um die Korrektur eines Schulaufsatzes ging. "Ich werde nur diesen Teil in der U-Bahn herausstreichen müssen. Glauben Sie mir, Sie bleiben dabei derselbe Mensch wie früher. Alle anderen Erinnerungen werde ich nicht anrühren."
Ich konnte es nicht fassen. Diese Erklärung versetzte mir fast mehr Angst als der Moment, wo Malfoy mich entdeckte...
"Sie wollen WAS? Mein Gedächtnis verändern? So wie ein Tonband, aus dem man einfach eine Stelle rausschneidet? Oder eine Datei löschen? Hören Sie mal, ich bin doch kein Computer, kein Speichermedium, in dem man beliebig etwas verändern, kopieren oder löschen kann!"
Snape verstand davon wohl nichts, aber durchaus meine Wut und mein Entsetzen!
Ich sah ihm mit aller Kraft in die tiefen Augen und sagte deutlich und klar in meiner härtesten Stimmlage: "Das wirst du nicht tun! Niemals!"
Snape seufzte: "Es tut mir leid. Aber ich muss das tun. Wir sind dazu verpflichtet, dies zu tun. Wie ich ja bereits erklärte, darf kein Muggel von unserer Existenz erfahren. Und Sie haben nun mal - leider, und ohne Ihre Absicht, das weiß ich sehr wohl - viel zu viel von uns mitbekommen."
"Das ist mir egal", rief ich. "Ich habe dein Leben gerettet, erinnerst du dich? Wenn mein Handy nicht geklingelt und ich nicht einfach Magier gespielt hätte, dann ... dann wären wir wohl tot, zumindest ich... nach einer genussvollen Vergewaltigung", schloss ich, mit erneuten Tränen und kochender Wut.
Severus konnte mir nicht mehr in die Augen schauen.
"Ich weiß", sagte er sanft, "aber ich kann und darf diese Regel nicht brechen. Ich bin dir auch dankbar und froh, dass du mich befreit hast. Ich habe dir darum viele Fragen beantwortet, um Ruhe in deinen Kopf zu bringen. Ich verstehe auch deine Neugier, und ich muss sagen, ich bin beeindruckt von deiner Kraft und Intelligenz. Ich hätte nie für möglich gehalten, dass ein Muggel zu so etwas fähig ist." Dabei sah er mir wieder in die Augen.
"Aber", fuhr er fort, "ich muss deine Erinnerung löschen. Ich verspreche dir, ich werde alles tun, dass du keinen Schaden nimmst. Glaube mir, es wird dir besser gehen, wenn du aufwachst und denkst, du hattest gestern einfach nur einen anstrengenden Tag, und musst nicht die vielen Erlebnisse verarbeiten..."
Ich schüttelte den Kopf: "Mein Gedächtnis und mein Gehirn sind mir kostbar. Das darf und kann ich nicht zulassen, dass jemand dort rumpfuscht (und zeigte dabei auf meinen Kopf). Es macht mir Angst, riesige Angst, unvorstellbare Angst! Und", meine Stimme wurde nun etwas ruhiger, "ich möchte mich dieser Aufgabe stellen, all das zu verarbeiten. Ich werde das auch schaffen, Severus. Ich verspreche dir, nicht nach euch zu suchen. Ich verspreche dir auch, keinem davon zu erzählen, was hier passiert ist. Es würde mir eh keiner glauben. Ich werde kein Detail auch nur ansatzweise in irgendeiner Story verarbeiten, wirklich, das schwöre ich dir."
Severus schüttelte nur verzweifelt den Kopf.
"Bitte Severus, lass mein Gedächtnis in Ruhe. Ich habe dir das Leben gerettet, und du könntest als Dank dafür eine Regel brechen und mein Gehirn retten."
Dann setzte ich mich und starrte die Decke an. Meine Kräfte waren verbraucht. Der Kopf dröhnte. Der Kreislauf war im Keller. Wir verbrachten schon etliche Stunden in diesem Waggon. Ich konnte mich wirklich kaum noch auf den Beinen halten.
Severus schritt in dem Wagen auf und ab. Er blickte zur Tür raus und sah sich um. Er schien wohl nichts Beunruhigendes festzustellen. Dann drehte er sich um mit dem festen Gesichtsausdruck, endlich einen Entschluss gefasst zu haben.
"Also gut", sagte er, "ich bringe dich zurück, und du behältst deine Erinnerung. Aber ich sage dir...", er packte mich bei diesen Worten, und seine Augen bohrten sich bedrohlich in die meinigen, "wenn du nur ein kleines Wort über diese Geschehnisse oder über die Zaubererwelt Muggeln gegenüber fallen lässt, - und ich versichere dir, das finde ich heraus - dann wirst du das nicht überleben."
Dabei zuckte ich zusammen. Ich spürte, das war todernst. Ich nickte mit dem Kopf: "Das verspreche ich dir."
Seufzend ließ er mich los. "Wo wohnst du nun?" fragte er.
"Hier ist meine Adresse." Ich reichte ihm eine Karte. "Das ist im dritten Stock, Vordereingang, rechte Seite. Wenn du am Eingang ein von Nico gemaltes Bild von einem Gespenst siehst - dann ist das die richtige Haustür."
"Gut. Beeilen wir uns. Es dämmert bestimmt schon."
"Was soll ich tun?" fragte ich zittrig und ängstlich, doch eigentlich konnte ich Snape doch wirklich vertrauen, versuchte ich mir einzureden.
"Setz dich." Er griff nach seinem Zauberstab und richtete ihn auf mich. "Entspann dich einfach", sagte er.
Ich guckte dennoch irritiert auf: "Sehen wir uns jetzt nie mehr wieder?"
Er sah mich nicht richtig an, sondern blickte in eine Ecke hinter mir: "Nie mehr."
"Dann sollten wir uns vorher verabschieden."
Er rang nach Worten: "Also dann, leb wohl." Doch er besann sich nochmals, sah mir wieder in die Augen, und erstmals nahm sein Gesicht weiche, freundliche Züge an. Eigentlich ein schöner Mann, ging mir durch den Kopf.
"Leb wohl, Lily. Du bist eine beeindruckende Frau. Und ich danke dir für deine Hilfe."
Das fiel ihm sichtlich schwer.
Ich schluckte und verabschiedete mich ebenfalls: "Ich danke dir auch, Severus. Du bist noch viel beeindruckender. Schade, dass wir in zwei verschiedenen Welten zu Hause sind. Leb wohl!"
Severus schaute mir zum letzten Mal in die Augen. Ich erkannte in den seinigen einen Schatten von Traurigkeit. Doch dann nahm er einen sachlichen Blick an. Er richtete seinen Zauberstab auf meine Stirn und murmelte ein paar unverständliche Worte - mir wurde ganz schummerig: Die Waggondecke, an der ich mich noch vor wenigen Stunden festgekrallt hatte, drehte sich. Ich sah noch die schwarze Jacke von Snape, dann sein hageres Gesicht mit den tiefschwarzen Augen, auf mich fixiert, konzentriert auf seinen Zauber... und alles verschwand in der Dunkelheit.
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