Lily wartete schon am Fuß der großen Treppe in der Eingangshalle auf ihn. Obwohl sie noch nicht einmal draußen waren, waren ihre Wangen schon vor Aufregung gerötet.
"Ich bin ja so gespannt, wie Quidditch ist. Immer schwärmen alle davon. Es muß ja absolut großartig sein."
Severus hob leicht die Schultern. "Na ja, es ist ein Sport. Spannend, unterhaltsam... Sport eben."
Lily schob leicht die Unterlippe nach vorne. "Mußt du mich denn wirklich so unsanft wieder von meiner Wolke runterholen?"
Severus zuckte leicht zusammen und umfaßte ihre Hand in seiner sofort ein wenig fester. "Bitte verzeih, das wollte ich nicht."
Lily lachte und sah ihn an. "Du brauchst nicht so erschrecken. Ich meine es doch nicht böse! Du hast ja recht und es ist gut, wenn du immer ehrlich sagst, was du denkst. - Na ja, manche Menschen finden es vielleicht nicht so toll, aber an sich ist es eine gute Sache und wenn man diese Eigenschaft hat, sollte man sie sich auch bewahren. - Selbst wenn dann hin und wieder eine Traumblase ein wenig schneller platzt, als nötig." Severus fühlte sich ein wenig überfordert. Er nahm stets alles, was Lily sagte und tat sehr ernst und jetzt verlangte sie scheinbar, daß er alles noch einmal abwägen sollte, um so zu sehen, was sie ernst meinte und was nicht. Wie sollte ihm das gelingen? Er wußte ja meistens nicht einmal, was seine Worte und Taten wirklich bedeuteten.
"Ich hab dir damit ein Problem gemacht oder?" fragte Lily, nachdem Severus den Rest des Weges zum Quidditchfeld geschwiegen hatte. Er sah sie an und ein wenig konnte man die Verwirrung in seinen Augen noch erkennen.
"Ich lerne noch, Lily. Ich glaube, ich brauche etwas mehr Zeit als normale Jungs." Er lächelte verlegen und Lily verstand.
Die Tribüne der Gryffindors war schon ziemlich dicht besetzt, doch sie fanden noch zwei relativ gute Plätze etwa in der Mitte. Severus wußte, daß es nicht die besten Sitze waren, aber man würde auch von hier aus noch genug sehen können.
Lily wurde von Minute zu Minute aufgeregter und zappelte auf ihrem Platz herum, wie ein kleines Kind. Und ab dem Moment, als die Spieler auf das Feld flogen, war sie wie in einer anderen Welt. Wie hypnotisiert folgte ihr Blick so schnell sie konnte dem Quaffel, sie verbarg das Gesicht in ihren Händen, wenn einer der Gryffindors nur haarscharf von einem Klatscher verfehlt wurde und hielt während der ganzen Zeit noch dazu Ausschau nach dem winzigen Schnatz.
Severus verfolgte das Spiel mäßig interessiert. Er war immer noch zu sehr mit der Sache von vorhin beschäftigt und ja ohnehin nicht so besonders heiß auf dieses Spiel gewesen. So wurde seine Aufmerksamkeit nur zu leicht auf ein Gespräch gelenkt, daß Severus zwischen dem Jubel und dem anderen Lärm der Zuschauer aufschnappte.
"Warum nicht, Sirius? Was hast du eigentlich immer an mir auszusetzen?" hörte er die quiekende Stimme von Peter Pettigrew, dem kleinen dicklichen Gryffindor, der wie ein Rattenschwanz immer an Potter, Lupin und Black hing. Ein deutlich verächtlicher Ausdruck huschte über Severus' Gesicht.
"Weil du dafür noch nicht weit genug bist, Peter!" entgegnete die ungeduldige Stimme Sirius'. Severus wurde hellhörig. Sirius Black und ungeduldig? Selbst wenn es hier um Peter Pettigrew ging, das war eine interessante Tatsache.
"Ach, aber James ist weit genug, ja? Du bist auch weit genug. Nur ich, ich darf es nicht ausprobieren." Wenn Peter versuchte, die Stimme zu heben, klang sie wie das aufgeregte Quieken einer Ratte.
"Darf ich dich vielleicht daran erinnern, was das letzte Mal geschehen ist, als du dachtest, weit genug zu sein? Wenn ich nicht gewesen wäre, hättest du es nicht einmal geschafft, deinen Rattenschwanz alleine weg zu zaubern." Severus hob überrascht die Augenbrauen. Rattenschwanz? Was hatten diese Dummköpfe nur wieder vor?
"Du willst mir diese kleine Sache noch ewig vorhalten oder?" entgegnete Peter jetzt schon sehr gereizt.
"Eine kleine Sache war das also für dich? Du hast Nerven, Junge! - Aber gut, mach was du willst. Du kannst dich von mir aus gerne nachher verwandeln, wenn wir wieder im Schloß sind. Aber wenn es schief geht, dann will ich dich nicht in meiner Nähe sehen. Dann regelst du das selbst. Du erklärst Madam Pomfrey und Professor McGonagall selbst, was passiert ist!" Dann herrschte hinter ihm Schweigen.
Sirius' letzte Worte hatten Severus schon einmal in der Hinsicht die Augen geöffnet, was Peter gemeint hatte. Die vier versuchten, auf eigene Faust Animagi zu werden. Severus mußte grinsen. Potter, Lupin und Black, ja da konnte er sich das vorstellen, die drei waren begabt genug. Aber Peter Pettigrew? Die Vorstellung war ein einziger Witz, nie im Leben würde dieser Junge es schaffen, sich in ein vernünftiges Tier zu verwandeln... obwohl, so wie Severus es verstanden hatte, verwandelte er sich in eine Ratte. Das war ein durchaus passendes Tier und paßte zu Peters Talent.
"Hört auf, euch zu streiten! Ständig dieser Ärger. Neulich im Kerker hättet ihr uns auch fast verraten, mit eurem Lärm. So kriegen wir die verfluchte Karte ja nie fertig", schaltete sich jetzt auch Remus ein. Severus spitzte erneut die Ohren. Der Kerker. Sie waren also dort unten gewesen, weil sie eine Karte anfertigten, wie er vermutet hatte... wozu sollte das gut sein?
"Ach, ihr übertreibt da. Vor allem James. Woher wollte er den bitteschön wissen, daß ich wirklich über die Wand gekratzt habe, die zum Gemeinschaftsraum der Slytherins gehört?"
"Weil James und ich wissen, wo der Eingang zum Gemeinschaftsraum ist!" herrschte Sirius ihn so leise wie möglich an, doch Severus verstand auch diese Worte klar und deutlich. Sie beunruhigten ihn doch ein wenig. Woher wußten sie, wo der Gemeinschaftsraum der Slytherins war? Gut, daß er im Kerker war, wußten natürlich alle, aber der genaue Standpunkt... schließlich hatte James Potter recht gehabt, Peter hatte über genau diese Wand gekratzt.
Die Schüler von Hogwarts wußten lediglich, wo sich der geheime Eingang ihres eigenen Gemeinschaftsraumes befand und keiner verriet es einem Mitglied eines anderen Hauses. Es gab gar keine Möglichkeit, daß James und Sirius es von irgendwem erfahren hatten. Sie mußten es per Zufall gesehen haben, aber auch das war praktisch unmöglich, denn in den Teil des Kerkers, in dem der Eingang lag, kam eigentlich niemals jemand per Zufall...
Das alles war sehr suspekt und Severus beschloß, die Sache irgendwie im Auge zu behalten.
"Gryffindor hat den Schnatz!" rief Lily aufgeregt neben ihm und lenkte Severus' Aufmerksamkeit wieder auf das Quidditchspiel, das soeben beendet worden war. Der Sucher der Gryffindors hielt den kleinen goldenen Schnatz triumphierend in der Hand und flog einige Siegerrunden über das Feld, während die Menge unter ihm jubelte. James drehte einen Looping und schüttelte ebenfalls triumphierend die Faust.
Er suchte Lily und fand sie schließlich mitten unter den anderen Gryffindors. Ihre Blicke trafen sich und auch, wenn Lily es wahrscheinlich aus der Entfernung nicht sehen konnte, setzte James ein Lächeln auf, um seinen Unmut über ihren Sitznachbarn zu überspielen.
***
Severus kaute gedankenverloren auf seinem Bleistift herum. Das Gespräch zwischen Sirius, Remus und Peter ging ihm schon seit Tagen nicht mehr aus dem Kopf. Eigentlich waren die Aussagen der drei schon so eindeutig gewesen, daß er sich immerhin auf einiges einen Reim machen konnte.
Die vier Jungs versuchten offensichtlich, sich selbst zu Animagi auszubilden, obwohl das nicht nur strengstens verboten, sondern auch höchst gefährlich war. Nicht daß Severus irgend etwas in der Art wie Angst um die vier fühlte. Im Prinzip war es ihm egal. Was ihm aber wirklich Sorgen bereitete waren die Beweggründe. Warum nahmen die vier solche Strapazen auf sich? Severus wußte, ein Animagi zu werden war mit das schwierigste, was man als Zauberer zum Ziel haben konnte. Es war eine Schinderei und höchste Gefahr für das eigene Leben noch dazu, denn man konnte schließlich unendlich viele Dinge falsch machen...
Und warum schlichen sie ständig durch das Schloß und durchsuchten jeden Winkel? Severus zog die Stirn kraus. Das war alles mehr als verdächtig und besorgniserregend. Und was ihm fast noch weniger gefiel, er konnte niemandem von der Sache erzählen. Wenn er zu Dumbledore oder McGonagall ging, würde Lily fürchterlich sauer auf ihn sein und das wollte er nicht.
Es war wohl doch eher von Nachteil, daß Lily sich wieder mit den vier Gryffindors versöhnt hatte. Wer wußte schon so genau, gegen wen die Pläne der Jungs wirklich gingen... Severus seufzte. Im Prinzip waren ihm die Hände gebunden. Er konnte nichts weiter tun, als die vier weiter unauffällig zu beobachten. Wenn es wirklich hart auf hart kommen würde, war immer noch Zeit, sich seine Prinzipien ins Gedächtnis zu rufen und vielleicht doch etwas zu unternehmen.
James hatte die Arme vor der Brust verschränkt und tippte ungeduldig mit dem Fuß auf den Steinboden des Schlafsaales. Peter sah ihn bittend und ängstlich zugleich an, denn er hatte schon bemerkt, daß sein Freund noch mehr als nicht begeistert war.
"Peter, das ist eine absolut schwachsinnige Idee! Du wirst das auf keinen Fall probieren."
"Aber...", setzte Peter an, doch James schnitt ihm mit einem äußerst gereizten Blick das Wort ab.
"Nein! Ich habe keine Lust, dich als was auch immer bei Madam Pomfrey abliefern zu müssen. Ich weiß gar nicht, wie du auf eine solche Idee kommst. Du bist noch Meilen davon entfernt, es an dir selbst zu testen! Himmel, nicht einmal Sirius ist so weit und er ist mit Abstand der beste von uns dreien." Peter zog den Kopf ein, doch wenn James ihm in diesem Moment in die Augen gesehen hätte, dann hätte er bemerkt, daß der Junge einen Blick aufgesetzt hatte, der einem das Fürchten lehrte.
Peter ballte die Hand zur Faust und zählte innerlich langsam bis zehn. James und Sirius konnten ihm erzählen, was sie wollten, sie hatten garantiert schon heimlich versucht, sich zu verwandeln. Sie schlossen ihn doch ständig überall aus und nahmen ihn nur mit in ihre Pläne auf, wenn sie ihren großzügigen Tag hatten. Seit über acht Monaten übten sie jetzt schon, bald war ihr zweites Schuljahr in Hogwarts vorbei, er glaubte einfach nicht, daß James und Sirius sich noch nicht verwandeln konnten.
Ein Problem mit Peter Pettigrew - sah man mal davon ab, daß er eigentlich einfach nur ein mittelmäßiger Zauberer war - war seine Unwissenheit, wenn es um Magie ging. Obwohl die Pettigrews schon seit Generationen Magier waren, war Peter eine absolute Niete, wenn es darum ging, die Dinge einzuschätzen. Er begriff einfach nicht, daß die Fähigkeit, die sie drei erlernen wollten, ohne Anleitung eines erfahrenen Animagus eigentlich nicht zu bewältigen war. Es hatte schließlich seine Gründe, daß es im Moment lediglich zwei eingetragene Animagi gab. Sirius und James, die mit zu den besten und klügsten Schülern des Jahrganges gehörten, wußten das und sie wußten auch, daß sie beide noch sehr weit davon entfernt waren, den Zauber an sich selbst auszuprobieren.
Sirius stand am Fenster und blickte hinaus auf das Schloßgelände, das langsam in ein rotes Licht getaucht wurde. Die Berge leuchteten golden. Sirius seufzte kaum hörbar. Peter würde Ärger geben, früher oder später. Peter hatte so viel Rückrat wie eine Qualle und wenn es nach ihm gegangen wäre, dann wäre Peter längst nicht mehr Teil der Gruppe. Doch James mit seiner verfluchten Nachgiebigkeit akzeptierte ihn und schien ihn manchmal sogar zu mögen. Für Sirius war Peter von Anfang an jemand gewesen, der sein Fähnchen immer nach dem Wind hängte, jemand, der es eigentlich nicht wert war, daß man mit ihm befreundet war.
Wäre da nicht die für ihn suspekte Entscheidung des Sprechenden Hutes gewesen, Peter Pettigrew nach Gryffindor zu schicken, Sirius hätte sicherlich längst ein ernstes Gespräch über ihn mit James geführt.
Er konnte sich nicht erklären, warum seine Menschenkenntnis ausgerechnet bei Peter scheinbar versagte, denn der Hut hatte sich bekanntlich noch nie geirrt und egal, was sein Bauchgefühl ihm über Peter sagte, wenn der Hut sagte, er sei ein Gryffindor, dann mußte er die gleichen guten Eigenschaften haben, wie sie alle auch.
"Ich schätze mal, es wird noch mindestens ein Jahr dauern, bis wir überhaupt daran denken können, einen Selbstversuch durchzuführen", setzte er schließlich nach einer scheinbaren Ewigkeit nach.
"Wir haben gesehen, was dabei herauskommt, wenn man es zu früh versucht. Gerade du solltest dich daran gut erinnern, Peter. Ich habe es dir schon beim letzten Spiel gesagt, du bist noch nicht so weit, genau wie wir.
Selbst Zauberer, die einen Lehrer hatten, sollen über ein Jahr gebraucht haben, um ein Animagus zu werden. Wenn man es ohne Hilfe und nur mit Büchern versucht, dann dauert es natürlich um so länger. Also reiß dich bitte noch ein Weilchen zusammen, Peter." Sirius versuchte ein Lächeln und sah Peter in die wäßrigen Augen. "Du hast doch nicht etwas Angst, wir würden es ohne dich versuchen oder?"
Peter kniff die Lippen zusammen und schwieg. Er fühlte sich ertappt, wollte das aber nicht zeigen. Sirius bemerkte diese Reaktion natürlich und legte Peter die Hand auf die Schulter.
"Wir sind Freunde, Peter. Und weißt du, was eine wahre Freundschaft auszeichnet? Wir würden nie etwas mit dir gemeinsam anfangen und dich dann einfach unterwegs zurücklassen, weil du langsamer bist als wir. Wir werden alle drei gemeinsam diese Hürde bewältigen, als Team. Mach dir also keine Sorgen, früher oder später werden wir zusammen mit Remus durch die Nacht streifen." Peter nickte, doch so wirklich überzeugt war er noch nicht. James, Sirius und Remus wären schließlich längst nicht mehr die ersten gewesen, die ihn einfach fallen gelassen hätten, weil er nicht mithalten konnte. Immerzu war es ihm so gegangen, daß man ihm erst etwas von Freundschaft erzählt hatte und kaum hatten die "Freunde" bemerkt, daß er nicht so stark, schnell oder klug wie sie war, hatte er wieder allein dagestanden.
Peter kannte es nicht anders und selbst wenn er gewollt hätte, zu diesem Zeitpunkt war es schon zu spät, die Rücksichtslosigkeit, die er dadurch gelernt hatte, einfach so wieder abzulegen. Er wurde das Mißtrauen nicht los, egal was James und Sirius auch sagten.
Am Hogwarts-Express, zwei Monate später...
Severus hob Lilys Koffer in den Zug, der schnaubend und dampfend im Bahnhof von Hogwarts stand, bereit für die lange Fahrt quer durch das Land zurück nach London. Wieder war ein Schuljahr vorbei und wieder fühlte Severus diesen tiefen Schmerz, die große Wehmütigkeit wie beim letzten Mal. Wieder lagen schrecklich lange, einsame zwei Monate vor ihm.
So schön all die Dinge und Gefühle auch waren, die Lily ihm in den letzten beiden Jahren offenbart hatte, sie hatten doch einen Nachteil, den er inzwischen nur zu gut kannte. Gefühle, egal ob positiver oder negativer Natur, schmerzten früher oder später.
Auch Lily sah eher unglücklich aus, als sie Severus in den Zug folgte. Gemeinsam suchten sie sich ein Abteil, in der Hoffnung, daß sie auch diesmal wieder das Glück haben würden, während der Fahrt alleine zu sein. Severus setzte sich und Lily nahm den Platz gleich neben ihm.
Der Zug fuhr schon langsam aus dem Bahnhof heraus, als Lily das erste Mal sprach.
"Wir werden uns wohl auch dieses Jahr nicht sehen oder?" Severus strich ihr sanft eine lange rote Haarsträhne aus dem Gesicht. Seine Hände waren ungewöhnlich kalt.
"Nein, wohl eher nicht. - Aber dieses Jahr werde ich es schaffen, daß wir zusammen in die Winkelgasse können. Irgendwie wird das schon klappen." Er drückte ihr einen kleinen Kuß auf die Schläfe und Lily lächelte endlich wieder, nachdem sie schon den ganzen Vormittag wie ein Trauerkloß durch die Gegend gelaufen war.
"Hab ich dir eigentlich schon erzählt, daß Petunia in so ein merkwürdiges Camp fahren wird? Ich bin sie fast die ganzen Ferien über los!"
Severus hob überrascht die Augenbrauen. "Nein, das wußte ich noch nicht. - Aber das ist doch sehr schön für dich, dann hast du wenigstens in diesem Jahr deinen Frieden zu Hause."
Lily kuschelte sich enger an Severus. "Es wäre nur noch schöner, wenn du für ein paar Tage zu uns kommen könntest. Ich würde dir so gerne mal die Welt der Muggel richtig zeigen. Ich wette, du weißt gar nicht, was da wirklich abgeht."
Severus schüttelte den Kopf. "Nein, das weiß ich wirklich nicht. - Ich hätte wirklich gerne im nächsten Jahr Muggelkunde belegt, aber mein Vater würde mich vermutlich steinigen, wenn er das herausfindet. - Eines Tages wirst du mir das alles zeigen können. Das ist alles nur eine Frage der Zeit."
Lily und Severus schwiegen fast die ganze Fahrt über. Es gab nichts, was sie sich sagen konnten oder sagen mußten. Sie verstanden sich ohne Worte.
Die Landschaft veränderte sich von Stunde zu Stunde immer mehr und bald schon waren sie nicht mehr weit von London entfernt. Severus löste sich langsam von Lily und stand auf, um sich umzuziehen.
Lily hatte bisher nie gefragt, warum er eigentlich die Schule in der Schuluniform verließ - was nicht Vorschrift war - sie aber vor seiner Ankunft in London dann doch noch ablegte - was auch nicht Vorschrift war. Es schien eine Art Ritual für ihn zu sein. Eine endgültige Loslösung von der glücklichen Zeit des Jahres. Wie gerne hätte Lily ihm diese zwei Monate irgendwie erleichtert, aber sie konnte nichts tun. Sie konnte nicht einfach bei den Snapes auftauchen und Severus von dort fortholen oder dort bleiben. Für diese zwei Monate galt also, durchhalten und die Zähne zusammen beißen.
"Wann wird das endlich anders sein, Severus? Erst, wenn wir beide Hogwarts verlassen und unser Leben neu beginnen?" fragte sie traurig.
Severus hob ebenso beklommen die Schultern. "Vermutlich ja. Es tut mir so leid, Lily, aber ich weiß auch nicht, was ich da noch tun kann. Mein Vater ist ein verbohrter Sturkopf, daran werde ich sicher nichts ändern. Ich kann nichts weiter tun, als dich geheim zu halten und so vor ihm zu schützen. Ich hoffe, du verstehst das." Lily lächelte, als er sich wieder neben sie setzte.
"Natürlich verstehe ich das. Du warst schließlich immer ehrlich und hast mir alles erklärt. - Eines Tages wird alles anders sein. Besser. Ich weiß es. Eines Tages werden wir vielleicht sogar zu deinen Eltern gehen können wie zu meinen. Und sie werden sich freuen, daß wir da sind. Und vielleicht... ja vielleicht werden sie mich sogar eines Tages mögen und all ihre dummen Vorurteile über Bord werfen. Eines Tages..." Es klang wie ein Märchen, das wußte nicht nur Severus. Aber er war sich ganz sicher, daß es auch auf jeden Fall immer nur ein Märchen sein würde. Seine Eltern und vernünftig werden. Allein die Vorstellung war fantastisch, unreal. Trotzdem wollte er Lily diese Illusion nicht nehmen. Nicht zum ersten Mal hatte er das Gefühl, daß sie sich an solchen Illusionen festhielt und sie brauchte, um weitermachen zu können wie bisher.
Severus machte sich nichts vor. Er hatte Lily für sich gewinnen können, aber ihm war klar, daß er sie genauso schnell auch wieder verlieren konnte, wenn seine Eltern ihm irgendwie in die Quere kämen. Darum durften sie nie von ihr erfahren, durften auf keinen Fall wissen, daß Lily ein Kind von Muggeleltern war. Darum mußte er um jeden Preis Lucius Malfoy den Mund stopfen. Lucius war die größte Gefahrenquelle in dieser Sache, denn Severus war klar, wenn er seine Macht über ihn verlor, würde Lucius sofort zu seinen Eltern rennen und dann war alles vorbei.
Aber so lange Lucius noch Schüler in Hogwarts war, hatte Severus ihn unter Kontrolle. Das waren immerhin noch zwei Jahre, bis dahin würde ihm schon noch etwas einfallen, wie er auch die letzten drei Jahre über die Runden kam...
Severus fühlte, daß er von Tag zu Tag stärker wurde und daß es nur noch eine Frage der Zeit war, bis er seinem Vater die Stirn bieten würde. Das würde der Tag sein, an dem seine Liebe zu Lily endlich offiziell bekannt werden würde... Ein Tag, von dem er jetzt schon träumte.
"Wir sind gleich da", riß Lily Severus aus seinen Gedanken. Tatsächlich fuhren sie schon durch die ersten Vororte von London.
"Es ist wohl Zeit für den Abschied, nicht wahr?" setzte sie - jetzt fast den Tränen nah - nach und Severus nickte. Er schloß sie fest in seine Arme und streichelte ihr über den Rücken, in der Hoffnung, sie ein wenig beruhigen zu können. Er wollte sie auf keinen Fall weinen sehen.
"Es sind nur zwei Monate. Das klingt unheimlich viel, aber wenn wir beide erst mal mit den Bergen von Arbeit angefangen haben, die wir mit in die Ferien genommen haben, wird die Zeit wie im Fluge vergehen, glaub mir. Und dann sehen wir uns auch schon bald wieder. Spätestens in der letzten Ferienwoche in der Winkelgasse." Er wußte, daß er sehr schnell sprach und so wenig überzeugend klang, aber er hatte seine eigenen Empfindungen längst nicht mehr unter Kontrolle und hatte so seine Schwierigkeiten, Lily Zuversicht und Trost zu spenden. Es war alles verdammt schwierig, wenn man nicht mehr vollkommen Herr der Lage war. Noch so ein Nachteil von Gefühlen, man verlor so leicht die Kontrolle.
"Ich wünschte, es wäre so", antwortete Lily mit tränenerstickter Stimme, doch sie wischte sie fort. Sie wollte nicht weinen. Sie war kein kleines Kind mehr und dies war nur ein Abschied für zwei Monate. So sehr es auch weh tat, das war kein Grund zum Heulen. Severus legte ihr seine immer noch kalten Hände auf die Wangen und sah ihr fest in die Augen.
"Es wird schneller vorbei sein, als wir glauben. Wir müssen uns einfach nur auf die zehn Monate danach freuen, wenn wir wieder die ganze Zeit zusammen sein können. Das hilft über jede Zeit hinweg, die wir getrennt sind." Er drückte ihr einen sanften Kuß auf die Lippen und stürzte dann mehr oder weniger aus dem Abteil, seinen schweren Koffer hinter sich herziehend.
Lily war vollkommen perplex. Waren das Tränen in seinen Augen gewesen?
Lily verließ als eine der letzten den Zug. Bevor sie auf die Tür zutrat, atmete sie tief durch und setzte ein Lächeln auf, in der Hoffnung, daß niemand bemerken würde, daß es kein ehrliches Lächeln war. Severus und seine Familie waren schon vom Bahnsteig verschwunden. Lily hatte sie vom Abteilfenster aus gesehen.
Mit ihrem falschen Lächeln auf dem Gesicht sprang sie auf den Bahnsteig und flog im nächsten Moment ihrem Vater in die Arme, der sie durch die Luft wirbelte.