Lily saß im Garten ihres Elternhauses und starrte gedankenverloren ins Leere. Die Hitze flimmerte über dem Rasen und sogar die Vögel zwitscherten nicht mehr, sondern hatten sich vermutlich irgendwohin verzogen, wo es ein wenig kühl war.
Vor Lily lagen ihre Hausaufgaben für Kräuterkunde und Verwandlungen ausgebreitet. Lily mußte als Vorbereitung auf das dritte Schuljahr ein Buch über Animagi lesen und dann einen Aufsatz darüber schreiben, warum diese Zauberei so gefährlich war und ob die harten Vorschriften Sinn machten oder nicht.
Doch Lily konnte sich nicht konzentrieren. Ihre Gedanken schweiften ständig ab, mal in ganz unbekannte Richtungen und mal direkt in Richtung Severus. Die ersten vier Wochen ohne ihn waren mehr gekrochen wie eine Schildkröte, anstatt zu verfliegen und Lily fürchtete, daß die letzten drei Wochen, bevor sie sich in London treffen wollten, ähnlich verlaufen würden. Wenn es überhaupt zu dem Treffen in London kam. Noch hatte Severus es ihr nicht versprechen können und so langsam glaubte Lily nicht mehr wirklich, daß das noch klappen konnte.
„Lily, mein Schatz, mach mal eine Pause. Ich hab dir eine Limonade gemacht.“ Lily blickte auf und sah ihre Mutter lächelnd an. Jane Evans strahlte ihre Tochter an wie der Sonnenschein in Person und sofort durchströmte Lily das warme Gefühl der tiefen Liebe, die sie für ihre Eltern empfand. Sie war stolz auf ihre Eltern und wenn sie die beiden ansah und dann daran dachte, daß Leute wie die Snapes sie für minderwertig hielten... Lily wischte den Gedanken ärgerlich fort. Sie waren einfach dumm, diese alten verbohrten Zauberer. Sie hatten keine Ahnung und wahrscheinlich nur Angst. Darum redeten sie solch ein dummes Zeug vor sich hin.
Ihre Eltern waren sogar mehr wert als diese Zauberer, denn sie hatten Courage und waren so über die Maßen stolz auf ihre Tochter, die doch so anders war als alle anderen. So manche Eltern hätten wohl eher Angst vor solch einem Kind gehabt. Ihre Eltern aber liebten sie und das war doch einiges mehr als Severus’ Eltern fertig brachten.
„Danke, Mum, du bist die beste.“ Mrs. Evans streichelte ihrer Tochter über das feuerrote Haar und beugte sich ein wenig vor, um einen Blick auf die Texte zu werfen, die vor ihr lagen. Lily nahm einen Schluck von der kühlen Limonade und sah ihrer Mutter lächelnd zu.
„Das sieht alles so kompliziert aus. Worum geht es da?“ fragte sie schließlich. Lily tippte auf ihr Kräuterkundebuch.
„Das hier ist ein Buch über magische Pflanzen und Heilkräuter, welche Pflanze was kann und wie man sie züchtet und pflegt. - Und das hier ist ein Buch über die schwierige Kunst der Animagie. Das bedeutet, daß ein Zauberer sich in ein Tier seiner Wahl verwandeln kann. Ein wirklich gefährlicher und komplizierter Zauber.“ Mrs. Evans sah ein wenig geschockt aus. „Das bringen sie euch aber nicht bei in der Schule oder?!“
Lily schüttelte lachend den Kopf. „Nein, nicht wie man es anstellt. Es ist strengstens verboten, diesen Zauber in der Schule durchzuführen. Sie erzählen uns nur das ganze Drumherum. Wer ein Animagus werden will, lernt das nach der Schule in einer speziellen Ausbildung.“ Mrs. Evans atmete sichtlich erleichtert auf.
„Mach dir keine Sorgen, Mum, mir kann in Hogwarts gar nichts passieren. Die Lehrer dort haben alles unter Kontrolle und würden uns auch nie etwas beibringen, was uns in ernsthafte Gefahr bringt.“
„Ich mache mir manchmal eben Sorgen, Lilyschatz. Ich weiß, daß du dich dort sehr wohl fühlst, deine Freunde auch in Hogwarts sind und nicht mehr hier wie früher, aber manchmal ist es für mich doch schwer, daß ich nicht alles nachvollziehen kann, was in dieser neuen Welt um dich herum so alles passiert. - Nimm es deiner alten Mutter nicht übel, wenn sie manchmal etwas überängstlich ist.“ Lily nahm ihre Mutter in den Arm und drückte sie so fest an sich, wie sie konnte. Manchmal hatte auch sie das Gefühl, daß sie sich langsam von allem entfernte, vor allem von ihrer Familie. Aber das war ein Prozeß, den sie nur schwer aufhalten konnte. Sie wurde erwachsen und sie tat das noch dazu in einer Welt die so anders war, daß es gar nicht mehr extremer ging. Lily hatte nicht zum ersten Mal das Gefühl, daß es bald soweit sein würde und nichts mehr so war wie früher, als sie noch ein ganz kleines Mädchen gewesen war und manchmal weinend vom Spielen nach Hause kam, weil sie sich die Knie aufgeschlagen hatte.
Bald schon würde das alles so weit in der Vergangenheit liegen, daß sich langsam schon ein Schleier darüber legte. Eine Menge Erinnerungen, nicht mehr.
„Ich liebe dich, Mum, und ich weiß, daß du es nur gut meinst“, sagte Lily und sie meinte es auch so. All ihre Sorgen und Ängste, das waren Dinge, von denen ihre Mutter nichts wissen mußte. Sie konnte ihr dabei nicht helfen und würde sich nur unnötige Sorgen machen. Das wollte Lily von ihrer Mutter fernhalten. So weit wie eben möglich.
Persephone flog mit einem krächzenden Ton in den Garten der Evans und landete direkt vor Lily mit einem Brief für sie.
Lily nahm ihn ihr ein wenig überrascht ab. Severus hatte ihr erst vor zwei Tagen geschrieben und da sein Vater immer noch mißtrauisch schien, hatten sie ihren Briefverkehr auf einen pro Woche reduziert. Von ihm konnte dieser Brief also nicht sein. Sie nahm Persephone den Brief ab und kraulte sie zärtlich. Als die Eule ihre Flügel erneut spreizte und vom Tisch abhob, um hinauf in Lilys Zimmer zu fliegen, wo ihr Käfig mit frischem Wasser und Futter auf sie wartete, wandte Lily ihre Aufmerksamkeit dem Brief zu.
„Er ist von James!“ rief sie überrascht und öffnete den Umschlag. Lilys Mutter wußte, daß James Potter einer von Lilys Schulfreunden war, doch bisher hatte ihr nur dieser Severus Snape geschrieben, darum war auch sie etwas überrascht. Lily überflog die Zeilen und lächelte.
„Er fragt mich, ob ich ihn eventuell für ein paar Tage besuchen möchte. Seine Eltern haben mich eingeladen, weil sie mich endlich mal kennen lernen wollen. Wahrscheinlich hat er ihnen den ganzen Tag damit in den Ohren gelegen, der Blödmann. Mum, darf ich hin?“ Sie sah ihre Mutter bittend an. Diese schien nicht so ganz überzeugt, nickte dann aber.
„Na gut, von mir aus ja, aber ich muß erst mit deinem Dad drüber reden. Und ich möchte, daß der Junge wenigstens ein paar Tage auch zu uns kommt.“ Lily freute sich sehr. Zwar wäre sie noch wesentlich glücklicher gewesen, wenn sie diesen Brief von Severus und nicht von James bekommen hätte, aber auch ein Besuch bei James war eine sehr willkommene Abwechslung, zu der sie nicht nein sagte.
Lieber Severus,
stell dir vor, James hat mich für ein paar Tage zu sich nach Hause eingeladen. Seine Familie möchte mich kennen lernen. Mum und Dad haben ja gesagt, ich werde also übermorgen nach London fahren. Wußtest du, daß James mit seiner Familie mitten in London wohnt? Sie müssen wohl sehr reich sein. Ich bin sehr gespannt darauf, wie Zaubererfamilien so leben. Ich hab das ja noch nie gesehen.
Ich hoffe, du bist nicht traurig darüber, daß nicht deine Familie die erste Zaubererfamilie war, die ich kennenlernen durfte.
Ich hab dich sehr lieb und vermisse dich!
Lilly
Severus überflog die Zeilen ein zweites Mal und widerstand nur knapp dem Drang, den Bogen Pergament in kleine Fetzen zu reißen
Ausgerechnet James Potter. Es überraschte ihn durchaus nicht, aber in der letzten Zeit verfluchte er es von Tag zu Tag mehr, daß sie sich wieder mit ihm versöhnt hatte. Severus hatte alle Trümpfe in der Hand, er hatte Lilys Herz und doch war James wohl nach wie vor ein Konkurrent, denn er konnte Lily etwas bieten, was er nicht hatte. Anerkennung und Zuneigung aus der Zaubererwelt.
Er gönnte Lily, daß sie glücklich war und sich auf diesen Urlaub bei James freute, aber er haßte sich dafür, daß er ihr einfach nichts Ähnliches bieten konnte. Er hatte nur sich selbst, das war wohl etwas zu wenig.
Persephone knabberte zärtlich an seinem Ärmel, um seine Aufmerksamkeit wieder auf sie zu lenken. Severus strich der hübschen Eule ein paar Mal vorsichtig über das Gefieder, war aber mit seinen Gedanken noch immer ganz woanders.
Er mußte es schaffen, daß er mit Lily zusammen den Tag in der Winkelgasse verbringen konnte. Es mußte in diesem Jahr einfach klappen. Nur wie er das anstellen sollte, war ihm noch nicht so wirklich klar. Er brauchte einen Plan.
Lily klebte förmlich mit der Nase an der Scheibe des schwarzen Autos, das sie von zu Hause abgeholt hatte. Da sie alleine mit dem Fahrer der Potters war, hatte sie alle Zeit der Welt, sich alles genau anzusehen. Sie war den Weg nach London schon einige Male mit ihren Eltern gefahren, aber noch nie waren sie mit dem Auto quer durch die riesige Stadt durchgefahren. Es war wie eine Stadtführung und Lily sah in dieser einen Stunde, die sie brauchten, um das Haus der Potters zu erreichen, dreimal so viel wie bei ihren sonstigen Besuchen in London.
Das Haus der Potters war riesig. Es war eine richtige Villa, nicht weit entfernt vom Zentrum von London und ragte über das große Grundstück heraus wie ein kleiner Palast. Es verschlug Lily fast den Atem. Sie hatte ja gewußt, daß James nicht gerade arme Eltern hatte, aber das war doch mehr als sie erwartet hatte.
Der schwarze Wagen hielt vor der großen Eingangstür aus Eiche und sofort wurde die Tür aufgestoßen. Ein grinsender James sprang die Treppe hinunter, um ihr die Autotür zu öffnen. Lily stieg aus und sah sich immer noch staunend um.
„Wow“, war das einzige, was sie schließlich rausbrachte. James’ Grinsen wurde noch ein wenig breiter und er nahm Lily in den Arm.
„Herzlich Willkommen, Lily! Ich bin so froh, daß du ja gesagt hast.“ Lily erwiderte die Umarmung zaghaft, immer noch zu verblüfft, um großartig was zu sagen. James nahm ihre Hand und zog sie auf das riesige Haus zu. In der Tür standen inzwischen James Eltern und lächelten den beiden Kindern entgegen. James’ Vater sah aus wie eine dreißig Jahre ältere Ausgabe von James selbst. Das schwarze Haar, das schon deutlich ergraute, war dick und widerspenstig und stand wild um seinen Kopf herum ab. Die Augen waren tiefblau und ein unergründliches Glitzern lag in ihnen, als hätte auch James’ Vater in jeder wachen Sekunde nichts anderes als Dummheiten im Kopf, genau wie sein Sohn.
James Mutter dagegen machte einen sehr zarten, sanften Eindruck. Sie hatte dunkelbraunes Haar, in das sich auch schon langsam die ersten grauen Haare einschlichen, und sanfte braune Augen. Ihr Gesicht wirkte noch sehr jugendlich, aber Lily wußte, daß James’ Eltern ein ganzes Stück älter waren als ihre eigenen.
„Mum! Dad! Darf ich euch Lily vorstellen?“ Lily streckte den beiden ihre Hand entgegen und versuchte, möglichst wenig nervös auszusehen, als sie lächelte. James’ Vater ergriff ihre Hand und schüttelte sie, ein sehr jungenhaftes Grinsen zog sich über sein Gesicht und er war von seinem Sohn wirklich fast nicht mehr zu unterscheiden.
„Freut mich sehr, daß du kommen konntest. Camille und ich waren sehr gespannt, wie wohl das Mädchen sein würde, von dem er immer so viel erzählt.“ Lily wurde ein wenig rot.
„Dad!“ rief James empört darüber, daß sein Vater hier einfach alles ausplauderte.
„Was?“ fragte sein Vater möglichst unschuldig und hob die Schultern. „Da ist nichts Schlimmes dran, Sohn.“ James biß sich auf die Zunge. Natürlich war da nichts Schlimmes dran, wenn das Mädchen nicht gerade beschlossen hätte, eine unbestimmte Zeit seines Lebens mit Severus Snape an der Seite zu verbringen.
James wußte gar nicht, warum er es sich überhaupt antat, aber er hatte Lily unbedingt wiedersehen wollen und auch mal eine Weile ohne Severus in der Nähe mit ihr zusammen sein wollen. Er wußte nicht, welche Hoffnungen er sich eigentlich machte, was er sich davon versprach. Vielleicht gar nichts. Vielleicht sehr viel. Er war seinem Bauchgefühl einfach gefolgt, und das hatte ihm gesagt, daß er sie sehen mußte. Und sie hatte schließlich eingewilligt, also wollte sie ihn ja scheinbar auch gerne sehen.
„Komm, ich zeig dir das Haus, bevor mein Vater noch peinlicher wird“, versuchte James die Situation für ihn zu retten und griff wieder nach Lilys Hand. Sie folgte ihm in das riesige Haus und sah sich mit immer größer werdenden Augen um, je weiter sie in das Innere des Hauses vordrangen.
„Sirius wird nachher übrigens auch mal vorbeikommen. Er wohnt hier ganz in der Nähe. - Ich wollte auch Remus einladen, aber seine Eltern wollten es nicht erlauben.“
Lily hob überrascht die Augenbrauen. „Warum nicht? Ihr seid doch die besten Freunde.“
James zuckte die Schultern. Zwar kannte er den Grund sehr genau, aber er konnte Lily nichts davon erzählen. Das mußte Remus selbst tun, wenn er es an der Zeit hielt. „Vielleicht haben sie Angst, ich könnte ihren Sohn zu Dummheiten anstiften.“
„Na ja, weit hergeholt wäre das ja weiß Gott nicht!“ konterte Lily und streckte James die Zunge raus.
Als Lily an diesem Abend im Bett lag, konnte sie trotz aller Müdigkeit nicht schlafen. Dieser erste Tag bei James war so unglaublich aufregend gewesen und die Eindrücke des gesamten Tages stürzten noch immer auf sie herein.
Sie fühlte sich ziemlich glücklich. Was Severus wohl gerade tat? Er hatte sich auf ihren letzten Brief noch immer nicht gemeldet und sie ahnte schon, daß es etwas damit zu tun hatte, daß sie jetzt hier war. Vermutlich wäre es besser gewesen, wenn sie sich gegen diesen Besuch bei James entschieden hätte, denn sie konnte sich nur zu gut vorstellen, wie Severus sich jetzt fühlte. Schließlich wünschte er sich schon lange nichts sehnlicher, als sie seiner Familie einfach so vorstellen zu können, wie James es heute getan hatte.
Lily drehte sich auf die andere Seite und starrte aus dem Fenster hinaus in den klaren Sternenhimmel. Etwas fehlte hier und sie wußte auch ganz genau, was es war. Wenn im Zimmer am Ende des Ganges nicht James, sondern Severus schlafen würde, dann wäre dieses Idyll perfekt gewesen. Sie wollte beides. Den Jungen, dem ihr Herz gehörte und eine liebevolle Familie. Das hier war zwar schön, reichte aber nicht, um sie wirklich glücklich zu machen, denn James, so nett er auch war, war nicht die Wahl ihres Herzens und würde es auch nie sein, was auch geschah.
Severus lag ebenfalls wach in seinem Bett und konnte den Wind um das Dach des Hauses pfeifen hören. Seine Lily war jetzt bei James. Wahrscheinlich hatte sie einen so aufregenden Tag hinter sich, daß sie wie ein Stein schlief und nicht einen Gedanken an ihn verschwendet hatte. Aber konnte man ihr das übel nehmen? Schließlich sollte sie ja glücklich sein, das wünschte auch er sich mehr als alles andere für sie.
Warum war er dann nur so verdammt eifersüchtig? Warum nagte dieses Gefühl an ihm, daß er das Gefühl hatte, es würde ihn in Rekordzeit auffressen?
Er fühlte Aggressionen in sich, die er bisher nur von sich kannte, wenn Lucius in der Nähe war. Er wollte sich irgendwie abreagieren und konnte doch nichts weiter tun, als hier in seinem Bett zu liegen und seine Gefühle brodeln zu lassen.
Er schlug die Decke zurück und schwang die Beine über die Bettkante. Seine Füße berührten den eiskalten Steinboden seines Zimmers, doch er spürte die Kälte gar nicht. Er wanderte hinüber zu seinem Fenster und starrte auf die öde Landschaft hinaus, die sich um das Anwesen der Snapes ausbreitete.
Alles hätte er darum gegeben, wenn er seine Familie einfach hätte eintauschen können. Oder besser noch, wenn er gar keine Familie mehr gehabt hätte. Selbst dann wäre er noch so viel besser dran gewesen als jetzt. Severus schämte sich ein wenig für diese Gedanken, aber trotzdem wurde er sie nicht los. Sie formten sich sogar noch genauer und nahmen langsam ein konkretes Bild an. Von einem glücklichen Severus, der ohne seine Familie, aber trotzdem mit viel Liebe und Fröhlichkeit lebte. Ein Severus, der seiner Lily alles bieten konnte, was sie sich wünschte, denn die störende Familie war aus dem Weg geräumt.
Severus wußte, daß das alles nur ein Traum bleiben mußte, aber es war ein schöner Traum und ihn zu träumen, wenigstens noch ein kurzes Weilchen, konnte nicht schaden. Vielleicht ließ es ihn ruhiger werden.
Severus spürte, wie etwas warmes über seine Wange lief und von seinem Kinn auf den Boden tropfte. Es gab keinen Grund, die Tränen fort zu wischen. Er war allein, niemand da, der seinen Kummer und seinen Schmerz nicht sehen durfte, oder vor dem er sich schämen mußte. Also weinte er und ließ seinem Kummer endlich freien Lauf.
Er spürte, wie befreiend das war, auch wenn es seine Probleme nicht löste. Das ganze Gefühlschaos, das sich in ihm aufgestaut hatte, bahnte sich endlich seinen Weg nach draußen und Severus hätte nie gedacht, daß er zu einer solchen Menge Tränen fähig war.
Am letzten Tag ihres Aufenthaltes bei den Potters kam Persephone endlich mit einer Nachricht von Severus. Lily war erleichtert, denn so langsam hatte sie sich ernsthafte Sorgen gemacht, daß Severus vielleicht doch böse auf sie war.
Liebe Lily,
ich hoffe, du hattest viel Spaß bei James. Ich hab mich bisher nicht gemeldet, weil ich dir erst wieder schreiben wollte, wenn ich endlich eine konkrete Antwort für dich habe.
Ich werde dieses Jahr ohne meine Eltern in der Winkelgasse sein. Wenn du dich mit mir treffen willst, ich bin am 26. August dort.
Mutter und Vater sind an diesem Tag bei Freunden in London eingeladen und waren deshalb nicht so abgeneigt wie sonst, als ich vorgeschlagen hab, meine Bücher alleine zu kaufen.
Schick mir Persephone mit deiner Antwort vorbei. Ich warte darauf.
In Liebe
Severus
Lily faltete das Pergament wieder zusammen und strahlte über das ganze Gesicht, als sie zur Feder griff und ihre Antwort auf ein frisches Stück Pergament kritzelte.
Lieber Severus,
ich bin so froh, endlich wieder von dir zu hören. Natürlich möchte ich mich mit dir in der Winkelgasse treffen. Ich werde am 26. in London sein und dich dort im Tropfenden Kessel erwarten.
Es war ganz nett bei James, aber ich wäre doch lieber bei dir gewesen.
Alles Liebe
Lily
Persephone sah eher unwillig aus, als Lily den Brief in einen Umschlag steckte und ihn ihr geben wollte. Scheinbar hatte sie gehofft, sich jetzt einige Tage ausruhen zu können und war nicht wirklich gewillt schon wieder den weiten Weg zurück zu Severus zu fliegen. Lily kraulte sie zärtlich am Hals und redete ihr so lange gut zu, bis Persephone schließlich ein wenig widerwillig gurrte, den Brief nahm und mit zwei gewaltigen Flügelschlägen zum Fenster hinaus geflogen war.
Lily sah ihr ein Weilchen nach und fuhr dann damit fort, ihre Sachen für die Heimreise zusammen zu packen. Ihre Laune war plötzlich blendend und die letzten drei Ferienwochen schienen ihr nun nicht mehr so ewig lang zu sein. James würde sie in einer Woche besuchen und irgendwann in der nächsten Woche würde auch Petunia wieder aus ihren Feriencamp nach Hause kommen. Gut, das war vielleicht eine eher weniger gute Nachricht, aber Lily konnte sich nicht helfen, sie freute sich darauf, wenn ihre Schwester erfuhr, daß ihre abnormale kleine Hexenschwester einen Freund aus der Schule eingeladen hatte. Sie würde sicher kochen vor Wut.
Nach dem Mittagessen stand der schwarze Wagen wieder vor dem Anwesen der Potters und Lily verabschiedete sich von James und seiner Familie. Auch Sirius war an diesem Nachmittag extra noch einmal gekommen, um Lily auf Wiedersehen zu sagen. Sie hatten zu dritt sehr viel Spaß gehabt, auch wenn Sirius noch zu deutlich die Spannung spürte, die von James Besitz ergriff, wenn er mit Lily in einem Raum war.
Der Wagen fuhr die Auffahrt hinunter und wenige Minuten später konnte man ihm vom Eingang des Hauses aus nicht mehr sehen. Er war ins Straßengewühl Londons abgetaucht. Camille Potter nahm ihren Sohn in den Arm.
„Jetzt kannst du doch endlich rausrücken, Sohnemann. Ist das deine kleine Freundin?“ James versteifte sich ein wenig, doch er wollte seiner Mutter keine barsche Antwort geben, sondern befreite sich nur aus ihrer Umarmung, schüttelte den Kopf und lief zurück ins Haus. Camille sah ihrem Sohn erstaunt nach.
„Da haben Sie in ein Wespennest gestochen, Mrs. Potter“, sagte Sirius leise und sah seinem Freund nach.
„Was hab ich denn nur getan?“ fragte James’ Mutter und sah den besten Freund ihres Sohnes entgeistert an.
„Lily ist die Freundin von Severus Snape“, entgegnete Sirius schlicht. Sowohl Camille als auch Charles Potter, der bis dahin geschwiegen hatte, sahen aus, als hätte sie gerade der Schlag getroffen. Charles ballte sogar die Hand an seiner Seite zur Faust.
„Ausgerechnet der junge Snape?! Das ist doch nicht möglich. Ich meine, die Kleine ist doch...“ Sirius nickte
„Ihre Eltern sind Muggel. - Severus Snape... nun ja, er ist nicht wie seine Eltern. Keinerlei Ähnlichkeit. Es ist gerade so, als wäre die Erziehung seiner Eltern geradewegs an ihm abgeperlt. Er tut alles für Lily und würde es nie zulassen, daß man sie beleidigt oder gar verletzt. - James und ich haben sogar schon einmal einen Streit zwischen Severus und Lucius Malfoy beobachtet, den die beiden wegen Lily hatten. Severus hat... na ja, sagen wir einfach mal, Lucius traut sich sicherlich nie wieder, Lily ein Schlammblut zu nennen.“ Camille und Charles schienen noch immer sprachlos, doch sie wußten, daß Sirius ihnen niemals ein solches Märchen auftischen würde.
„Und da Ihr Sohn vom ersten Tag an sehr von Lily angetan war und es wohl auch gerne sähe, wenn sie seine Freundin wäre, war das ein Wespennest, Mrs. Potter.“ Camille nickte und plötzlich taten ihr ihre harmlosen Worte sehr leid. Sie hatte ihren Sohn natürlich niemals verletzen wollen und ihre Worte waren eher unbedacht gewesen, eine natürlich Mutterreaktion eben.
„Wir lassen ihn wohl besser in Ruhe. Was meinst du, Sirius?“ Sirius hob die Schultern.
„Ich glaube, es geht ihm ganz gut. Seine Beziehung zu Lily hat sich normalisiert und vielleicht lernt er ja eines Tages, mit der Freundschaft zu ihr glücklich zu werden. Wenn ich ehrlich sein soll, ich glaube nicht, daß Lily und er eine glückliche Zukunft vor sich hätten. Es ist nur so ein Gefühl, aber meistens kann ich mich auf meine Gefühle verlassen.“
In den kommenden zwanzig Jahren sollte Sirius Black, der beste Freund eines jungen Zauberers namens James Potter noch oft an diesen Tag und seine Worte zurück denken und sich noch oft wünschen, er hätte damals schon gewußt, was in den Jahren darauf passieren würde.
So manch anderes wäre mit Sicherheit anders verlaufen.
Petunia fiel vor Schreck der Löffel aus der Hand und mitten in ihren Suppenteller. Von oben bis unten mit Suppe bekleckert starrte sie ihre Eltern an.
„Das ist nicht euer Ernst!“ schrie sie fast schon hysterisch. Peter Evans setzte einen sehr strengen Blick auf.
„Petunia, reiß dich bitte zusammen. Natürlich meinen wir das ernst. Und du wirst dich benehmen, so lange wir unseren Gast im Haus haben.“ Petunia kniff die Lippen zusammen, bis sie nur noch einen schmalen weißen Strich in ihrem Gesicht bildeten und starrte wütend ihre Mutter und ihren Vater an. Lily, die neben ihrer Schwester saß, mußte hart kämpfen, um nicht zu grinsen. Sie hatte gewußt, wenn Petunia von James’ Besuch bei den Evans erfuhr, würde es einen Weltuntergang geben, aber sie hatte nie zu hoffen gewagt, daß die Schwester ein solches Grauen packte, wie sie es jetzt auf ihrem Gesicht sah.
Die Eltern hatten es so lange wie möglich vor ihrer älteren Tochter geheim gehalten, aber da James am nächsten Tag schon bei ihnen eintreffen würde, konnten sie die Nachricht über seinen Besuch nicht länger zurückhalten.
„Wie konntet ihr nur noch so eine Mißgeburt in dieses Haus einladen?!“ Petunias Stimme hatte einen sehr schrillen Ton angenommen und Lily kniff die Augen zusammen. Sie bekam Kopfschmerzen von diesem Geschrei.
„Petunia!“ Jane Evans schlug wütend mit der Hand auf den Tisch. Sogar Petunia zuckte erschrocken zusammen.
„Laß diese Unverschämtheiten sein, ich warne dich. Du wirst für den Rest der Ferien keinen Schritt mehr vor die Tür setzen, wenn du dich nicht benimmst. Und Vernon darf auch nicht herkommen!“ Petunia wurde blaß. Da sie inzwischen Vernon Dursley für den einzig normalen Menschen in dieser verrückten Stadt hielt, konnte man ihr mit Besuchsverbot praktisch alles aufzwingen. Mit einem furchterregenden Ausdruck auf dem Gesicht, griff Petunia nach ihrem Löffel und schaufelte sich die Suppe in den Mund. Sie kochte so sehr vor Wut, sie konnte noch nicht einmal sagen, was sie da eigentlich aß. Es war auch egal. Ab morgen würde dieses Haus noch verrückter werden als es ohnehin schon war und sie saß mittendrin gefangen.
Lily lächelte. Noch vor wenigen Jahren hatte sie nie geglaubt, mal in so einen Konflikt mit ihrer Schwester zu kommen, doch in den letzten beiden Jahren hatte sie Petunia hassen gelernt. Sie wußte, es gab nur Petunia oder sie, beide zusammen im selben Haus war nicht mehr auf einen Nenner zu bringen. Und diesmal hatte sie gesiegt.
James war noch nie zuvor in seinem Leben in einem richtigen Muggelhaus gewesen. Jede Kleinigkeit der Einrichtung faszinierte ihn so sehr, daß Lily fast den ganzen ersten Tag brauchte, um ihm das gesamte Haus zu zeigen. James stellte Fragen über Fragen und Lily wunderte sich nicht wenig, wie viel Zeug es in einem Muggelhaushalt gab, von dem ein Zauberer noch nie etwas gehört hatte.
„Ich hab nächstes Jahr Muggelkunde belegt, ich glaube, die paar Tage bei dir werden mir einen großen Vorsprung vor den anderen bringen!“ rief James. Er hatte hochrote Wangen, wie ein Kind am Weihnachtsabend, und seine Augen leuchteten. Lily hingegen war fertig mit der Welt, als sie endlich mit ihren Eltern zusammen am Eßtisch saßen und zusammen zu Abend aßen. Zumindest sie wußte, was sie an diesem Tag getan hatte und sie würde schlafen wie ein Baby.
„Ich hoffe, ich habe das richtige für dich gekocht, James. Ich weiß leider nicht, was Zauberer gerne essen. Und Lily wollte mir ja auch nicht helfen“, sagte Jane mit einem vorwurfsvollen Blick in Richtung ihrer jüngeren Tochter.
„Keine Sorge, Mrs. Evans, genau das selbe, was Muggel auch essen.“ Er schlug sich die Hand vor den Mund und sah ein wenig beschämt aus.
„Entschuldigen Sie bitte, ich hoffe, ich habe Sie jetzt nicht beleidigt.“ Peter Evans winkte ab.
„Ach was. Ihr nennt uns Muggel, wir nennen euch Zauberer, ist doch nichts Schlimmes dran.“ Lily hörte, wie Petunia etwas in ihre Suppe nuschelte, doch ihre Eltern hatten es nicht gehört. Die Blicke der Schwestern trafen sich und Lily mußte Petunia wohl sehr drohend angesehen haben, denn sie senkte den Blick als erste wieder.
James entging dieser stumme Kampf der Schwestern nicht. Er wußte zwar bei weitem nicht so viel darüber wie Severus, mit dem sie über die ganze Sache wohl schon Stunden gesprochen hatte, aber er wußte doch immerhin so viel, daß zwischen den beiden Schwestern schon seit zwei Jahren nur noch eine Haßbeziehung bestand.
„Du mußt mir unbedingt sagen, wenn du einen besonderen Wunsch hast, James. Du bist der Gast und hast somit jeden Wunsch frei.“ Er lächelte Jane Evans mit seinem unwiderstehlichen Lächeln an. Obwohl der Junge erst dreizehn war, faszinierte Jane dieses Lächeln und obwohl sie Severus bisher noch nie gesehen hatte, konnte sie nicht verstehen, wie jemand anderes das Herz ihrer kleinen Lily hatte erobern können als James.
Aber vermutlich hätte sie es sogar noch weniger verstanden, wenn sie Severus kennen gelernt hätte.
An diesem Abend half Lily James bei seinen Aufgaben für Zauberkunst. Zauberkunst bei Professor Flitwick war Lilys stärkstes Fach und ihre besondere Begabung dabei lag - was allerdings keiner außer Severus wußte - in Illusionszaubern. Keiner in der ganzen Schule beherrschte diesen Zauber so gut wie Lily.
Natürlich war James als einer der besten Schüler des Jahrgangs nicht schlecht in Zauberkunst, aber er ließ sich trotzdem gerne von ihr helfen, genoß ihre Nähe und den Klang ihrer Stimme, wenn sie ihm die einzelnen Sprüche und ihre Wirkungen erklärte.
Die Worte seiner Mutter bei Lilys Abreise vor einigen Tagen, hatte alte Wunden wieder aufgerissen, die zwar nie verheilt waren, aber auch nicht mehr geblutet hatten. James wollte Severus nicht um seine Beziehung zu Lily beneiden, aber seit seine Mutter ihn gefragt hatte, ob Lily seine Freundin war, spürte er wieder das nagende Gefühl der Eifersucht auf Severus, der das hatte, was er um alles in der Welt haben wollte.
James wußte, daß seine einzige Hoffnung, nicht doch eines Tages wieder etwas Dummes zu tun, darin bestand, so schnell wie möglich selbst die Frau seines Herzens zu finden. Wenn Sirius Recht hatte, und das hatte er ja eigentlich immer, dann gab es sie irgendwo da draußen, er mußte sie nur finden.
Er mußte nur endlich damit aufhören, sich einzureden, daß diese Frau hier neben ihm saß. In Hogwarts war es leichter, sich von Lily abzulenken. Dort hatte er Quidditch und konnte sich jeden Tag stundenlang damit beschäftigen. - Oder er arbeitete mit Sirius gemeinsam an der Animagie. Beides war in den Ferien, außerhalb des Schulgeländes nicht möglich. Wenn er auch nur auf die Idee kam, zu zaubern oder im Garten auf seinen Besen zu steigen, würde ihm schon der Brief mit der Verwarnung vom Ministerium für Zauberei ins Haus flattern.
Das Zauberverbot für minderjährige Zauberer außerhalb ihrer Schule gehörte zu den Muggel-Schutzgesetzen des Zaubereiministeriums, aber für James waren sie mehr eine Schikane als Schutz für irgendwelche Muggel. Er wollte doch niemandem etwas tun, sondern sich nur ablenken.
„Du konzentrierst dich nicht“, sagte Lily vorwurfsvoll, als sie ihn das dritte Mal direkt angesprochen hatte, aber keine Antwort bekam. James schreckte wie aus einem tiefen Tagtraum auf und wurde ein wenig rot.
„Verzeih, ich war ganz in Gedanken“, antwortete er verlegen und wäre am liebsten im Erdboden versunken.
„Das hab ich gemerkt. - Wenn ich dir mit den Aufgaben helfen soll, mußt du mir schon zuhören, sonst hast du doch nichts davon.“ James hätte sich in diesem Moment ohrfeigen können.
Lily beobachtete James aus den Augenwinkeln, als sie ihm weiter die Aufgaben erklärte. Ihr war schon die ganze Zeit über aufgefallen, daß James merkwürdig nachdenklich war und scheinbar schon die ganze Zeit über grübelte. Sie hätte nur zu gerne gewußt, warum. Die ganze Woche, die sie bei ihm verbracht hatte, war er nicht ein einziges Mal in ihrer Gegenwart abwesend oder trübsinnig gewesen. Irgendwas mußte doch wieder passiert sein, seit sie vor einer Woche abgereist war.
Fragen wollte sie allerdings auch nicht. Sie hatte so das Gefühl, daß es um etwas ging, das er selbst ansprechen würde, wenn er drüber reden wollte.
Lily seufzte innerlich. Warum waren Jungs nur so verflucht schwierig? Durch Severus’ Mauer zu kommen war mehr als Knochenarbeit und jetzt fing auch James mit so etwas an.
„Möchtest du lieber aufhören für heute?“ fragte sie ihn. James schien einen Moment darüber nachzudenken und nickte dann.
„Machen wir morgen weiter. Ich kann mich heute wohl nicht mehr richtig drauf konzentrieren. - Wie wär’s, wir spielen noch eine Runde Koboldstein?“ Lily nickte langsam. Wenn es James aufmunterte, dann spielten sie eben.
James gab sich Mühe, Lily seine Nachdenklichkeit und Grübelei während seines restlichen Aufenthaltes nicht mehr spüren zu lassen. Er wollte erstens nicht, daß sie sich Sorgen machte und zweitens sollte sie um Gottes Willen keine Fragen stellen. Er hatte nicht den leisesten Schimmer, wie er ihr antworten sollte, ohne sein Versprechen zu brechen, sich nicht mehr in die Beziehung zu Severus einzumischen.
Es war zwar eine andere Art der Einmischung, wenn er ihr jetzt sagte, daß er sie aus seinen Gedanken einfach nicht vertreiben konnte, und sie immer noch die meiste Zeit der Inhalt seines Lebens war, aber er wollte das Risiko einfach nicht eingehen, daß sie vielleicht daraus schließen würde, daß Abstand das beste für ihn war. Die Monate des Schweigens hatten zumindest ihm gezeigt, daß Abstand keine Hilfe war. James konnte sich nicht erinnern, daß er sich schon einmal vor etwas mehr gefürchtet hatte als vor diesem Schweigen. Jeden Moment, den er mit Lily verbrachte, sah er überschattet von diesem Schweigen, das wir ein drohendes Fallbeil über ihm hing.
Vermutlich würde er eines Tages verrückt werden, wenn das so weiterging.
Einen Tag vor James Abreise erreichte sie die neue Liste mit Büchern und anderen Sachen, die sie für das kommende dritte Schuljahr brauchen würden. Während Lily die Liste sorgfältig durchging, starrte James durch sie hindurch, als wollte er mit seinem Blick ein Loch hineinbrennen. Schließlich faßte er aber doch Mut und räusperte sich.
„Ähm, Lily, möchtest du vielleicht dieses Jahr mit mir zusammen in die Winkelgasse gehen?“ Lily blickte überrascht auf und ließ den Stift sinken, mit dem sie sich Notizen auf einen großen Einkaufszettel gemacht hatte. Sie schien im ersten Moment nicht so recht zu wissen, was sie sagen sollte.
„Ich habe natürlich nichts dagegen, aber... ich bin schon mit Severus verabredet. Wir treffen uns am sechsundzwanzigsten August in der Winkelgasse. Wenn du mit uns zusammen gehen möchtest....“ Sie sprach den Satz nicht zu Ende, denn James hatte schon den Kopf geschüttelt. Er versuchte, möglichst unbekümmert zu lächeln.
„Nein, ist schon gut. Ich glaube nicht, daß Severus das recht wäre. Wir sind immer noch alles andere als Freunde, darum würden wir uns wohl beide sehr unwohl fühlen. Geht ihr beiden alleine, wie ihr es geplant habt. Ich werde mich ohnehin mit Sirius, Remus und Peter treffen. Ist also nicht schlimm.“
Lily hörte schon aus seiner Stimme heraus, daß er enttäuschter war, als er zugeben wollte, aber er hatte wohl recht, Severus würde alles andere als begeistert sein, wenn er den ganzen Tag mit James und seinen Freunden zubringen mußte. Und auch ihr war es eigentlich recht, denn sie hatte jetzt schon insgesamt zwei Wochen ihrer Ferien mit James verbracht, einen Teil auch mit Sirius, sie freute sich auf Severus und wollte ihn wenigstens ein paar Stunden für sich allein haben ohne irgendwelche Störenfriede.
Lilys Familie machte an diesem Abend ein richtiges Festessen, um James einen gebührenden Abschied zu bereiten und nachdem Petunia geschworen hatte, daß er sich benehmen würde, durfte sie zu diesem Abend sogar Vernon einladen.
Vernon schien alles andere als begeistert darüber, daß seine arme Petunia ihr Heim eine ganze Woche lang mit noch so einem abartigen Verrückten hatte teilen müssen und er musterte James den ganzen Abend über kritisch. Lily fragte sich unentwegt, was Severus wohl getan hätte, wenn er an James' Stelle gewesen wäre.
James nahm das alles sehr ruhig hin, als wäre es das normalste von der Welt und zeigte keinerlei Reaktion auf Vernon, auch wenn er natürlich wußte und merkte, was Vernon von ihm dachte. Es hatte jedoch keinen Sinn, hier Streit mit einem sturen Muggel anzufangen. Vernon schien in seinen Augen jemand zu sein, der Probleme im Notfall mit Gewalt löste und da es sich bei diesem Muggel um einen handelte, der nicht nur drei Jahre älter und über einen Kopf größer als James, sondern auch noch stämmig wie ein Preisbulle war, war das nichts, was er gerne auf sich nehmen wollte. Vernon dagegen schien vor Wut zu kochen, weil James ihn den ganzen Abend über praktisch ignorierte und ihn im nächsten Moment wieder wie nebenbei ins Gespräch aufnahm als sei er ein alter Freund.
Die Gelassenheit dieser abartigen Mißgeburt machte ihn rasend und wenn er seiner Petunia nicht dieses dumme Versprechen hätte geben müssen... Vernon knirschte an diesem Abend so viel mit den Zähnen, daß es sich anfühlte als hätte er sie bis auf das Mark abgeschliffen.
Als Lily, James, Petunia und Vernon am Ende des Abends aber schließlich vom Tisch aufstanden und nach oben in den ersten Stock gingen, hielten sich die beiden Jungs nicht mehr länger zurück. Die Eltern waren in der Küche beschäftigt und bekamen so nicht mit, wie James und Vernon im ersten Stock des Hauses mehr oder weniger heftig aneinander gerieten.
Eigentlich hatte es so ausgesehen, als würden Lily und James es unbeschadet bis in Lilys Zimmer schaffen, doch bevor Lily ihre Tür schließen konnte, hatte Vernon seinen massigen Fuß in den Weg gestellt.
„Ich hätte gerne noch ein Wörtchen mit dir gewechselt, du Witzfigur“, schnarrte er James entgegen, der sich gerade auf sein Bett gesetzt hatte. James sah Vernon unter seinem wirren Pony hervor an und sein Blick verhieß nichts Gutes. „Ich glaube nicht, daß wir uns was zu sagen haben, Muggel.“
Vernon riß die Zimmertür auf und stürzte auf James zu. Er packte ihn am Kragen und zog ihn vom Bett hoch. James starrte ihn immer noch hinter seinen Brillengläsern hervor an, wehrte sich aber nicht. In seinen Augen glitzerte es.
„Wie hast du mich genannt, Mißgeburt?“ fauchte Vernon und ein sachter Spuckeregen prasselte auf James nieder. Langsam hob er die Hand und wischte sich mit dem Ärmel seines Hemdes über die Wange.
„Muggel“, entgegnete er schlicht. „Hast du damit vielleicht ein Problem?“
Vernon griff ein wenig fester zu. „Allerdings hab ich ein Problem damit, wenn man mich beschimpft!“ James grinste, aber sein Grinsen war in diesem Moment so kalt, wie Lily es bisher nur bei Severus gesehen hatte.
„Vernon, laß ihn sofort los!“ rief Lily und versuchte, Vernon von James fortzuziehen. Doch so zierlich und klein wie sie war, hatte sie gegen den viel älteren und schwereren Jungen natürlich nicht den Hauch einer Chance.
„Du solltest mich besser loslassen, sonst passiert dir eventuell noch was, Vernon Dursley. - Und vielleicht läßt du dir dann mal von jemandem, der weniger dumm ist als du erklären, was ein Muggel ist, damit du verstehst, daß du der einzige bist, der hier die Leute grundlos beschimpft.“ Vernon starrte James voller Haß an, doch plötzlich wandelte sich der Ausdruck auf seinem Gesicht in Schrecken um. Er starrte auf James rechte Hand, in der dieser seinen Zauberstab hielt. Petunia schrie leise auf.
Da Lily es ihrer Schwester nie erzählt hatte, wußten weder sie noch Vernon, daß James außerhalb von Hogwarts gar nicht zaubern durfte. Nicht zum ersten Mal erwies sich diese Unwissenheit ihrer Schwester als sehr hilfreich.
„Mach ja keine Dummheiten, Mißgeburt!“ rief Vernon erschrocken und schleuderte James mit aller Kraft von sich fort. James flog in hohem Bogen durch Lilys Zimmer und schlug direkt neben ihrem Schreibtisch auf. Mit dem Kopf schlug er gegen das Tischbein und blieb einen Moment regungslos liegen.
Lily schrie auf und Petunia zerrte Vernon aus Lilys Zimmer. Vernon schien selbst mehr als erschrocken über das, was er gerade getan hatte. Undeutliche Worte vor sich hinbrabbelnd ließ er sich von Petunia in ihr Zimmer schieben.
Lily stürzte an James Seite und half ihm hinüber zu seinem Bett. Er war mit der Stirn gegen das Tischbein geschlagen, denn über seinem rechten Auge klaffte ein Riß, aus dem es heftig blutete. Nachdem sie ihn auf seinem Bett abgesetzt hatte, rannte Lily in das kleine Badezimmer im ersten Stock und kam mit dem Erste Hilfe Kasten zurück.
„Was ist das?“ fragte James benommen. Lily nahm ein Fläschchen mit Jod und einen steril verpackten Wattepad aus dem Kasten.
„Das benutzen Muggel, um kleine Verletzungen zu verarzten. Wir können solche Wunden nicht einfach wieder heilen lassen. - Das brennt jetzt ein bißchen, beiß die Zähne zusammen.“ Sie tupfte mit dem getränkten Pad auf die Wunde und James zuckte heftig zurück, als ihn eine heiße Schmerzwelle durchfuhr.
„Au! Was ist das für ein Teufelszeug!“
Lily lächelte. „Das ist Jod, damit desinfiziere ich die Wunde, damit sie sich nicht entzündet.“
„Zu spät, es brennt schon wie Feuer!“ Er wollte mit der Hand seine Stirn betasten, doch Lily hielt ihn zurück.
„Sei nicht albern und halt still. Dein Kopf brennt nicht. - Wenn Schmutz in die Wunde kommt, kann sich das Gewebe drum herum infizieren und heilt nicht. Das nennt man entzünden. - Muggel müssen sich eben irgendwie behelfen, wenn sie überleben wollen.“ Sie tupfte weiter den Riß auf seiner Stirn ab und langsam spürte James den Schmerz nicht mehr so heftig. Als sie ihm ein Pflaster auf die Wunde klebte sah er ihr in die Augen. „Bist du jetzt sauer auf mich?“
Lily begutachtete ihre Arbeit und erwiderte dann seinen Blick. „Warum sollte ich?“
„Weil ich schon wieder Streit angefangen hab.“
Sie winkte ab. „Du konntest nichts dafür. Vernon ist ein riesiger Trottel und ich hab ohnehin die Luft angehalten, daß er sich zurück hält. Aber scheinbar kann man das von ihm nicht erwarten.
Es tut mir nur leid, daß du es abkriegen mußtest. Ich hätte nie gedacht, daß er in der Lage sein würde, einen viel jüngeren Jungen zu verletzen, ob er nun ein Zauberer ist oder nicht.“
„Ich war doch selbst schuld. Ich hab ihn mit dem Zauberstab bedroht.“
Lily schüttelte den Kopf. „Du warst sehr tapfer. - Vielleicht legst du dich jetzt besser hin. Morgen hast du wahrscheinlich ziemliche Kopfschmerzen.“ Lily verließ den Raum und James zog sich um fürs Bett. Es dauerte noch fast eine halbe Stunde bis Lily zurück kam und obwohl sie nichts sagte, wußte er, daß sie bei Petunia und Vernon gewesen war. Er hatte Stimmen aus dem Nebenzimmer gehört und eine davon war eindeutig Lilys gewesen.