Lily saß im Tropfenden Kessel über einem Becher Kürbissaft und wartete auf Severus. Er hatte sich schon ein wenig verspätet und Lily fürchtete schon, daß er doch nicht kommen konnte.
Ihre Eltern waren zu Freunden in London gefahren, um diese mal wieder zu besuchen und würden sie erst am Abend wieder hier abholen. Wenn Severus also nicht kam, würde ihr ein ziemlicher langer Tag allein in der Winkelgasse bevorstehen.
„Wir holen dich heute Abend um sieben hier wieder ab, Severus.“
Lily widerstand dem Drang, sich in die Richtung umzudrehen, aus der die ölige Stimme von Barabas Snapes kam. Sie durfte Severus jetzt auf keinen Fall irgendeine Art der Aufmerksamkeit schenken, bis seine Eltern außer Sicht- und Hörweite waren.
„Ich werde wieder hier sein, Vater. Ich wünsche euch viel Spaß.“ Ohne ein weiteres Wort verließen Severus’ Eltern den Tropfenden Kessel wieder und wenige Minuten später, stand Severus neben ihr und grinste.
„Ich hab’s geschafft!“ Lily nickte und ihre Augen leuchteten, als sie Severus in die Arme fiel.
„Was wollen wir zuerst machen?“ fragte Severus Lily, als sie wenige Minuten später den Tropfenden Kessel verlassen hatten.
„Ich muß erst zu Gringotts und mein Geld umtauschen. Ich hab ja nur Muggelgeld dabei.“
„Alles klar.“ Severus nahm ihre Hand und gemeinsam steuerten sie auf die Zaubererbank zu. Wenige Meter von ihnen entfernt standen James und seine Freunde vor dem Schaufenster des Ladens für Quidditchzubehör und bestaunten die neuesten Rennbesen. Zumindest Sirius, Remus und Peter taten das. James hatte Lily und Severus gesehen und blickte ihren Spiegelbildern im Schaufenster ein wenig wehmütig nach. Was er nicht alles darum gegeben hätte, an Severus’ Stelle sein zu dürfen.
Lily schüttelte sich, als sie das riesige weiße Bankgebäude wieder verließen und auf die sonnige Winkelgasse hinaustraten.
„Ich krieg da drin immer eine Gänsehaut! Diese Kobolde sind einfach zu merkwürdig!“ Tatsächlich standen die feinen Härchen auf ihrem Arm ein wenig ab. Severus lachte und drückte ihre Hand.
„Die sind einfach so und denken sich gar nichts dabei, du brauchst keine Angst vor ihnen haben. Kobolde sind einfach nicht die freundlichsten Geschöpfe vom Standpunkt eines Menschen aus betrachtet.“ Sie gingen weiter, bis sie vor der Tür von Flourish & Blotts, dem Laden für Zauberbücher aller Art, standen. Die kleine Glocke über der Tür machte einen riesigen Lärm für ihre Größe als sie den Laden betraten und sofort war einer der Verkäufer bei ihnen.
„Hallo ihr beiden. Hogwarts...“, er betrachtete sie etwas genauer, „drittes Schuljahr, richtig?“ Er grinste.
„Richtig“, antwortete Lily und lächelte ebenfalls. Sie zog ihre Liste mit den Büchern hervor.
„Was kann ich für euch tun?“ fragte der Verkäufer beflissentlich und sah die beiden an. Lily faltete die Liste auseinander.
„Also, ich brauche Entnebelung der Zukunft von Kassandra Watlatschki, Nummerologie und Grammatica, Verwandlung: die Zwischenstufen und Das Lehrbuch der Zaubersprüche Band 3.“ Der Verkäufer nickte und kletterte sofort verschiedene Leitern zu den einzelnen Regalen hoch. Wenige Minuten später hatte Lily ihren ganzen Packen neue Bücher unterm Arm. Severus hatte ebenfalls seine Liste inzwischen aus der Tasche gezogen. Er bekam eigentlich die gleichen Bücher wie Lily, außer Entnebelung der Zukunft, da er statt Wahrsagen Pflege magischer Geschöpfe gewählt hatte.
„Und bitte noch einmal Magische Geschöpfe Band 1“, schloß er seine Bestellung ab.
Als sie den Laden verließen nahm Severus Lily ihre Bücher ab und murmelte einen Zauber. Die Bücher schwebten nun wie von unsichtbarer Hand getragen neben ihm her. Lily sah ihn überrascht an. „Aber das Zauberverbot...“
Severus machte eine wegwerfende Bewegung mit der Hand. „Gilt in der Winkelgasse nicht so wirklich. Hier gibt es keine Muggel und das Gesetz ist eins zum Schutz der Muggel. - Ich sehe auch noch keine Eule auf mich zufliegen, es ist wohl also alles in Ordnung.“ Er zwinkerte ihr zu und zog sie in Richtung Madam Malkins Anzüge für alle Gelegenheiten, wo er mal wieder neue Umhänge kaufen mußte.
Nachdem sie auch noch in der Magischen Menagerie gewesen waren, wo sie für Persephone und Goliath neue Eulenkekse kauften und ihre Zaubertrankzutaten in der Apotheke aufgefüllt hatten, war es schon Nachmittag geworden.
Sie setzten sich mit ihren Einkäufen in eines der vielen Cafés der Winkelgasse und bestellten sich einen eiskalten Kürbissaft und Eiscreme. Lily schloß die Augen und streckte ihr Gesicht in Richtung Sonne. Die hellen, warmen Strahlen kitzelten sie in der Nase und sie mußte niesen. Severus lachte. Er hatte den Kopf auf seine linke Hand gestützt und rührte mit seinem Strohhalm in seinem Kürbissaft herum.
„Manchmal könnte ich stundenlang nichts weiter tun, als dich einfach nur ansehen.“ Seine Stimme hatte einen ganz weichen Unterton angenommen, der Lily die Röte ins Gesicht steigen ließ. Sie konnte ihm nicht in die Augen sehen, darum starrte sie auf ihren Eisbecher, in dem die letzten Reste des Eises zu einer bräunlichen Soße zusammengeschmolzen waren. Severus lächelte über ihre Verlegenheit. Man mußte dieses Mädchen doch einfach lieben.
„An mir ist doch überhaupt nichts Besonderes“, wiegelte sie ab. Severus entgegnete nichts. Er ließ einfach nur seinen Blick über sie streifen und lächelte still vor sich hin. Natürlich war sie etwas Besonderes und das nicht nur, weil sie so hübsch war. Das ganze Besondere an ihr war ihr wundervolles Herz, mit dem sie so offen und liebevoll in die Welt blickte. Daß sie noch dazu die schönsten Augen der Welt und das wundervollste Haar hatte, daß er je gesehen hatte, war absolut nebensächlich. Ihr süßes Gesicht mit der kleinen Stupsnase und ein paar Sommersprossen waren eine nette Beigabe, aber nicht das, was zählte...
„Eines Tages wirst auch du sehen, daß es nichts gibt, was dir irgendwie gleicht, Lily. Du glaubst mir jetzt vielleicht noch nicht, aber irgendwann weißt du es. - Jeder Mensch ist auf seine Weise einzigartig und etwas Besonderes, aber es gibt nicht einen Menschen auf dieser ganzen Welt, der dir auch nur im Entferntesten nahe kommt. Darum bist du das wohl Außergewöhnlichste, was es auf diesem Erdball zu finden gibt.“ Ein solches Kompliment hatte Lily zuvor noch nie bekommen und sie war so verlegen wie in ihrem ganzen Leben noch nicht. Severus griff über den Tisch nach ihrer Hand und führte sie an seine Lippen.
„Darum warst auch du es, die es geschafft hat, aus mir einen liebenswerten Kerl zu machen.“ Er drückte ihr einen Kuß auf die Hand. Lily starrte ihn mehr als überrascht an.
„Aber Severus, du warst vorher schon genauso liebenswert wie jetzt. Du mußt es nur mehr zeigen, das ist das einzige, was ich dir vielleicht beibringen kann. Ich hab dich doch nicht verändert.“
Er schüttelte den Kopf. „Nicht verändert, nur total verzaubert.“ Lily wußte nicht, was sie dazu noch sagen sollte, also schwieg sie und lächelte Severus glücklich an.
Nicht zum ersten Mal für diesen Tag wünschte sich James, nicht auf die blöde Idee gekommen zu sein, ausgerechnet heute in die Winkelgasse zu kommen. Er hätte wissen sollen, daß er es nicht so einfach wegstecken würde, wie er es sich die ganze Zeit über eingeredet hatte.
Es war noch ein ganzes Stück hin bis sieben Uhr, darum gingen Lily und Severus gemeinsam zurück in den Tropfenden Kessel. Severus würde sich für den Rest seines Lebens an diesen Fehler erinnern können und wenn er auch nur die leiseste Ahnung gehabt hätte, was passieren würde, sobald sie beide durch die Tür traten, er hätte vermutlich gewartet, bis Lily mit ihren Eltern wieder zu Hause war, bevor er überhaupt die Schwelle des Tropfenden Kessels überschritten hätte.
Severus hielt Lily die Tür auf und lächelte sie an, als sie mit all ihren Einkäufen, die immer noch hinter ihr herschwebten den Raum betrat. Doch kaum hatte sie den Kopf von Severus abgewandt, hielt sie abrupt in der Bewegung inne und starrte erschrocken auf jemanden, der drohend vor ihr stand. Auch Severus erstarrte.
„Was hat das zu bedeuten, Severus?!“ donnerte die Stimme seines Vaters durch den gesamten Tropfenden Kessel. Jeder anwesende Zauberer und jede Hexe drehte ihnen den Kopf zu. Severus lief hochrot an. Die Sache war so wahnsinnig peinlich und er wußte, es war seinem Vater egal, daß die halbe Zaubererschaft von London mit anhörte, was er gleich sagen würde.
„Dieses Mädchen“ donnerte er weiter und deutete dabei mit dem Finger auf Lily, die immer blasser wurde, „sieht nicht gerade aus wie Lucius Malfoy!“ Er wandte ihr kurz seinen Blick zu und rümpfte die Nase. Severus ballte die Hand zur Faust.
„Sieht mir eher so aus, als wäre sie ein verdammtes kleines Schlammblut!“ Ein Raunen zog durch den Raum und der absolut letzte Rest von Farbe wich aus Lilys Gesicht. Sie fühlte sich, als würde sie jeden Moment einfach umkippen. In ihrem Kopf drehte sich alles und die Worte Barabas Snapes hallten in ihren Ohren wider.
„Vater! Ich...“
„Halt den Mund!“ brüllte Barabas und schlug seinem Sohn so heftig ins Gesicht, daß es ihn gegen den nächsten Tisch schleuderte. Das schwere Eichenholz krachte und Severus stöhnte leise auf vor Schmerz. Er wollte sich aufrappeln, sackte jedoch wieder zusammen und blieb benommen liegen. Lily wollte zu ihm laufen, doch Barabas stellte sich ihr in den Weg und starrte sie grimmig an.
Lily rechnete mit allem. Daß er auch sie gleich schlug. Daß sie vielleicht sogar so hart gegen irgend etwas fiel, daß sie nie wieder aufwachen würde. Sie schloß einen Moment die Augen und dann fühlte sie etwas, das sie überraschte. Sie hatte keine Angst davor.
Sie öffnete die Augen wieder und blickte Barabas Snape mit einem trotzigen Blick an.
„Sie Scheusal!“ schrie sie ihn an. Ihr Herz schlug in diesem Augenblick, als wollte es in ihrer Brust zerspringen, aber sie wollte tapfer sein und nicht zurückweichen. Sollte er doch tun, was er ohnehin tun würde, sie würde im trotzen.
„Du wagst es...!“ preßte er zornig hervor und hob schon wieder halb die Hand. Doch das Mädchen vor ihm, dieses kleine wertlose Schlammblut, es schien nicht die geringste Angst davor zu haben, daß er zuschlagen konnte. Sie starrte ihn mit ihren haßerfüllten grünen Augen an.
„Sie sind wirklich das Erbärmlichste, was ich je gesehen habe. Wie können Sie Ihrem Sohn nur so etwas antun? Er hätte sich den Hals brechen können! Oder sind Sie etwa wirklich so eiskalt und nehmen sogar in Kauf, daß Sie Ihren Sohn umbringen, nur weil Sie glauben, es wäre eine solche Schande, daß er mit mir seine Zeit verbracht hat?!“ Snape knirschte mit den Zähnen und kam langsam und bedrohlich immer näher auf Lily zu. Sie wollte zurückweichen, zwang sich jedoch, keinen Millimeter nachzugeben.
Keiner der umstehenden Zauberer oder Hexen traute sich, in die Sache einzugreifen. Sie alle hatten Angst um das mutige kleine Mädchen, das es wagte, Barabas Snape die Stirn zu bieten, aber sie alle wußten auch nur zu genau, wer Snape war und daß sie gegen ihn keine Chance hatten.
Snape hatte sich direkt vor Lily aufgebaut.
„Für ein dreckiges Schlammblut hast du ein verdammt großes Mundwerk, Mädchen.“ Seine Stimme klang wie ein düsteres Grollen und jagte Lily eine Gänsehaut über den Rücken.
„Ich frage mich“, entgegnete sie mit unterdrücktem Zorn in der Stimme, „wer von uns beiden hier dreckig ist!“ Das war zuviel für Snape. Er packte Lily am Kragen und hob sie einfach in die Luft. Da sie so ein Fliegengewicht war, war es noch nicht einmal ein geringes Problem für ihn. Lily klammerte sich an seine Hand, weil er ihr die Luft abdrückte, unterdrückte aber immer noch jedes Anzeichen von Angst, auch wenn sie in diesem Moment am liebsten vor Angst gestorben wäre.
„Solche wie dich sollten sie aussondern und gleich eliminieren. Ihr macht euch an unsere Elite ran und ehe man es sich versieht, ist das reinste und beste Zaubererblut von euch Muggelhexen verdünnt und unbrauchbar gemacht. Ihr seid Dreck, nichts weiter. Und Dreck sollte vernichtet werden!“ Lily kniff die Lippen zusammen und holte so tief Luft, wie sie konnte. Mit aller Kraft trat sie aus und traf Snape mitten in den Magen. Er heulte kurz auf vor Schmerz und krümmte sich zusammen, ließ Lily aber nicht los.
Severus, der noch immer am Boden lag, kam langsam wieder zu sich. Verwirrt schüttelte er den Kopf. Im ersten Moment wußte er gar nicht, wo er eigentlich war. Die Stimme seines Vaters drang wie durch einen Nebel in seinen Kopf ein. Er wandte den Kopf in die Richtung, aus der die Stimme kam und war schlagartig wieder auf den Beinen.
„Vater!“ brüllte er und seine eigene Stimme stach ihm heftig in den schmerzenden Kopf. „Laß Lily sofort runter.“ Snape, der sich langsam wieder von Lilys Tritt erholt hatte, sah seinen Sohn verachtend an.
„Daß ausgerechnet du dich mit solchem Dreck abgibst, Severus. Niemals hätte ich das von dir erwartet. Ich dachte, ich hätte dich vor dieser Sorte hier oft genug gewarnt, aber scheinbar bist du ein noch größerer Dummkopf, als ich bisher angenommen hatte!“ Er wandte sich wieder Lily zu, die er nun so weit wie möglich von sich weg hielt. Sie strampelte noch immer, konnte aber keinen weiteren Treffer mehr landen.
„Hast du vielleicht noch irgendwas zu sagen, Schlammblut? Du scheinst mir jemand zu sein, der gerne großen Reden schwingt.“ Er griff noch etwas fester zu, so daß Lily fast gar keine Luft mehr bekam. Doch noch immer starrte sie ihn haßerfüllt an. Und wenn er sie jetzt umbrachte, sie würde ihn auf ewig mit diesem Blick verfolgen.
Severus nahm all seinen Mut zusammen und rannte los. Er krachte seinem Vater in den Rücken, doch der Rempler war nicht stark genug, ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen. Statt dessen fuhr er herum und versetzte seinem Sohn noch einen zweiten, nicht weniger heftigen Schlag mit der freien Hand.
Alles ging so schnell, daß Lily es gar nicht wirklich mitbekam. Sie sah Severus erneut quer durch den Tropfenden Kessel fliegen und im nächsten Moment spürte sie, wie der Griff um ihren Hals sich löste und auch sie mit voller Wucht von Barabas Snape weggeschleudert wurde. Sie schrie und als sie aufschlug, wurde es kurz schwarz um sie herum.
Sie war nur Sekunden bewußtlos gewesen, doch als sie die Augen wieder öffnete, stand Snape wieder vor ihr. Er griff mit seiner Hand in ihre langen roten Haare und zerrte daran. Sie bohrte ihre Fingernägel in seine Hand, doch das ließ ihn scheinbar unberührt.
„Hör mir gut zu, Mädchen, ich sage es dir nur das eine Mal. Laß deine Finger von meinem Sohn! Ich werde nicht dulden, daß er sich mit einem Stück Dreck wie dir abgibt. Merke dir meine Worte gut, denn wenn ich dich noch einmal mit ihm zusammen sehe, wirst du das nicht überleben!“
„Glaub nicht, daß du mir Angst machen kannst, du feiges Arschloch!“ erwiderte Lily so laut und fest sie konnte und wieder erhob sich ein Raunen in dem Raum. Dieses Mädchen hatte scheinbar mehr Mut als Verstand.
Barabas Snape grinste sie kalt an.
„Eines Tages wird dieser dumme Mut dein Tod sein, Schlammblut. Vielleicht denkst du in diesem Moment ja an mich.“ Er zog so heftig an ihren Haaren, daß ihr die Tränen in die Augen schossen, doch noch immer blieb ihr Blick so fest wie zuvor.
„Ich werde an dich denken, ja. Wenn ich später mal ein glückliches Leben führe, denn das werde ich. Zusammen mit Severus!“ Für einen Moment nur verschwand das kalte Grinsen von Snapes Gesicht. Dann hob er die freie linke Hand und legte sie ihr auf die Wange. Lily öffnete den Mund zu einem stummen Schrei, als sie fühlte, wie sich etwas Stumpfes tief in ihre Wange bohrte. Sofort lief warmes Blut über ihre Haut. Sie starrte Snape entsetzt an, als er seinen blutigen Finger in den Mund steckte.
„Wußtest du, daß das Blut eines Muggels süß schmeckt? Eigentlich dürfte man euch gar nicht Schlammblüter nennen.“ Lily wandte ihren Blick angewidert ab. Endlich ließ Snape ihre Haar los und sie sank auf dem Holzboden des Tropfenden Kessels zusammen.
Hilflos sah Lily dabei zu, wie Snape hinüber zu seinem Sohn ging, ihn nun ebenfalls an seinen Haaren packte und nach draußen zerrte. Sein Arm stand in einem sehr merkwürdigen Winkel ab und sie wußte sofort, daß er gebrochen war. Das war erst bei seinem zweiten Sturz passiert.
Sie wollte sich wieder aufrappeln und hinter den beiden herlaufen. Sie wollte Severus von diesem furchtbaren Ungeheuer befreien, doch sie konnte nicht. Alles tat ihr weh und sie wußte gar nicht, auf welchen Schmerz sie sich zuerst konzentrieren sollte.
Als die Tür hinter Severus und seinem Vater zu fiel, hoben die Stimmen im Tropfenden Kessel wieder an. Sofort lief Tom, der alte Wirt des Tropfenden Kessels, zu ihr hinüber und hob sie vom Boden auf. Er trug sie in einen Hinterraum und legte sie dort auf einer Art Liege ab.
„Bitte vergib uns, Kleine. Wir hätten dir alle helfen sollen, aber Barabas Snape... er ist einer der gefährlichsten Zauberer auf dieser Welt. Er ist die rechte Hand des Teufels. Vermutlich hätte er uns alle umgebracht, wenn wir uns auch nur gerührt hätten.“ Lily war halb ohnmächtig, trotzdem drangen Toms Worte klar an ihr Ohr. Sie stieß verächtlich die Luft aus.
„Wenn alle so denken, dann wird diese Welt bald von Zauberern wie Snape in eine dunkle Schreckensherrschaft geführt werden. Wenn ihr alle so feige seid, dann ist euch bald nicht mehr zu helfen.“ Lilys Worte versetzten Tom einen Stich, doch er verarztete weiter den tiefen Kratzer auf Lilys Wange.
Lily griff nach seiner Hand.
„Ist schon gut, Tom. Ich werde nach Hause gehen. Meine Mutter macht das.“ Tom sah sie entgeistert an.
„Aber Kind, ich kann dich so nicht gehen lassen.“ Lily schüttelte den Kopf und ignorierte den stechenden Schmerz einfach, den diese Bewegung verursachte.
„Du hast gar keine andere Wahl. Ich werde nämlich nicht hierbleiben.“ Langsam richtete sie sich auf und setzte ihre Füße auf den Boden. Sie fühlte sich noch sehr wacklig auf den Beinen, als sie endlich wieder stand, doch sie wollte keine Minute länger im Tropfenden Kessel bleiben. Als sie in die Wirtsstube zurückkam, war diese immer noch von einem lauten Murmeln erfüllt, das sofort erstarb, als sie Lily sahen. Die meisten blickten beschämt zu Boden, als sie an ihnen vorbei zu ihren Einkäufen ging. Gerade als sie ihre Bücher aufheben wollte, flog die Tür zur Winkelgasse auf und ein völlig abgehetzter James stand schwer atmend in der Tür. Er starrte Lily voller Entsetzen an, doch sie lächelte ein wenig.
Sirius löste sich als erster wieder aus seinem Schrecken heraus und ging zu ihr hinüber, um sie ein wenig zu stützen, bevor ihre Kräfte versagten und sie einfach umkippte. Remus stieß James an, der noch immer wie paralysiert in der Tür stand und gemeinsam trugen sie Lilys Einkäufe nach draußen, immer hinter Lily und Sirius her, der sie nach draußen führte.
Die Geschichte von Snapes Angriff auf Severus und Lily hatte sich in der gesamten Winkelgasse in nur wenigen Minuten herumgesprochen, Lily mußte James also nichts mehr von dem erzählen, was im Tropfenden Kessel passiert war. Sie war auch nicht mehr in der Lage dazu, denn kaum hatte sich die Tür des Wirtshauses hinter ihnen geschlossen, brach Lily unter Tränen zusammen.
Als Lilys Eltern eine knappe Stunde später wiederkamen, erzählte Sirius ihnen eine wilde Geschichte von einem Überfall auf den Tropfenden Kessel und daß Lily und Severus mitten drin gewesen waren. Lilys Mutter war mehr als entsetzt, aber wenigstens nahm sie Sirius seine Geschichte ab. Nur ungern hätte er ihr die wahre Geschichte vom wildgewordenen Vater des Freundes der Tochter erzählt, auch wenn er James ansah, daß er es wohl getan hätte.
Obwohl der Angriff auf sie nun schon drei Tage her war, hütete Lily noch immer das Bett. Ihre Mutter hatte darauf bestanden und Lily wußte nur zu gut, welche Ängste und Alpträume ihre Mutter sei dem Tag in der Winkelgasse um sie ausstand.
Sie hatte sie in der Nacht nach dieser Geschichte schreien gehört. Lily selbst schlief so gut wie gar nicht mehr.
Sie saß aufrecht in ihrem Bett und auf ihren Beinen lag ihr Buch für Zaubertränke aufgeschlagen vor ihr. Doch Lily las nicht. Sie tat seit Tagen eigentlich gar nichts mehr weiter als in die Luft starren und grübeln. Dabei blieb ihr Gesicht die ganze Zeit über beängstigend ausdruckslos. Nur wenn man ganz genau hinsah, konnte man hin und wieder erkennen, wie sich ihre gequälten grünen Augen mit Tränen füllten.
Severus hatte sich seit dem sechsundzwanzigsten nicht mehr gemeldet und Lily stand Todesängste aus. Sie erinnerte sich noch so deutlich an das Gefühl, das sie in der Winkelgasse gehabt hatte. Diese absolute Furchtlosigkeit, diese Entschlossenheit. In diesem Moment hätte sie ohne zu zögern ihr eigenes Leben gegeben, es war nicht wichtig gewesen.
Mit Severus’ Leben war es etwas anderes. Sie wußte nicht, was sie tun würde, wenn ihm etwas passiert war. Sein Vater konnte weiß Gott was mit ihm gemacht haben, in seinem rasenden Zorn.
Lily biß sich auf die Lippen und schloß die Augen. Wenn sie doch nur endlich diese verfluchten Bilder aus ihrem Kopf verbannen könnte... aber es ging nicht. Barabas Snape hatte sich in ihrem Kopf festgesetzt und beging dort nun die schlimmsten Dinge, die Lily sich vorstellen konnte.
„Lilyschatz.“ Lily schreckte aus ihren Gedanken hoch und starrte zur ihrer Zimmertür hinüber, wo ihre Mutter stand, immer noch den höchst besorgten Ausdruck auf dem Gesicht, den sie seit Tagen nicht mehr abgelegt hatte.
„Lily, mein Liebling, möchtest du nicht zum Essen zu uns runterkommen?“ Lily starrte eine ganze Weile einfach nur ins Leere, bevor sie schließlich mit dem Kopf schüttelte. Nein, eigentlich wollte sie das nicht. Eigentlich wollte sie ihre Schwester nicht sehen mit dieser „Ich hab es dir doch gesagt“ Miene und sie wollte ihren Vater nicht sehen, der sogar noch besorgter schien als ihre Mutter. Sie wollte ihre Ruhe haben. Sie wollte wissen, wie es Severus ging...
Sie wollte verflucht noch mal endlich wissen, wie es Severus ging!
„Na gut, ich werde dir etwas zu Essen raufbringen. Versprich mir, daß du es nicht wieder stehen läßt, ja Schatz?“ Lily nickte, doch sie sah aus, als hätte sie ihrer Mutter nicht zugehört.
Fünf Minuten später kam Jane Evans mit einem Tablett zurück in das Zimmer ihrer Tochter. Zuerst schien sie es einfach nur auf dem Nachttisch abstellen zu wollen, so wie die vielen Male zuvor auch, doch dann zögerte sie und setzte sich schließlich auf die Kante des Bettes. Lily schien es nicht einmal zu bemerken.
„Lily“, begann sie sanft und legte vorsichtig ihre Hand auf die ihrer Tochter. Erschrocken zuckte Lily zusammen und zog ihre Hand hastig weg. Jane erschrak, als sie den Ausdruck in Lilys Augen sah. So hatte sie ihr Kind noch nie gesehen. Sie schien so voller Angst, so am Ende mit ihrer Kraft... Jane wurde das Gefühl einfach nicht los, daß es da noch etwas gab, was dieser Junge ihr nicht erzählt hatte. Etwas noch viel Schlimmeres, das sich in dem Pub zugetragen hatte.
„Lily“, setzte sich noch einmal an, versuchte diesmal aber nicht, ihre Tochter zu berühren, „dein Vater und ich haben uns überlegt, eine Nachricht an Professor Dumbledore zu schicken.“ Ihre Worte schienen Lily nicht zu erreichen. Abwesend starrte sie weiterhin auf den unsichtbaren Punkt an ihrer Zimmerwand.
„Wir werden ihm schreiben, daß du noch nicht nach Hogwarts zurückkommen kannst. Wir glauben nicht, daß du schon in der Lage für so eine lange Reise und den anstrengenden...“ Lily hob die Hand und ihre Mutter schwieg. Langsam drehte Lily ihren Kopf in Richtung ihrer Mutter und sah sie an. Ihr vernebelter Blick schien klarer zu werden.
„Nein“, sagte sie schließlich sehr leise. Ihre Mutter schlug ihre Hände vor ihren Mund. Es war das erste Wort, das Lily in den letzten drei Tagen gesprochen hatte.
„Nein, Mum, bitte, ich möchte zurück nach Hogwarts. - In Hogwarts sind wir sicher.“ Jane schluckte den schweren Kloß, den sie im Hals spürte, hinunter und wischte sich die Tränen aus den Augen.
„Oh Lily, wenn du mir nur endlich sagen würdest, was da passiert ist im Tropfenden Kessel. Du bist doch hier ebenso sicher, wie in dieser Schule, das weißt du doch.“ Doch Lily schüttelte den Kopf.
„Es gibt Dinge auf dieser Welt, vor denen sind wir nur in Hogwarts sicher, bis wir stark genug sind, ihnen zu trotzen.“ Jane verstand nicht, was Lily sagen wollte, doch ihre Tochter sprach wieder. Ihre Tochter äußerte wieder ihren Willen.
„Wie du meinst, Kleines. Dann werden wir keinen Brief an Dumbledore schreiben.“ Sie strich ihrer Tochter sanft über den Kopf, doch wieder zuckte Lily unter der Berührung zusammen.
„Ich werde dich allein lassen, okay?“ fragte Jane sanft und Lily nickte, den Blick jetzt wieder auf ihre Wand gerichtet. Sie hörte, wie ihre Mutter das Zimmer verließ und als ihre Schritte das Erdgeschoß erreicht hatten, schlug Lily die Decke zurück und stand auf.
Sie besah sich ihre Wange im Spiegel neben ihrem Kleiderschrank und strich sanft über die verschorfte Wunde, die Barabas Snape ihr zugefügt hatte. Da die Wunde nicht magisch behandelt worden war, würde dort für immer eine Narbe zurück bleiben, das wußte Lily jetzt schon, denn sie hatte sich, als sie noch ein kleines Mädchen gewesen war, einen ähnlichen Kratzer am Bein zugezogen. Wieder strich sie über die Wunde.
Sie würde zurückbleiben, aber mit der Zeit würde sie verblassen und bald schon würde kein Mensch, der nicht wußte, daß sie diese Narbe hatte, sie mehr sehen. Sie würde verblassen und vergessen werden, genau wie der Mann, der sie verursacht hatte. Erst jetzt sah Lily, daß sie mit einem haßerfüllten, kalten Blick in den Spiegel starrte. Grüne Augen, kalt wie Eis, starrten zurück und obwohl es ihre eigenen waren, erschauderte Lily.
Wenn es doch nur Severus gut ging. Lily schlang ihre Arme um ihren Körper und wandte sich von ihrem Spiegelbild ab. Severus...