Fern der Heimat

 

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Kapitel 9: Der 'Trank der Schatten'

 



Harry konnte es kaum erwarten, bis er endlich wieder in das Büro von Professor Dumbledore gehen konnte, aber wie immer, wenn man sehnsüchtig auf etwas wartet, schien die Zeit noch langsamer zu vergehen als normal.
Der nächste Unterrichtstag zog sich wie noch nie in Harrys Leben. Professor Binns hielt in ‚Geschichte der Zauberei' einen langatmigen Vortrag über die Unabhängigkeitskriege der Zentauren und in ‚Wahrsagen' mussten sie in diesem Jahr die Zukunft aus Tarot-Karten lesen. Jede Karte, die Professor Trelawney für Harry aufdeckte, hatte entweder etwas mit Tod oder einem großen Unglück zu tun. Dies besserte seine Laune nicht gerade, aber eigentlich überraschte es ihn auch nicht. Bis jetzt hatte die Lehrerin ihm in jedem Schuljahr den Tod vorausgesagt.
Endlich, nachdem auch ‚Pflege magischer Geschöpfe' hinter ihnen lag, machte Harry sich erneut auf den Weg zu Professor Dumbledore.
Auf halbem Weg traf er auf Remus.
"Hallo Harry", begrüßte er den Jungen herzlich, "alles klar?"
"Na ja, es geht so", antwortete Harry wahrheitsgemäß.
Remus lächelte verständnisvoll.
"Es wird dir sicherlich besser gehen, wenn wir deinen Zauberstab geholt haben", sagte Remus aufmunternd.
Harry nickte.
"Remus", begann er zögernd, "habt ihr gestern irgend etwas wegen Sirius beschlossen?"
Remus antwortete nicht.
"Ich weiß, dass du mir nichts genaues sagen darfst, ich möchte doch nur wissen, ob ihr Sirius helfen werdet", fügte Harry rasch hinzu.
Remus atmete tief aus, dann antwortete er langsam: "Eigentlich habe ich dir schon viel zu viel gesagt."
"Remus, bitte", bat Harry flehend.
"Na schön", seufze Remus, "Ich kann dir nicht viel sagen, nur soviel, dass wir beschlossen haben, ihn nicht in Askaban verrotten zu lassen."
Harry atmete erleichtert auf.
"Aber es wird noch einige Zeit dauern", fuhr Remus fort. "Wir müssen noch einiges vorbereiten. Es könnten noch Monate vergehen, bis er wieder bei uns ist."
"Monate?", fragte Harry entsetzt. "Geht es denn nicht schneller?"
Remus schüttelte energisch den Kopf.
"Der gesamte Orden ist in Gefahr, wenn diese Mission scheitert. Wir müssen sorgfältig planen, bevor wir etwas unternehmen können."
"Armer Sirius", murmelte Harry bedrückt.
"Sirius ist stark", versuchte Remus Harry zu überzeugen, "er hat zwölf Jahre in Askaban überlebt ohne wahnsinnig zu werden, er wird es wieder schaffen. Mach dir keine Sorgen, Harry."
"Ich hoffe du hast recht", murmelte Harry noch leiser.
Remus schwieg.
Harry musterte den besten Freund seines Paten genau, und ihm fiel auf, dass Remus sehr müde und mitgenommen aussah, obwohl der nächste Vollmond erst in 2 Wochen sein würde.
Harry vermutete, dass Remus selbst nicht wirklich von dem überzeugt war, was er ihm soeben gesagt hatte. Er machte sich große Sorgen um seinen Freund, und wahrscheinlich nicht ohne Grund.
Schweigend setzten sie ihren Weg zum Büro des Direktors fort. Jeder hing seinen eigenen, trüben Gedanken nach.
Als sie schließlich Dumbledores Büro erreicht hatten wurden sie bereits erwartet. Dumbledore saß hinter seinem Schreibtisch und unterhielt sich angeregt mit Professor McGonagall, die ungeduldig in dem vollgestopften Raum auf und ab ging.
Beide verstummten augenblicklich, als Remus und Harry eintraten.
"Sehr gut", begrüßte Dumbledore sie freundlich, "dann sind wir ja fast alle da."
"Fast alle?", fragte Harry überrascht. "Kommt denn noch jemand mit?"
Dumbledore antwortete nicht. Stattdessen erhob er sich von seinem Platz und ging zu dem großen Kamin an der Wand. Dort angekommen nahm er eine Prise Flohpulver aus einer kleinen Dose auf dem Kaminsims und warf sie in die Flammen. Sobald sich das Feuer grün verfärbt hatte steckte er seinen Kopf hinein.
Harry beobachtete die Szene gespannt. Er wusste, dass Dumbledore sich mit irgend jemandem unterhielt, er konnte sich jedoch nicht vorstellen, wer sie noch auf ihrem Ausflug begleiten sollte.
Dumbledores Gespräch schien zufriedenstellend verlaufen zu sein, denn schon nach wenigen Augenblicken zog er seinen Kopf wieder aus den Flammen und lächelte zufrieden.
"Er kommt", erklärte er den Anwesenden.
Professor McGonagall und Remus nickten. Harry blickte verwirrt von einem zum anderen. Scheinbar wussten beide, wer sie noch begleiten würde. Aber warum hatte ihm das niemand gesagt, schließlich wurde diese Reise nur wegen ihm und seinem Zauberstab unternommen.
Noch bevor Harry sich richtig in seinen Ärger und seine aufkeimende Frustration hineinsteigern konnte verfärbten sich die Flammen erneut grün. Einen Augenblick später trat ein Mann aus dem Kamin.
Harrys Unterkiefer klappte nach unten. Das konnte einfach nicht wahr sein. Der Mann, der soeben das Büro des Direktors betreten hatte, war ausgerechnet Professor Snape.
Severus begrüßte den Direktor und Professor McGonagall mit einem knappen Kopfnicken, Harry und Remus jedoch bedachte er nur mit einem abschätzigen Seitenblick.
"Haben Sie es tatsächlich geschafft?", fragte Professor McGonagall beeindruckt.
"Selbstverständlich", antwortete Severus fast beleidigt.
Er griff in die Tasche seines Umhangs und holte sechs winzige Phiolen heraus, die mit einer silbrigen Flüssigkeit gefüllt waren.
"Ist es das, was ich denke?", fragte Remus ebenso beeindruckt.
Severus starrte Remus verächtlich an und öffnete den Mund, um etwas zu sagen, überlegte es sich jedoch anders. Dumbledore war währenddessen an Severus' Seite getreten und hatte beschwichtigend seine Hand auf dessen Arm gelegt.
"Ja", antwortete Severus stattdessen knapp.
Remus pfiff anerkennend durch die Zähne.
Harry blickte noch immer verständnislos von einem zum anderen. Er verstand nur Bahnhof.
"Was ist das?", fragte er schließlich.
"Das ist der ‚Trank der Schatten'", antwortete Remus, bevor Severus einen bissigen Kommentar über Harrys, seiner Meinung nach, unangebrachte Neugierde machen konnte.
Harry starrte Remus verständnislos an.
"Dieser Trank wird es uns ermöglichen ungesehen durch die Winkelgasse zu gehen", erklärte Remus weiter. "Wir selbst werden nicht mehr zu sehen sein, nur wer ganz genau hinschaut wird noch unsere Schatten erkennen können."
"Da dieser Trank und seine Wirkungsweise allerdings fast gänzlich unbekannt ist, brauchen wir uns keine Sorgen zu machen, dass irgendjemand, der vielleicht unsere Schatten sehen könnte, Verdacht schöpft", ergänzte Professor McGonagall.
Harry betrachtete neugierig die Phiolen auf Dumbledores Tisch.
"Ich danke dir vielmals, Severus", wandte Dumbledore sich lächelnd an seinen Zaubertrankmeister. "Außer dir kenne ich niemanden, der in der Lage gewesen wäre, diesen Trank zu brauen."
"Dann ist meine Anwesenheit wohl nicht länger von Nöten", sagte Severus emotionslos.
Er ließ sich in keinster Weise anmerken, ob er Dumbledores Lob überhaupt zur Kenntnis genommen hatte.
"Ich habe heute noch viel zu erledigen", knurrte er und wandte sich zum Kamin, ohne die Anwesenden weiter zu beachten. Er nahm eine Prise Flohpulver, warf sie in die Flammen und verschwand.
"Wow", sagte Remus fasziniert und blickte an die Stelle, wo Severus soeben verschwunden war. "Der hatte ja eine Laune."
Harry grinste. Dumbledore jedoch bedachte Remus mit einem tadelnden Blick.
"Hey, ist doch wahr", verteidigte Remus sich.
"Remus", seufzte Dumbledore, "Severus hat es im Moment nicht leicht. Er hat viel Leid auf sich genommen um uns zu helfen. Wir alle sind ihm zu großem Dank verpflichtet. Ich weiß, dass ihr nicht die besten Freunde seid, aber ich bitte dich, ihn nicht noch zu provozieren."
Remus verzog leicht das Gesicht. "Moment mal, ich habe nichts in seiner Gegenwart gesagt", verteidigte er sich.
"Nur wenn wir zusammen halten können wir gegen Voldemort bestehen", fuhr Dumbledore fort. "Den Luxus von persönlichen Fehden können wir uns nicht leisten."
Harry konnte sich ein verächtliches Schnauben nicht verkneifen. Fast im selben Moment blickte er sich vorsichtig um, aber zum Glück hatte keiner der Umstehen seine Reaktion bemerkt.
Nach seiner Meinung hatte Remus sich in Snapes Gegenwart absolut neutral verhalten, er war sogar recht freundlich gewesen. Snape jedoch hatte Remus und ihn nur mit Verachtung gestraft. ER war es doch, der Zwietracht unter ihnen säte, nicht Remus.
"Lasst uns aufbrechen", beendete Professor McGonagall die Diskussion.
"Ja", pflichtete Remus ihr bei, "lasst es uns hinter uns bringen."
Dumbledore nickte zustimmend, ging zu seinem Schreibtisch, nahm die sechs Phiolen und gab jedem von ihnen zwei.
"Eine werdet ihr jetzt nehmen", erklärte er. "Leider könnt ihr nicht direkt zu Maximus Olivander in den Laden, ihr werdet von meinem Kamin aus in den ‚Tropfenden Kessel' reisen. Sobald ihr den Laden von Maximus erreicht habt könnt ihr eure Tarnung aufgeben. Das funktioniert mit dem Zauberspruch ‚finite umbra'. Die zweite Phiole ist für den Heimweg. Ist alles klar?"
"Alles klar", antwortete Professor McGonagall sofort.
"Wird schon schief gehen", sagte Remus und grinste. Dann wandte er sich an Harry und wurde wieder ernst.
"Du wirst dicht an meiner Seite bleiben", ermahnte er ihn, "unternimm nichts auf eigene Faust."
"Jaaaa", antwortete Harry langgezogen.
Es ging ihm langsam auf die Nerven ständig bevormundet zu werden, schließlich war er kein kleines Kind mehr.
Professor McGonagall warf Harry einen prüfenden Blick zu. Es schien, als wollte sie etwas zu Harrys barscher Antwort sagen, unterließ es jedoch.
Auch Professor Dumbledore schien von Harrys Antwort nicht wirklich überzeugt zu sein und runzelte leicht die Stirn.
"Ich werde schon keinen Blödsinn machen", fügte Harry schnell hinzu.
"Dann lasst uns gehen", sagte Remus, nahm eine der beiden Phiolen und leerte sie mit einem Zug.
Er verzog leicht das Gesicht, dann grinste er.
"Ich glaube Severus hat aus Prinzip etwas dagegen seine Tränke etwas wohlschmeckender zu machen."
Dieses Kommentar brachte ihm erneut einen tadelnden Blick des Schuldirektors ein, doch Remus ignorierte ihn.
Einen Moment geschah gar nichts, dann, plötzlich, schien es, als würde Remus' Körper flackern. Er flackerte wie eine Kerze im Wind. Einen Augenblick später verliefen die Konturen und wurden immer transparenter, bis Remus schließlich verschwunden war.
Harry starrte einen Moment fasziniert auf die Stelle, wo Remus eben noch gestanden hatte. Der Raum, den sein Körper eingenommen hatte, schien leer zu sein, nur auf dem Boden konnte man bei genauem Hinsehen eine menschliche Silhouette erkennen.
Dann nahm Harry ebenfalls eine seiner Phiolen und trank sie aus. Remus hatte wirklich recht gehabt, es schmeckte abscheulich.
Sekunden später wurde ihm abwechselnd heiß und kalt, dann lief ihm ein eiskalter Schauer über den Rücken. Als er an sich hinunter blickte bemerkte er, wie sein Körper anfing zu flackern und nach und nach seine Konturen verlor.
Als die Konturen schließlich verschwunden waren hielt er sich fasziniert eine Hand vor das Gesicht. Es sah aus, als bestünde seine Hand aus fließendem Wasser, das in der Hülle eines menschlichen Körpers floss.
"Das hat was, oder?", hörte er Remus' Stimme neben sich.
Harry blickte automatisch in die Richtung wo er Remus vermutete, obwohl er nicht erwartete irgendetwas zu sehen.
Als er Remus erblickte riss er überrascht die Augen auf. Neben ihm konnte er die Umrisse einer menschlichen Gestalt erkennen, die ebenso von Wasser durchflossen wurde wie sein eigener Körper.
"Der Vorteil an diesem Trank ist, dass man sich gegenseitig sehen kann, so ist das Risiko kleiner sich zu verlieren", erklärte Remus.
"Das ist ja cool", sagte Harry beeindruckt.
Professor McGonagall trank nun ebenfalls ihre Phiole leer. Auch sie verlor langsam ihre Konturen, bis sie schließlich für jemanden, der den ‚Trank der Schatten' nicht genommen hatte, unsichtbar war.
Sie ging zum Kamin und nahm eine Prise Flohpulver. Bevor sie sie jedoch in die Flammen warf, blickte sie sich noch einmal zu ihren Begleitern um.
"Wir werden direkt im Schankraum des ‚Tropfenden Kessels' ankommen. Wenn ihr dort ankommt versucht so leise wie möglich zu sein."
Harry nickte, aber er war sich nicht sicher, ob Professor McGonagall das erkennen konnte.
Sie warf das Flohpulver in die Flammen und sagte: "Tropfender Kessel".
Dann trat sie in die Flammen und verschwand.
Remus und Harry folgten ihr sofort.


Als Harry nach einer turbulenten Reise aus dem Feuer trat musste er die Luft anhalten um nicht zu husten. Der Ruß kitzelte in seiner Nase und brannte in seinen Augen.
Als er endlich wieder sehen konnte blickte er sich neugierig in dem düsteren Wirtsraum um. Früher war der ‚Tropfende Kessel' einmal ein gemütlicher Pub gewesen, ein Treffpunkt für Zauberer aus allen Teilen Großbritanniens, um Informationen auszutauschen oder um einfach nur gemütlich zusammen zu sitzen und sich zu unterhalten.
Nun war davon jedoch nicht mehr all zu viel zu erkennen. Ein gutes Dutzend dunkel gekleideter Gestalten saßen an mehreren Tischen und verliehen dem ganzen Raum eine bedrohliche Atmosphäre.
Hinter der Bar stand Tom, der Wirt. Harry erschrak, als er ihn erkannte. Sein Haar war weiß und er hatte tiefe Falten im Gesicht. Seit Harry ihn das letzte Mal gesehen hatte schien er um Jahrzehnte gealtert zu sein.
Plötzlich legte jemand sanft seine Hand auf Harrys Schulter. Erschrocken zuckte er zusammen und drehte sich ruckartig um.
Er atmete erleichtert auf, als er die fließende Silhouette von Remus erkannte.
"Komm", flüsterte dieser leise.
Harry folgte ihm zögernd durch den Raum. Als sie schließlich durch die halb geöffnete Hintertür schlüpften und den Hinterhof erreichten, der das Tor zur Winkelgasse verbarg, atmete Harry erleichtert auf.
Allmählich ließ die Beklommenheit nach, die er in diesem Raum verspürt hatte. Obwohl er keinen der Männer, die dort gesessen hatten, jemals gesehen hatte, wusste er instinktiv, dass sie Anhänger Voldemorts sein mussten.
Wahrscheinlich saßen sie den ganzen Tag dort, um zu kontrollieren, wer die Winkelgasse betrat oder verließ.
Remus und Professor McGonagall hatten sich inzwischen in eine Ecke des Hinterhofs zurückgezogen.
"Worauf warten wir?", fragte Harry flüsternd.
"Wir warten darauf, dass jemand das Tor zur Winkelgasse öffnet", antwortete Professor McGonagall ebenso leise.
"Warum?", fragte Harry verwirrt.
"Ganz einfach", antwortete Remus, "es würde unnötige Aufmerksamkeit erregen, wenn das Tor geöffnet wird, ohne dass jemand hindurch geht. Schließlich wissen wir nicht, wer sich gerade dahinter befindet."
"Ach so", antwortete Harry.
"Kommen Sie besser her, Mr. Potter, falls irgend jemand aus dem Pub kommt und in Sie hinein läuft haben wir den Salat", flüsterte Professor McGonagall besorgt.
Harry nickte und machte den Weg zum Zugang der Winkelgasse frei.
Glücklicherweise brauchten sie nicht lange zu warten. Es waren kaum zehn Minuten vergangen, da geriet die Backsteinmauer in Bewegung. Die Steine schoben sich zur Seite und gaben einen breiten Durchgang frei.
Sobald das Tor geöffnet war kam eine junge Frau aus der Winkelgasse gestürmt.
"Wo in Merlins Namen soll das noch hinführen?", murmelte sie verzweifelt und eilte an ihnen vorbei in den ‚Tropfenden Kessel'.
Harry blickte ihr bedrückt nach.
"Komm, Harry", flüsterte Remus ungeduldig und riss ihn aus seinen Gedanken.
Harry drehte sich um und sah, dass sich der Zugang zur Winkelgasse bereits wieder schloss. Professor McGonagall stand schon auf der anderen Seite. Remus befand sich direkt vor dem Zugang und wartete ungeduldig auf Harry.
Harry rannte zu ihm und gemeinsam schafften sie es mit einem gewaltigen Hechtsprung die Winkelgasse zu erreichen, bevor sich das Loch in der Mauer endgültig schloss.
Gemeinsam gingen sie die Einkaufsstraße entlang, wobei sie darauf achteten, so nah wie möglich an den Wänden der Häuser zu laufen, um zu vermeiden, mit irgend jemandem zusammen zu stoßen. Diese Vorsichtsmaßnahme war jedoch eigentlich unnötig, da die gesamte Winkelgasse fast menschenleer war.
Harrys Magen zog sich schmerzhaft zusammen. Noch nie hatte er die Winkelgasse in einem solch heruntergekommenen Zustand gesehen.
Fast die Hälfte der ansässigen Geschäfte schien geschlossen zu haben. Die Schaufenster, die einst prall gefüllt gewesen waren mit allem, was das Zaubererherz nur begehrte, waren nun mit Brettern vernagelt.
An den Wänden zeugten hässliche Graffiti vom immer größer werdenden Hass gegen Muggelgeborene.
In den düsteren Seitengassen konnte Harry schemenhaft einige dunkel gekleidete Gestalten erkennen, die sich in den Schatten der Häuser verbargen.
Obwohl er wusste, dass sie dank des ‚Tranks der Schatten' nicht zu sehen waren hatte er das ungute Gefühl beobachtet zu werden.
Er schüttelte energisch den Kopf um diesen Gedanken aus seinem Kopf zu vertreiben. Selbstverständlich war das alles reine Einbildung.
Harry atmete erleichtert auf, als der Laden von Mr. Olivander in Sicht kam. Sobald er seinen Zauberstab in Händen hielt würde er sich wieder sicherer fühlen, denn dann war er endlich wieder in der Lage sich selbst zu verteidigen.
Sie hatten den Laden fast erreicht, als sie plötzlich Stimmen hinter sich hörten. Alle drei drehten sich abrupt um und blickten in die Richtung, aus der sie gekommen waren.
Zum zweiten Mal an diesem Tag fiel Harry die Kinnlade nach unten. Die Stimmen gehörten Roger Colby, dem Auror, der ihn nach dem Zusammentreffen mit Voldemort in Godric's Hollow zurück nach Hogwarts gebracht hatte, und Lucius Malfoy.
Die beiden Männer schienen direkt auf sie zuzukommen. Harry blieb wie angewurzelt stehen und starrte sie an. Erst im letzten Moment machte er einen Satz zur Seite, um einen Zusammenstoß zu verhindern.
Malfoy und Colby gingen zielstrebig zu dem Laden von Mr. Olivander. Professor McGonagall, Remus und Harry folgten ihnen. Als sie den Verkaufsraum betraten schlüpften die drei ungesehen mit hinein.
Mr. Olivander blickte die beiden Männer überrascht an, als sie eintraten. Ihm war anzusehen, dass er heute nicht mehr mit Kundschaft gerechnet hatte.
"Guten Tag. Womit kann ich Ihnen dienen, meine Herren?", fragte er, als er sich wieder gefasst hatte.
"Wir wollen nichts kaufen, Mr. Olivander", sagte Lucius Malfoy ohne eine Begrüßung und beraubte Mr. Olivander augenblicklich jeglicher Hoffnung endlich einmal wieder einen Zauberstab zu verkaufen. Wie in der gesamten Winkelgasse liefen auch bei ihm die Geschäfte seit einiger Zeit sehr schleppend.
"Womit kann ich ihnen ansonsten helfen?", fragte er, wobei man deutlich die Enttäuschung in seiner Stimme hören konnte.
"Wir möchten im Auftrag des Ministeriums einen Zauberstab abholen, der seit ein paar Wochen bei ihnen eingelagert ist", antwortete Roger Colby.
"Selbstverständlich", antwortete Mr. Olivander, "darf ich bitte Ihre Autorisierung sehen?"
Lucius Malfoy runzelte die Stirn und starrte Mr. Olivander abschätzig an.
"Das ist selbstverständlich reine Routine", fügte der Zauberstabverkäufer schnell hinzu, als er Malfoys Blick bemerkte.
"Selbstverständlich", antwortete Malfoy herablassend, griff in die Tasche seines Umhangs und holte ein zusammengerolltes Blatt Pergament hervor, das mit dem offiziellen Siegel des Ministeriums verschlossen war.
Mr. Olivander nahm die Pergamentrolle entgegen, brach das Siegel auf und entrollte das Schriftstück. Er überflog den Text, dann blickte er die beiden Männer ihm gegenüber wieder an.
"Den Zauberstab von Mr. Potter möchten Sie holen?", fragte er etwas verwundert.
Harry starrte zuerst Mr. Olivander, dann Lucius Malfoy wortlos an. Was hatte das zu bedeuten?
"Sehr richtig", antwortete Malfoy mit einem leichten Lächeln. "Das Ministerium hat im Moment, nun, sagen wir, ein paar geringfügige Probleme mit diesem kleinen Quertreiber."
Mr. Olivander blickte Malfoy verständnislos an.
"Auf mich machte der Junge einen sehr freundlichen Eindruck, als er damals seinen Zauberstab bei mir gekauft hat", murmelte Mr. Olivander mehr zu sich selbst als zu seinen Besuchern.
"Die Zeiten ändern sich", antwortete Malfoy kalt. "Ich hatte gestern ein langes Gespräch mit Minister Fudge, und wir sind beide der Meinung, dass der Zauberstab hier nicht sicher genug ist."
"Wie Sie meinen", antwortete Mr. Olivander etwas beleidigt. "Bitte folgen Sie mir, er befindet sich im Keller."
Er drehte sich um und verschwand in einem Hinterzimmer. Lucius Malfoy folgte ihm, Roger Colby jedoch blieb wo er war. Er ging angespannt in dem kleinen Laden auf und ab und warf ab und zu einen prüfenden Blick durch die dreckigen Scheiben auf die menschenleere Straße.
Es dauerte eine ganze Weile, bis Mr. Olivander und Lucius Malfoy wieder auftauchten. Malfoy hielt Harrys Zauberstab in der Hand und hatte ein triumphierendes Lächeln aufgesetzt.
Harry verspürte einen schmerzhaften Stich, als er seinen Zauberstab nach so langer Zeit wieder sah, und das ausgerechnet in den Händen von Malfoy. Am liebsten hätte er ihm den Zauberstab aus der Hand gerissen und wäre davongerannt, aber er wusste, dass er sie damit alle verraten würde. So wartete er angespannt und beobachtete die Szene aufmerksam.
Wortlos reichte Malfoy den Zauberstab Roger Colby. Dieser nahm den Zauberstab entgegen und musterte ihn.
"11 Zoll, Stechpalme, Phönixfederkern", erklärte Mr. Olivander.
Colby beachtete ihn nicht, sondern blickte unsicher zu Malfoy.
"War das Ihr Ernst, als Sie sagten ....?", fragte er vorsichtig.
"Machen Sie schon", drängte Malfoy ungeduldig.
Colby seufzte leise, dann nahm er den Zauberstab in beide Hände und brach ihn mit einem hässlichen KNACKS in zwei Teile.
Harry entfuhr ein Stöhnen. Remus, der direkt hinter ihm stand, legte warnend seine Hand auf Harrys Schulter, um den Jungen daran zu hindern irgendwelche Dummheiten zu machen.
"Psssst", zischte er fast unhörbar.
Mr. Olivander, Mr. Malfoy und Mr. Colby sahen sich verwundert um. Selbstverständlich hatten auch sie Harry gehört.
"Was war das?", fragte Roger Colby unsicher.
Maximus Olivander schüttelte zitternd den Kopf und blickte sich immer wieder ängstlich um.
"In letzter Zeit geschehen in der Winkelgasse viele unerklärliche Dinge", murmelte er angsterfüllt.
Malfoy, den das Geräusch am wenigsten zu beunruhigen schien, ging zu dem mit Graffiti besprühten Schaufenster, und blickte nach draußen.
"Was auch immer es war, es ist weg", sagte er unbeeindruckt.
"Es klang aber eher so, als ob es direkt hier im Laden gewesen wäre", warf Mr. Olivander mit zitternder Stimme ein.
"Ich sehe hier niemanden außer uns", antwortete Malfoy bestimmt, wobei er den armen Mr. Olivander mit einem Blick bedachte, der eindeutig erkennen ließ, wie lächerlich dieser Einwand gewesen war.
"Lassen Sie uns gehen", wandte er sich schließlich an seinen Begleiter, "wir haben hier nichts mehr zu suchen."
Ohne ein Wort des Abschiedes wandte Malfoy sich zur Ladentür, öffnete Sie und verließ den Verkaufsraum. Roger Colby nickte Mr. Olivander kurz zu, dann folgte er Malfoy auf die verlassene Straße.
Sobald die beiden außer Sicht waren sagten Harry, Remus und Professor McGonagall den Zauberspruch, der sie wieder sichtbar machen würde, und augenblicklich materialisierten sich ihre Körper.
Mr. Olivander starrte die drei einen Augenblick mit aufgerissenem Mund an, dann breitete sich ein Lächeln auf seinem Gesicht aus.
"Professor McGonagall, Mr. Lupin, Mr. Potter, ich freue mich Sie einmal wieder zu sehen", begrüßte er sie.
"Jetzt wird mir so einiges klar, ich dachte schon, ich hätte Halluzinationen", fügte er hinzu.
"Guten Tag, Mr. Olivander", begrüßte Professor McGonagall den Zauberstabverkäufer ernst.
Harry beachtete das Gespräch der beiden nicht. Stattdessen ging er langsam zu dem Auslagentisch in der Mitte des Verkaufsraums, wo die Überreste seines Zauberstabes lagen.
Vorsichtig nahm er sie in die Hand und betrachtete die Bruchstellen, an welchen der Stab zerbrochen war.
"Wir scheinen wohl zu spät gekommen zu sein", sagte Remus ebenso ernst.
Er ging zu Harry und legte ihm tröstend einen Arm um die Schulter.
"Ja, es ist ein Jammer", sagte Mr. Olivander betroffen, "der erste Zauberstab ist immer etwas ganz besonderes für einen jungen Zauberer. Nur selten findet man noch einmal einen Stab, der so gut harmoniert."
Mit diesen Worten war er neben Harry und Remus getreten.
"Er war wirklich ein mächtiger Zauberstab", sagte er traurig.
Vorsichtig nahm er Harry die beiden Teile aus den Händen und betrachtete sie bekümmert.
"Es ist immer, als verlöre ich ein Kind, wenn ein Zauberstab, der durch meine Hand, oder die meines Vaters entstanden ist, zerstört wird", sagte er leise, fast zu sich selbst.
"Können Sie ihn reparieren?", fragte Remus hoffnungsvoll.
Mr. Olivander schüttelte traurig den Kopf.
"Nein, das ist unmöglich", antwortete er schließlich bestimmt.
"Wir werden einen neuen Zauberstab für Sie suchen müssen, Mr. Potter", fuhr er an Harry gewandt fort, "aber ich muss ehrlich sagen, ich bezweifle, dass ich einen passenden Stab für Sie habe. Ich kann mich noch gut daran erinnern wie schwierig es war, diesen hier für Sie zu finden."
"Mr. Olivander", ergriff Harry nun das erste Mal das Wort, "wo ist der andere Zauberstab? Ist er auch .... zerstört?"
"Der andere?", fragte Mr. Olivander überrascht.
Auch Remus und Professor McGonagall blickten Harry fragend an.
"Ja, ich meine den Zauberstab meines Vaters."
"Der Zauberstab Ihres ........", begann Mr. Olivander entgeistert.
"Mr. Potter, wollen Sie etwa behaupten, dass dieser Stab noch existiert?"
Harry nickte.
"Und Sie sind in der Lage damit komplexe Zauber auszuführen?", fragte er weiter.
Harry nickte erneut.
"Das ist wirklich unfassbar", sagte Mr. Olivander leise.
Dann wandte er sich wieder an Harry.
"Ich hatte immer angenommen, dass der Zauberstab beim Angriff von Sie-wissen-schon-wem zerstört wurde."
"Nein, Mrs. Figg hat ihn damals in Godric's Hollow gefunden und für mich aufbewahrt", erklärte Harry.
"Das ist unglaublich", sagte Mr. Olivander kopfschüttelnd.
Dann breitete sich ein Lächeln auf seinen Lippen aus.
"Mr. Potter, das ist einer der mächtigsten Zauberstäbe, der jemals hergestellt wurde. Seine Fähigkeiten übersteigen die des Ihrigen bei weitem. Ich kann mich noch genau an den Tag erinnern, als Ihr Vater hier durch diese Tür trat ....."
"Ja ja, aber was nun wirklich wichtig ist", unterbrach Remus ihn etwas schroffer als geplant, "ist dieser Zauberstab bei Ihnen?"
"Nein", antwortete Mr. Olivander leicht pikiert.
"Aber wo kann er dann sein?", fragte Professor McGonagall und blickte von Mr. Olivander zu Harry.
"Vielleicht", begann Harry langsam, "hat Percy Weasley ihn noch. ER kam damals im Auftrag des Zaubereiministeriums in den Ligusterweg und hat beide Zauberstäbe konfisziert."
"Wir müssen sofort zurück nach Hogwarts und das abklären", sagte Professor McGonagall entschlossen.
Sie holte ihre zweite Phiole aus der Tasche und trank den Inhalt in einem Zug aus. Augenblicklich wurden ihre Umrisse unklar, dann verschwand sie.
Harry und Remus tranken ebenfalls ihren Zaubertrank.
"Auf Wiedersehen, Mr. Olivander, und vielen Dank", verabschiedete sich die unsichtbare Lehrerin von dem Zauberstabverkäufer, der etwas verdutzt auf die Stelle starrte, an welcher sein Besuch eben noch gestanden hatte.
Dann verließen sie den Laden und machten sich auf den Weg zurück nach Hogwarts. Glücklicherweise verlief ihr Rückweg ohne Schwierigkeiten und sie erreichten das Büro von Albus Dumbledore nur eine knappe halbe Stunde später.



 

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