"Ich glaube, mir wird schlecht", murmelte Ginny von irgendwo hinter Harry.
"Dann versuch besser dich zusammenzureißen", zischte ihr Bruder ihr zu. "Du kannst jetzt nicht gehen. Wenn du gehst, dann werden sie uns bemerken und es wird die Hölle auf Erden, wenn sie uns hier erst einmal entdeckt haben."
Harry mußte seinem Freund zustimmen und er drehte sich um, um dem Mädchen entschuldigend zuzunicken. Als sich seine und Rons Augen trafen, war er erstaunt, so etwas wie Faszination auf dem Gesicht seines besten Freundes zu entdecken. Konnte es sein, daß Ron das hier gefiel?
Nein, er mußte sich irren. Ron verabscheute Snape, so wie jeder andere Schüler, der nicht in Slytherin war auch - mit der möglichen Ausnahme von Percy Weasley - aber er war ein gutherziger Mensch, der niemanden etwas schlechtes wünschte.
Abgesehen davon mußte Harry sich eingestehen, daß, so sehr er seinen Lehrer auch bedauerte und obwohl er von dem Verhalten seines Schulleiters geschockt war, er ebenso den Rest der Geschichte herausfinden wollte. Selbst wenn das bedeutete, daß er anschließend nicht mehr fähig sein würde, Snape zu hassen. Oder zumindest nicht mehr mit der selben Inbrunst.
Die vertraute Umgebung von Hogwarts war wieder in der Blase aufgetaucht. Snape saß am Tisch der Slytherins in der Großen Halle, gefangen genommen von seinem Buch und abwesend auf einem Stück Toast kauend.
"Du wirst nie wachsen, wenn du so weiter ißt", informierte in Goyle, der genüßlich an einem Stück Pfannkuchen kaute, sich selber dabei mit Honig bekleckerte und den größten Teil der Bank in Anspruch nahm.
"Stör ihn nicht", lachte ein Mädchen mit honigfarbenem Haar neben ihm. "Er sucht gerade Dinge für unsere Verteidigung gegen die dunklen Künste-Hausaufgaben heraus."
Sie langte über den Tisch, stieß ohne es zu bemerken eine Zuckerdose um und struwwelte dem Jungen voll Zuneigung durch die Haare.
"Lucius hatte recht, er ist ein guter Fang. Mit dir in unserem Haus muß ich hier an diesem verflixten Ort nie wieder auch nur eine einzige Hausaufgabe selber machen."
Der jüngere Knabe lächelte sie an. Nach einem kurzen Zögern griff er in seine Tasche, die neben ihm auf dem Boden lag, durchwühlte ihren Inhalt und nach ein paar Sekunden zog er einen eleganten Becher hervor, der geformt war, wie eine erblühende Lilie und mit etwas Schimmerndem besetzt war, das wie kleine Stücke Drachenhaut aussah. Er bot es dem Mädchen schüchtern an und schenkte ihr ein peinlich berührtes Lächeln.
"Ich weiß, es kommt ein bißchen spät, aber... Fröhliche Weihnachten, Narzissa."
Sie nahm es dankbar entgegen, das hübsche Geschenk voller stiller Verwunderung betrachtend und den Jungen mit ihrem schönsten Lächeln bedenkend.
"Das ist unglaublich, Severus! Danke. Ich fühle mich hoch geehrt."
Sie drehte und wendete es vorsichtig, um es von allen Seiten zu bewundern, ehe sie aufstand.
"Ich bringe das hier lieber in meinen Schlafsaal, ehe es noch jemand zerbricht."
Mit einem gehässigen Blick auf Goyle, der gerade zum dritten Mal hintereinander sein Glas mit Orangensaft umgestoßen hatte, rauschte sie davon, den Becher beschützend an ihre Brust gedrückt.
Lucius Malfoy erhob sich von seinem Platz am anderen Ende des Tisches, setzte sich neben den etwas durcheinander geratenen Jungen und sah ihn prüfend an.
"War das nicht das Geschenk, was du in Verwandlung für deine Mutter gemacht hast? Du hast mir doch erzählt, dass du eine besonders schöne Schildkröte genommen hast, um es zu machen."
Snape blätterte weiterhin durch die Seiten des Buches, das gegen einen Milchkrug vor ihm gelehnt war und sah nicht auf.
"Nach alledem, habe ich mich doch nicht danach gefühlt, es ihr zu geben", murmelte er. "Und ich glaube auch nicht, dass sie es genauso sehr geschätzt hätte, wie Narzissa es tut."
Lucius lehnte sich auf dem Tisch auf, seinen Kopf auf die verschränkten Arme gelegt und sah seinen jungen Freund von der Seite an.
"Ich kann dann wohl annehmen, dass deine Ferien alles andere als angenehm gewesen sind, oder?"
Seine Frage wurde mit einem Achselzucken und einem, sicherlich unfreiwilligen, kleinen Seufzer beantwortet.
"Ich werde versuchen, dich für die Sommerferien irgendwie zu uns zu holen, Severus, das verspreche ich dir. Zumindest für ein paar Wochen. In Ordnung?"
Es lag Mitgefühl in der Stimme des älteren Jungen und eine große Menge Ernst. Er sah seinen schweigsamen Banknachbarn weiterhin an, bis letztendlich dunkle Augen sich mit hellblauen trafen und ein dankbares Lächeln über das Gesicht des Kindes huschte.
"Das wäre phantastisch."
Sie nickten einander zu, ehe sie ihre Taschen nahmen und in Richtung der Tür davoneilten. Fast dort angekommen, rutschte der Riemen Snapes Arm herunter und der gesamte Inhalt der schweren Büchertasche fiel zu Boden und die Sachen waren überall verstreut. Still vor sich hin fluchend beugte er sich hinunter um die Bücher, Schreibfedern und Pergamentrollen zurück zu stopfen. Als er sich wieder aufrichtete, fiel ein Schatten über ihn.
"Kein Grund, sich zu fürchten, Mr. Snape, ich bin es nur und ich bin selbst etwas spät dran."
Minerva McGonagall lächelte auf ihn hinab, die Winkel ihres schmalen Mundes in der ihr eigenen Weise leicht nach oben gezogen. Sie hatte weniger graue Haare und auch noch nicht so viele Falten um ihre Augen, aber abgesehen davon hatte sie sich kaum verändert, ganz im Gegensatz zu dem Geheimagenten an der Treppe. Da lag eine Spur Amüsement in ihrer Stimme, als sie hinzufügte:
"Ich bin allerdings sehr überrascht von deiner Wortwahl, junger Mann. Ich kann mir schwerlich vorstellen, daß du diese Ausdrücke hier in diesen ehrenwerten Hallen aufgeschnappt hast.. Wie dem auch sei, wir sollten uns sputen. Es gibt keinen Grund, warum wir beide zu spät zur Stunde erscheinen sollten. Ich werde allerdings großzügig sein und dir einen Vorsprung geben, so daß du eine Chance hast, das Klassenzimmer vor mir zu erreichen."
Sie gab ihm einen spielerischen Schubs gegen den Rücken und setzte mütterlich hinzu: "Auf geht's!" Zu ihrem Erstaunen, zuckte der Junge zusammen und verzog sein Gesicht, offensichtlich Schmerzen leidend.
"Was ist los, Mr. Snape? Hast du dich verletzt?"
Sie langte bereits nach seinem Kragen, wo sie versuchte, ihm in den Halsausschnitt zu spähen.
"Es ist nichts, Professor", antwortete er hastig, in dem zum Scheitern verurteilten Versuch, sich so zu drehen, daß er außerhalb ihrer Reichweite war.
"Ich bin von meinem neuen Besen gefallen, als ich zum ersten Mal damit geflogen bin und bin genau in den Zweigen eines Busches gelandet. Nichts Ernstes, ehrlich. Ich bin nur immer noch ein bißchen wund."
Sie hatte es aber unterdessen geschafft, einen kurzen Blick auf Nacken und Schultern zu werfen, wobei sie ihn fast strangulierte, als sie an den Kragen von Robe und Hemd zerrte, und atmete scharf ein, als sie die dunkelroten Striemen sah, die auf seiner hellen Haut leuchteten.
"Ein wenig wund!" brauste sie auf, ihre Stimme geschockt und ein wenig verärgert.
"Das ist mehr als nur ein bißchen wund, Kind! Und ich fresse deinen Besen, wenn diese Striemen von Zweigen herrühren."
Sie ergriff behutsam seine Schultern und drehte ihn zu sich herum, seine Ablehnung und das trotzig gereckte Kinn ignorierend.
"Wer hat dir das angetan? Ein anderer Schüler? Mr. Malfoy?"
"Lucius würde so etwas nie tun! Er ist mein Freund! Wenn er da gewesen wäre..."
Schnell schloß er seinen Mund, offenbar schockiert darüber, was ihm eben rausgerutscht war und starrte auf seine Schuhe, anstelle seine Lehrerin anzusehen, einen sehr aufgewühlten Gesichtsausdruck erfolgreich hinter einer Gardine aus schwarzem Haar verbergend.
"Nun gut, Mr. Snape. Ich werde dich jetzt in den Krankenflügel bringen, damit sich Madam Pomfrey deinen Rücken mal ansehen kann und vielleicht kann sie etwas tun, um den Schmerz zu lindern. Du bist heute vom Verwandlungsunterricht befreit. Und ich denke, daß du anschließend ein kleines Gespräch mit dem Direktor führen solltest."
Damit begleitete sie ihn zum Krankenflügel, seine kleine Hand fest in der ihren, zitternd vor stillem Zorn. Er versuchte nicht zu kämpfen, oder zu streiten.
Im Krankenflügel, war Madam Pomfrey beim Anblick des mißhandelten Kinderrückens ebenso geschockt und strich ihm immer wieder mitfühlend über das Gesicht, während sie die Striemen, diversen anderen Wunden und eine eindeutig angebrochene Rippe versorgte. Der Knabe ertrug alles, ohne ein Wort zu sagen, starrte ausdruckslos an die Wand und ignorierte jede Frage der Krankenschwester.
Sie hatte gerade die letzte der Tuben und Töpfchen verschlossen, als Albus Dumbledore mit einem besorgten Ausdruck im Gesicht den Krankenflügel betrat. Er schritt auf die kleine Gestalt zu und ließ sich am Fußende des Bettes nieder, dem Jungen vorsichtig, aber mit sicherer Hand, dabei helfend, sich das Hemd anzuziehen. Snape sah den alten Zauberer nicht an, aber seine Oberlippe zitterte und seine Hände klammerten sich am Saum des Hemdes fest.
Nach beinahe einer Minute des Schweigens sagte Dumbledore ruhig:
"Dein Vater war keiner meiner Schüler. Er wurde, soweit ich weiß, in Durmstrang ausgebildet. Deine Mutter allerdings, war eine meiner Schülerinnen. Eine Ravenclaw, wenn ich mich recht entsinne."
Die stille Gestalt neben ihm antwortete nicht, sondern starrte weiterhin auf seine eigenen Hände, die noch immer nervös den Stoff bearbeiteten.
"Ich habe deinen Vater nur einmal getroffen", sprach Dumbledore weiter, "als er nach ihrem Abschluß deine Mutter hier abgeholt hat. Sie schien unglaublich in ihn verliebt zu sein und ich habe wirklich versucht, mich für sie zu freuen. Aber, wenn ich ehrlich sein soll, dann muß ich sagen, daß mir die Art, wie er sie angesehen und mit ihr gesprochen hat, ganz und gar nicht gefallen hat. Er hat ein hitziges Temperament, dein Vater, habe ich recht, Kind?"
Noch immer ließ sich der Junge nicht dazu überreden, zu sprechen. Seine Augen aber, waren auf das Gesicht des Schulleiters geheftet, baten ihn, weiter zu reden. Der alte Zauberer ging auf den Kompromiß ein.
"Kinder brauchen Grenzen und Regeln; ich weiß das so gut wie jeder andere auch. Manchmal ist eine Bestrafung der einzige Weg, um dem Kind beizubringen, daß das Überschreiten einer bestimmten Linie Konsequenzen hat. Wie auch immer, Schläge, werden in meinen Augen nie eine Rechtfertigung finden und ich werde sie schon gar nicht als geeignete Erziehungsmethode durchgehen lassen. Kein menschliches Wesen, verdient es, dass es ausgepeitscht, geschlagen, getreten oder anderweitig körperlich mißhandelt wird. Ganz besonders kein Kind."
Er riskierte es, eine Hand auf den Arm des Jungen zu legen und wurde damit belohnt, daß sich der verkrampfte Körper ein wenig entspannte.
"Ich werde deinem Vater einen Brief schreiben, um ihn zu fragen..."
"Nein!" Panik lag in den Augen und in der Stimme des Kindes, alle Ruhe war sofort wieder verschwunden.
"Bitte, Sir, dafür gibt es doch wirklich gar keinen Grund. Es ist nicht so, wie Sie denken. Wir haben nur... es war... er ist überhaupt nicht so."
Verzweifelte Tränen begannen ihm in den dunklen Augen zu schimmern, als er besorgt nach der Hand des Direktors griff.
"Es wird nie wieder vorkommen, das verspreche ich. Bitte, schreiben Sie ihm nicht", bettelte er.
"Ich denke nicht, daß das ein Versprechen ist, das du geben kannst, mein Kind", erwiderte Dumbledore ruhig. "Weil es nicht an dir liegt. Mach dir keine Sorgen, ich werde sehr allgemein und diskret sein, dein Vater wird nie erfahren, was mich dazu veranlaßt hat, diesen Brief zu schreiben. Ich werde deine exzellenten Ergebnisse hier an der Schule mit einfließen lassen und mich nach deiner Mutter erkundigen, alles keine Themen, über die man sich groß Gedanken machen müßte. Überlaß es nur mir, in Ordnung?"
Das Kind sah nicht übermäßig überzeugt aus, aber es klammerte sich an den Arm Dumbledores, als wäre es davon überzeugt, dass, wenn er nur den alten Zauberer davon abhielt, aus dem Krankenflügel zu gehen, das Problem für immer gelöst wäre.
"Bitte, Sir, Sie wissen nicht, wie er ist. Er wird es wissen. Er weiß es immer. Er weiß alles."
Dumbledore machte sich vorsichtig los.
"Niemand weiß alles, lieber Junge. Und jeder sollte bereit dazu sein, ab und an etwas dazu zu lernen."
Damit verließ er den Krankenflügel und ein zitternder Snape saß auf dem Bett, sein Rücken verkrampft, die Augen vor Furcht geweitet, sich die Arme mit den Fingernägeln zerkratzend, bis die Haut aufbrach und anfing zu bluten.
Er hat das richtige getan, dachte Harry. Natürlich hat er das. Wenn ein Schüler von seinen Eltern mißhandelt wird, dann muß der Schulleiter einschreiten. Wie oft hatte er selbst sich gewünscht, daß Dumbledore im Ligusterweg auftauchen würde und erst mal ein langes Gespräch mit den Dursleys zu führen. Dieser Brief würde sicherlich einiges für Snape ändern.
Ein wenig erleichtert beobachtete er, wie der Krankenflügel verschwand und die Große Halle wieder in der Blase auftauchte.
Das Abendessen war eindeutig gerade vorüber, denn überall standen leere Töpfe, Terrinen und Teller und die Schüler unterhielten sich angeregt miteinander, sei es nun über Quidditch, Hausaufgaben oder das bevorstehende Hogsmeade-Wochenende. Der Teller vor Severus Snape jedoch, schien unberührt zu sein und der Junge starrte unglücklich in die Luft.
"Kopf hoch, Severus", forderte Lucius ihn auf. "Dumbledore hat diesen dämlichen Brief schon vor über einer Woche geschrieben. Wenn dein Vater wütend darüber gewesen wäre, dann hättest du schon längst unter den Konsequenzen zu leiden gehabt."
Er versetzte dem Jungen einen spielerischen Schlag auf die Schulter und grinste. Snape seufzte und schenkte ihm ein halbherziges Lächeln, nahm letztendlich seine Gabel auf und begann lustlos in einer gebackenen Kartoffel herum zu stochern. Plötzlich war ein Rauschen zu hören und ein Dutzend verschieden großer Eulen kam in die Große Halle geflogen, diverse Pakete und Briefe transportierend.
"Na, haben sie es doch noch durch den Sturm geschafft", bemerkte Narzissa fröhlich, als sie einen großen Katalog und die neueste Ausgabe der Hexenwoche auffing, die um ein Haar auf ihrem leeren Teller gelandet wären.
Eine winzige, dunkle Eule, flatterte über der Menge, offensichtlich nach dem Empfänger des kleinen Päckchens suchend, das sie mit sich trug. Endlich setzte sie zur Landung an und kam direkt vor Snape auf, ihr Bein so haltend, dass er die Schnur lösen konnte, mit der Paket und Briefrolle festgebunden waren. Das Gesicht des Jungen hatte eine teigige Blässe angenommen, als er die Verschnürung mit zitternden Händen öffnete und beides, Paket, wie Brief entgegen nahm. Die Eule erhob sich sofort wieder in die Lüfte.
Langsam, als befürchte er etwas Schreckliches, entrollte er den Brief und las die kurze Nachricht. Hast du deine Lektion schon wieder vergessen?
Verlaß dich nie auf andere, um dir zu helfen.
Sage niemals deinem Vater, was er zu tun hat.
Vielleicht sollten wir noch eine Lektion hinzufügen, damit du es dir dieses Mal merkst. Ich habe diesem Brief eine kleine Gedächtnisstütze hinzugefügt.
Übung Lektion Nummer vier: Zeige niemals eine Schwäche. Du weißt nie, wer damit verletzt wird.
Sein ganzer Körper zitterte, als er herüber langte und das Paket öffnete. Der Deckel ließ sich leicht öffnen und im Inneren lag, auf einem feinen aber blutbefleckten Seidenschal, ein weiblicher Finger, der Nagel grellrot lackiert. Tränen der Wut und der Frustration zurückhaltend verstaute der Junge beides, Brief und Paket in seinen Roben, stand langsam auf und ging mit festen Schritten aus der Halle. Draußen, außerhalb des Sichtfeldes der anderen, begann er zu rennen, hinunter in den Kerker und den Gemeinschaftsraum der Slytherins. Er steuerte auf das Jungenklo zu und hechtete in die nächste Kabine, wo er sich krampfartig erbrach.