Der Bahnhof Kings Cross in London war voller Menschen. Harry hatte Mühe seinen Gepäckwagen mit dem großen Koffer und Hedwigs Käfig durch die Massen zu steuern. Links und Rechts neben ihm liefen Remus Lupin und Sirius Black. Sie beobachteten aufmerksam die Leute, die hektisch an ihnen vorbei eilten. Nach dem Vorfall in der Winkelgasse wollten sie kein Risiko mehr eingehen. Falls sich irgendwo ein Death Eater versteckte, so wollten sie auf alle Fälle verhindern, daß er an Harry heran kam.
Nach ihrer Begegnung mit Voldemorts Anhänger war Lupin noch vorsichtiger als normal. Er hätte es sich nie verziehen, wenn Harry in der Winkelgasse etwas zugestoßen wäre, weder Harry gegenüber noch Sirius. Harrys Pate hatte Lupin keine Vorwürfe gemacht, wie sollte er auch, aber Lupin wußte, daß auch Sirius Angst um Harry hatte.
Harry dagegen machte sich im Moment viel größere Sorgen um Sirius, denn dieser hatte es sich nicht ausreden lassen Harry und Lupin in menschlicher Gestalt zum Bahnhof zu begleiten. Als Animagus hätte er auch die Möglichkeit gehabt die beiden als Hund zu begleiten, doch Sirius meinte, daß er in seiner wahren Gestalt den Jungen gegen andere Zauberer besser schützen könnte.
Alle drei atmeten auf, als sie den Zugang zum Gleis 9 ¾ erreicht hatten. Remus blickte sich prüfend um, doch im Moment waren keine Zauberer in Sicht, die Sirius eventuell erkennen könnten.
Sirius drehte sich zu Harry und sagte: „So, das hätten wir. Paß bitte auf dich auf, Harry. Weiter kann ich nicht mitkommen, ich bin in der Zaubererwelt zu bekannt. Schick mir bitte sofort eine Eule, wenn du angekommen bist. Meinst du Hedwig schafft das schon wieder?“
Harry lächelte seinen Paten an und antwortete: „Klar schafft sie das, sie hatte ja genug Zeit sich zu erholen. Machs gut Sirius, ich melde mich sobald ich angekommen bin.“ Dann sagte er zu Lupin gewandt: „Remus, du mußt nicht mitkommen bis zum Gleis, da werden so viele Zauberer sein, daß es keiner wagen wird mir etwas anzutun.“
Remus runzelte die Stirn und antwortete nachdenklich: „Ich weiß nicht ob das so gut ist, Harry, ....... Okay, in Ordnung, du bist ja kein kleines Kind mehr, das hast du mittlerweile oft genug bewiesen. Aber noch eins: besteig bitte so schnell wie möglich den Zug. Halte dich nicht zu lange draußen auf und setz dich ins letzte Abteil. Professor Dumbledore hat auf meine Bitte einen Verwirrungszauber über dieses Abteil gelegt, der zusätzlich mit einer Alterssperre versehen ist. Jeder über 18, der dieses Abteil betritt, wird auf der Stelle nicht mehr wissen, was er eigentlich wollte, und dann verwirrt das Abteil wieder verlassen. Bleib bitte die ganze Fahrt in dem Abteil und lauf nicht im Zug herum, man kann nie wissen wer sich da eingeschlichen hat. Mir ist erst wieder wohler zu Mute, wenn du in Hogwarts angekommen bist.“
Harry nickte. „Ist gut Remus, das werde ich machen. Und vielen Dank noch mal euch beiden. Ich weiß nicht, wie ich das wieder gut machen kann, was ihr für mich getan habt.“ Die beiden Männer lächelten und Sirius antwortete: „Da gibt es nichts zu danken Harry. Wir zwei sind doch quasi eine Familie, naja, und Remus, der hat sowieso schon immer dazu gehört. Ich wünsche dir eine schöne Zeit in Hogwarts, und vergiß nicht zu schreiben. Wenn nichts Unvorhergesehenes passiert, wirst du mich auch weiterhin bei Remus erreichen.“
Nachdem sie sich alle noch einmal herzlich umarmt hatten wollte Harry gerade durch die Absperrung gehen, als Sirius ihn noch einmal zurück rief. „Harry, warte, ich hätte fast etwas vergessen.“
Harry blickte ihn irritiert an. Was konnte denn jetzt noch sein? Sie hatten sich doch verabschiedet, Sirius hatte ihn gebeten vorsichtig zu sein, und er hatte es versprochen. Er ging wieder zurück zu seinem Paten und blickte ihn erwartungsvoll an.
Sirius kramte in seinem Mantel und zog dann ein kleines, dreckiges Päckchen heraus. „Hier Harry, wird langsam Zeit, daß du das bekommst.“ Harry blickte neugierig auf das Päckchen. Es schien sehr alt zu sein, denn an den Ecken war das Papier bereits eingerissen und es sah insgesamt sehr abgegriffen aus. „Was ist das?“, fragte er interessiert.
„Sieh nach“, antwortete Sirius und grinste.
Nun schaltete sich auch Lupin wieder in das Gespräch ein: „Padfoot, hältst du das für klug? Wenn einer von ihnen das mitbekommt ist Harry in großen Schwierigkeiten.“
Sirius schien einen Moment zu überlegen, dann sagte er zu Harry: „Ja, ich glaube Remus hat Recht, öffne es am Besten erst, wenn du im Zug bist. Ron und Hermine können es ruhig mitbekommen, ich vertraue ihnen, aber achte darauf, daß dich sonst keiner sieht. Alles weitere wirst du dann schon sehen.“
Harry nickte verunsichert. „Ja, ist Okay, werde ich machen. Vielen Dank Sirius. Macht’s gut ihr zwei, ich schreibe euch.“ Mit diesen Worten drehte Harry sich endgültig um und schob seinen Gepäckwagen auf die Absperrung zwischen Gleis 9 und Gleis 10 zu. In diesem Moment hörte er einen Schrei hinter sich: „Da, seht, das ist Sirius Black, ruft das Ministerium!“
Harry drehte sich verwirrt um und sah etwa zwanzig Meter von sich entfernt zwei Frauen. Sie starrten Sirius entgeistert an und eine der Beiden deutete mit ausgestrecktem Finger auf ihn.
„Geh, Harry, beeil dich!“, rief Remus ihm zu und zerrte Sirius mit sich von Gleis 9 ¾ fort. Harry zögerte. Er überlegte fieberhaft, ob er irgend etwas für Sirius tun konnte. Sein Pate durfte einfach nicht gefaßt werden, er hatte schon zu viele Jahre unschuldig in Askaban gesessen. Und was sollte Harry nur ohne ihn anfangen?
„Harry, geh!“, rief nun auch Sirius in seine Richtung. Harry wartete noch einen kurzen Moment bis Sirius und Remus hinter der nächsten Ecke verschwunden waren, dann nahm er einmal kräftig Anlauf, rannte durch die Barriere und betrat die Welt der Zauberer. Er konnte nur hoffen, daß Sirius und Remus entkommen waren, aber die beiden Frauen hatten keinerlei Anstalten gemacht sie zu verfolgen und so war Harry guter Hoffnung.
Auf dem Gleis 9 ¾ herrschte große Betriebsamkeit. Überall standen Schüler mit ihren Eltern und verabschiedeten sich, bevor sie in den Zug stiegen. Schon von weitem hatte Harry Ron und Hermine entdeckt, die beide bei Mr. und Mrs. Weasley standen. Harry winkte ihnen, und bedeutete mit einer ausholenden Geste, daß er im Zug auf sie warten würde. Dann betrat er sofort wie versprochen den Zug und begab sich ins letzte Abteil. Zum Glück war das Abteil noch leer, und Harry verstaute sein Gepäck.
Nach wenigen Minuten kamen Ron und Hermine, die beide etwas erstaunt waren über Harrys schnelle Flucht in den Zug, und setzten sich zu ihm. „Hallo Harry wie geht’s dir?“, fragte Ron.
„Was ist denn los, warum bist du gleich in den Zug gestürmt?“, wollte Hermine wissen.
Harry berichtete beiden von Sirius‘ Bitte und von dem Verwirrungszauber der das Abteil schützen sollte. Beide waren von dieser Idee sehr beeindruckt.
Die Fahrt nach Hogwarts verlief ruhig, und nun endlich hatte Harry genug Zeit seinen Freunden zu berichten, was in seinen Ferien alles passiert war. Er beschrieb alle Ereignisse aus dem Hause Dursley, den Besuch von Lupin und vor allem sein Aufenthalt bei Sirius und Remus.
„Boa“, sagte Ron überwältigt, „du sagst jetzt ‚du‘ zu einem Lehrer? Vielleicht sollten wir das mal bei Snape probieren, der wirft uns glatt in seinen Kessel.“ Alle drei lachten.
Als er von dem Zwischenfall auf dem Bahnhof berichtete starrte Ron ihn schockiert an und auch Hermine stutzte einen Moment, doch dann sagte sie: „Ich würde mir an deiner Stelle nicht zu viele Sorgen machen, Harry, Sirius weiß sich schon zu helfen. Überleg mal, wie lange er sich jetzt schon vor dem Ministerium versteckt.“
Harry nickte. Er konnte nur hoffen, daß sie Recht hatte.
Auf der weiteren Fahrt gab Harry noch ein paar Geschichten zum Besten, die Remus und Sirius ihm im Laufe der letzten Wochen erzählt hatten, zum Beispiel, wie sie oft heimlich die Schule verlassen hatten und durch den Verbotenen Wald geschlichen waren, oder wie sie die Geheimgänge von Hogwarts erforscht hatten um ‚Die Karte des Rumtreibers‘ anzufertigen. Harry erzählte auch, wie Remus und Sirius gelacht hatten, als er ihnen berichtet hatte, wie Snape vorletztes Schuljahr versucht hatte die Karte zu entschlüsseln. Damals hatte Snape Harry mit der verschlüsselten Karte in der Tasche erwischt und wollte unbedingt hinter ihr Geheimnis kommen. Doch als er die Karte mit dem Zauberstab berührt hatte und sagte: ‚Professor Severus Snape, Oberlehrer an dieser Schule, befiehlt dir, das Wissen, das du verbirgst, preiszugeben‘ hatte die Karte begonnen Snape wild zu beschimpfen und zu beleidigen.
Als ihnen langsam die Gesprächsthemen ausgingen fiel Harry wieder das kleine Päckchen ein, das er von Sirius bekommen hatte. Vorsichtig holte er es aus seiner Tasche.
„Was ist das?“, fragte Ron neugierig.
„Ich weiß auch nicht, Sirius hat es mir vorhin gegeben, bevor ich zum Zug gegangen bin. Er hat gesagt, daß ich es erst öffnen soll, wenn ich auf dem Weg nach Hogwarts bin.“
Auch Hermine war nun neugierig geworden. „Na los, mach schon auf“, sagte sie drängend.
„Okay, Ron, mach doch bitte mal den Vorhang zu, Sirius hat auch gesagt, daß das hier besser keiner sehen sollte, außer euch natürlich.“ Ron erhob sich und zog den kleinen Vorhang zu, der an den Fenstern der Abteiltüren angebracht war.
Harry öffnete vorsichtig das Paket und holte eine Kette aus dem alten, zerknitterten Papier. Es war eine feine, lange Goldkette mit einem goldenen Anhänger. Er war fast so groß wie ein Sickel, eingefaßt mit winzigen rot schimmernden Steinen. In der Mitte war ein Mann abgebildet, der mit einen Helm, einem Schild, einem Schwert und einer Lanze ausgerüstet war. Alles in Allem sah er aus wie ein alter, griechischer Krieger.
Ron und Hermine kamen neugierig näher. „Zeig mal, was ist das?“, fragte Ron.
„Hier sieh mal Harry, da war auch noch ein Zettel drin, der ist dir eben runtergefallen, mach schon lies ihn vor, ich bin ja so gespannt“, drängte Hermine.
Harry nahm den zerknitterten, gilbigen Zettel, faltete ihn auseinander und las seinen Freunden leise vor:
Mein lieber Harry,
wenn Du diesen Brief jemals lesen solltest, dann sind wir wahrscheinlich nicht mehr am Leben. Ich gehe davon aus, daß Lord Voldemort uns trotz aller Vorsichtsmaßnahmen gefunden hat, und da wir ihm nicht geben konnten was er verlangt hat, hat er wahrscheinlich kurzen Prozeß gemacht.
Nun Harry, hältst Du in Händen, was wir mit unserem Leben beschützt haben. Dieses Amulett hat große Macht wenn es in die falschen Hände gerät. Paß gut darauf auf, wir vertrauen Dir.
Ich gehe davon aus, daß Remus Lupin, Sirius Black oder Peter Petticrew es Dir gegeben haben. Halte dich immer an sie. Sie waren uns immer gute Freunde und haben uns mehrmals das Leben gerettet.
Und vergiß nie,
wir werden Dich immer lieben.
Mum & Dad
Als Harry den Brief zu Ende gelesen hatte, hatte er Tränen in den Augen. „Sie haben wirklich nicht gewusst, dass Wurmschwanz ihr Feind war. Sie haben ihm bis zum Schluß vertraut“, sagte er mit tränenerstickter Stimme.
Hermine und Ron wußten nicht was sie antworten sollten. Ron nickte nur stumm. Schließlich stand Hermine auf und nahm Harry wortlos in den Arm. Harry begann zu schluchzen. Es dauerte mehrere Minuten, bis er sich wieder beruhigt hatte.
Plötzlich wurde die Abteiltür aufgerissen. „Sieh mal an, der große Potter heult wie ein Baby, und das Schlammblut muß ihn trösten, wie rührend.“ Es war Draco Malfoy mit seinen Freunden Vincent Crabbe und Gregory Goyle im Schlepptau.
„Malfoy, mach daß du raus kommst“, blaffte Ron ihn an, „ich kann mich nicht erinnern, daß dich jemand eingeladen hat.“
Malfoy grinste hämisch. „Wenn ich das den anderen Slytherins erzähle, werden sie sich totlachen.“
Harry sprang auf und schrie ihn an: „Verschwinde Malfoy. Verschwinde in das Rattenloch, aus dem du gekrochen bist.“
Malfoy wollte eine bissige Bemerkung erwidern, doch sein Blick war auf das Amulett gefallen, welches Harry immer noch in der Hand hielt. Sein Mund klappte auf und er konnte nichts mehr sagen. Fast zur gleichen Zeit war Hermine aufgesprungen und stieß den verdatterten Malfoy samt Crabbe und Goyle nun unsanft aus dem Abteil. Dann schloß sie die Tür wieder mit einem lauten Rums.
Keiner sagte ein Wort. Schließlich brach Ron die Stille: „Ich glaube er hat es gekannt. Ist das möglich?“
Harry brachte keinen Ton heraus. Hermine antwortete ihm: „Hm, sah fast so aus. Wenn das Amulett wirklich so mächtig ist, und Voldemort schon vor 14 Jahren hinter ihm her war, dann ist es durchaus möglich, daß es auch sehr bekannt ist.“
„Verdammt“, rief Harry plötzlich aus, „ausgerechnet der muß hier rein platzen. Wenn er es seinem Vater erzählt, weiß Voldemort es auch bald. Lucius Malfoy wird es ihm erzählen. So etwas kann aber auch nur mir passieren.“
„Harry“, sagte Hermine beschwichtigend, „das hätte jedem passieren können, es war ein blöder Zufall. Du kannst nichts dafür. Ich schlage vor, daß wir, sobald wir wieder in Hogwarts sind, umgehend in die Bibliothek gehen, um herauszufinden, was das Besondere an diesem Amulett ist. Falls es wirklich bekannt ist, finden wir bestimmt etwas darüber.“
Ja, dachte Harry, das war wieder typisch Hermine, suchst du eine Antwort, geh in die Bibliothek, aber dieses mal hatte sie vielleicht recht.
„Ich finde Hermine hat Recht“, schaltete sich nun auch Ron wieder in das Gespräch ein. „Und wahrscheinlich sagt Malfoy es eh nicht seinem Vater. Der ist doch so blöd, der hat das 100 prozentig gleich wieder vergessen.“
Harry verzog das Gesicht. Er konnte Malfoy zwar nicht leiden, aber er mußte zugeben, daß der Junge sehr gerissen sein konnte. Schließlich war er nicht umsonst ein Slytherin. Nun ja, jetzt war sowieso nichts mehr zu ändern. Harry nickte zustimmend um das Gespräch zu beenden, und wie erwartet ließen seine Freunde auch von dem Thema ab.
Harry steckte das Amulett in seine Tasche und versuchte es vorerst aus seinen Gedanken zu verbannen. Im Moment konnte er nichts tun.
Es begann schon dunkel zu werden als der Hogwarts-Express endlich den Bahnhof von Hogsmeade erreichte. Die Schüler, nun alle gekleidet in ihren schwarzen Umhängen, verließen den Zug und strömten auf den Bahnsteig. Von weitem hörten Harry, Ron und Hermine ihren Freund Hagrid rufen: „Erstklässler zu mir!“
Sie drängten sich durch die Massen um zu Hagrid zu gelangen. Als sie ihn endlich erreicht hatten rief er: „Hallo Ihr drei, wie geht’s euch, habt ihr euch in den Ferien gut erholt?“ Die drei begrüßen Hagrid und bejahten seine Frage. Bevor sie noch etwas sagen konnten wurden sie von den anderen Schülern zu den Kutschen gedrängt, die vor dem Bahnsteig schon auf sie warteten. Harry, Ron und Hermine setzten sich gemeinsam in eine der pferdelosen Kutschen und ließen sich zur Schule fahren.
Als die Kutschen Hogwarts erreicht hatten stiegen alle Schüler aus und gingen sofort in die Große Halle. Wie jedes Jahr war die Halle festlich geschmückt. An den Wänden hingen die Banner der vier Häuser, Gryffindor, Hufflepuff, Ravenclaw und Slytherin, und die Tische waren mit goldenen Tellern gedeckt. Harry und seine Freunde betraten die Halle und wollten sich direkt auf den Weg zum Tisch der Gryffindors machen, als sie auf Professor Dumbledore trafen. Er war auf dem Weg zum Lehrertisch, am anderen Ende des Raums. Als er die drei Freunde bemerkte kam er auf sie zu und sagte: „Hallo ihr drei, na schöne Ferien gehabt?“ Er lächelte und seine Augen funkelten. Alle drei bejahten seine Frage.
Harry konnte sich schon vorstellen, daß der Direktor nicht ohne Grund zu ihnen gekommen war. Sicher wollte er gleich mit Harry über seine Bestrafung für das unerlaubte Zaubern reden. Aber mußte es unbedingt hier, vor allen Schülern sein?
Dumbledore blickte Harry freundlich an, als er fortfuhr: „Harry, bitte komm nachher, wenn das Festbankett vorbei ist in mein Büro. Ich muß mit dir sprechen.“ Harry hatte einen Kloß im Hals und nickte stumm. Dumbledore schien zufrieden mit Harrys Antwort und setzte seinen Weg zum Lehrertisch fort.
Harry, Ron und Hermine gingen zu ihren Plätzen und setzten sich. Gleich würde Professor McGonagall zusammen mit den Erstklässlern den Raum betreten, doch bis jetzt waren noch nicht alle Schüler der anderen Klassen da, und so warteten sie. Alle drei blickten neugierig zum Tisch der Lehrer.
„Komisch, ich sehe überhaupt keinen neuen Lehrer, oder könnt ihr jemanden sehen?“, fragte Harry seine Freunde.
Hermine machte einen langen Hals, als sie antwortete: „Nein, ich sehe auch niemanden, vielleicht kommt er ja später ....“
„Vielleicht haben wir kein ‚Verteidigung gegen die dunklen Künste‘ mehr“, fiel ihr Ron hoffnungsvoll ins Wort. Nachdem sie noch einen Moment gerätselt hatten sagte Harry plötzlich: „Habt ihr euch schon mal Snape genauer angesehen? Der sieht ziemlich mitgenommen aus, der hatte wohl keine schönen Ferien.“
„Oh weia“, stimmte Ron ihm zu, „der sieht ja aus, als hätte ihn ein Zug überfahren.“
„Hoffentlich haben wir Zaubertränke erst am Ende der Woche, der sieht im Moment nicht so aus, als ob er besonders gut gelaunt wäre“, pflichtete Hermine ihm bei.
Und in der Tat sah Severus Snape nicht besonders gut aus. Er hatte seit seiner Rückkehr von dem Treffen mit Voldemort nichts gegessen und war noch magerer als normal. Die Haut in seinem Gesicht war fahl und eine Strähne seines schwarzen, fettigen Haares hing ihm in die Stirn. Er hatte sehr schlechte Laune und machte ein Gesicht, daß sogar ein Troll reiß aus genommen hätte bei seinem Anblick. Mit zusammengekniffenen Augen starrte er die Schüler an, die nach und nach die Große Halle betraten, bis sein Blick an Harry hängen blieb. Harry bemerkte Snapes hasserfüllten Blick, und ein kalter Schauer lief ihm den Rücken hinunter. Schnell sah er wieder zu seinen Freunden. Der kalte, angsteinflößende Blick des Zaubertränkelehrers gefiel ihm ganz und gar nicht.
Bevor Harry, Ron und Hermine sich noch weitere Gedanken über Snape machen konnten, öffnete sich die große Eingangstür und Professor McGonagall betrat mit ungefähr vierzig nervösen Erstklässlern den Raum. Alle Gespräche verstummten. Die Lehrerin führte die neuen Schüler bis zum Tisch der Lehrer, vor dem schon ein Hocker stand, auf welchem ein alter, ausgefranster Zaubererhut lag. Dieser ‚Sprechende Hut‘ hatte die Fähigkeit in die Köpfe der Schüler zu blicken, und so war es seine Aufgabe die Neuen auf die vier Häuser zu verteilen.
Für einen Moment herrschte vollkommenes Schweigen. Dann tat sich direkt unter der Krempe des Hutes ein Riß auf, so weit wie ein Mund, und der Hut begann zu singen:
Es waren einmal vier Zauberer, sehr bekannt,
nach welchen unsre Häuser sind benannt.
Um zu entscheiden, wer in welches Haus gehört,
haben sie einen gewaltigen Zauber beschwört.
Sie verliehen mir von ihrem Wissen ein Stück,
und das ist jetzt für euch ein Glück,
denn die großen vier sind lange schon tot,
unmöglich ist es ihnen zu verkünden selbst ihr Gebot.
Ich bin zwar schon alt, doch weiß ich genau
wohin ihr gehört, denn ich bin erfahren und schlau.
Seid ihr tapfer und habt viel Mut,
ist Gryffindor für euch sehr gut.
Für alle von euch, die klug und weise sind,
ist Ravenclaw das Richtige, denn dort ist man im Denken geschwind.
In Hufflepuff ist man eifrig, treu und gerecht,
und Arbeit findet man nicht schlecht.
Doch habt ihr viel Ehrgeiz, und sucht nach der Macht,
das hat schon mancher in Slytherin vollbracht.
Ihr müßt mich nur einen Moment auf dem Kopfe tragen,
wohin ihr gehört, werde ich euch schon sagen.
Jetzt setzt mich schon auf, greift ruhig zu,
Denn ich weiß genau was ich hier tu.
Als der Hut sein Lied beendet hatte, folgte tosender Applaus. Jedes Jahr freuten die Schüler sich auf das Lied des Sprechenden Hutes, denn er sang nie das gleiche Lied zweimal. Dann wurden die Erstklässler auf die vier Häuser verteilt.
Nach der Zeremonie erhob sich Professor Dumbledore um die Schüler zu begrüßen: „Ich heiße euch herzlich zu einem neuen Schuljahr in Hogwarts willkommen. Auch in diesem Jahr wollen wir euch wieder soviel Wissen wie möglich vermitteln. Es wird sicher alle Schüler freuen zu hören, daß in diesem Jahr wieder der Quidditch-Pokal ausgespielt wird.“ Dumbledore wurde durch laute Jubelrufe unterbrochen und lächelte. „Dachte ich es mir doch, daß das in eurem Sinne ist. Bevor wir nun mit dem Essen beginnen, habe ich noch eine letzte Ankündigung zu machen. Wie viele von euch vielleicht schon bemerkt haben, befindet sich unter uns in diesem Jahr kein neuer Kollege. Das Lehrerkollegium ist sich darüber einig, daß es in der momentanen Situation, in der sich unsere Gesellschaft befindet, zu riskant ist, ein neues Mitglied bei uns aufzunehmen. Wir möchten nicht noch einmal ein solches Desaster wie im letzten Jahr erleben. Doch ich verspreche euch, daß ihr auch in diesem Schuljahr nicht auf ‚Verteidigung gegen die dunklen Künste‘ verzichten müßt. Zu unser aller Freude und Erleichterung konnte ich Professor Snape dafür gewinnen dieses Fach zu übernehmen.“
Im Saal entbrannte großer Lärm. Die Schüler am Slytherin-Tisch jubelten, die Schüler der anderen Häuser beschwerten sich lautstark und ein paar saßen wie versteinert auf ihren Plätzen. Snape blickte kalt über die Reihen der Schüler, und sein Mund verzog sich zu einem selbstgefälligen Lächeln, doch das Lächeln erreichte wie so oft nicht seine Augen, sie blieben kalt, starr und berechnend.
„Sieh dir dieses Arschloch an“, empörte sich Harry, und kassierte für diesen Ausdruck einen strengen Blick von Hermine. „Jetzt hat er es endlich geschafft. Ich kann mir bildlich vorstellen, wie Dumbledore ihn beknien mußte, damit er den Posten übernimmt. Wahrscheinlich sieht er so mitgenommen aus, weil er nächtelang gefeiert hat. Na das kann ja was werden“, beschwerte er sich weiter.
Dumbledore hob die Hand und die Gespräche verstummten. „Meine lieben Schüler, es gibt keinen Grund für diese Unruhe. Professor Snape hat große Erfahrungen im Bereich der schwarzen Künste und ist somit prädestiniert für diese Stelle. Um Professor Snape bei seiner Doppelbelastung etwas zu entlasten, wird Professor Sprout in diesem Jahr die Klassen eins bis vier in ‚Zaubertränke‘ unterrichten. Nun wünsche ich euch einen guten Appetit.“
Als Dumbledore zu Ende gesprochen hatte füllten sich die Teller wie von Zauberhand mit einer Vielfalt von Speisen, doch Harry war der Hunger vergangen. „Mann, jetzt haben wir zwei mal pro Woche Snape“, sagte er.
„Viermal“, unterbrach ihn Hermine kleinlaut.
„Was?“, rief Ron aufgebracht.
„Ja“, antwortete Hermine, „ab der fünften Klasse gibt es zwei mal pro Woche ‚Zaubertränke‘ und ‚Verteidigung gegen die dunkeln Künste‘. Dafür haben wir nur noch einmal ‚Pflege magischer Geschöpfe‘ und ‚Kräuterkunde‘.“
Harry stöhnte. „Na klasse, dann versucht Snape mich jetzt also nicht mehr einmal pro Woche platt zu machen, sondern viermal.“
Neville Longbottom, der bis jetzt nur still zugehört hatte sagte leise: „Oh nein, vier mal Snape, das wird furchtbar.“
Nach dem Essen gingen fast alle sofort in ihre Gemeinschaftsräume. Nur Harry machte sich auf den Weg zum Büro von Professor Dumbledore. Der Schulleiter hatte bereits vor gut zwanzig Minuten die Große Halle verlassen, aber Harry hatte es nicht allzu eilig seine Strafe abzuholen, und so hatte er noch einen Moment gewartet.
Als er den Wasserspeier, der die Tür zu Professor Dumbledores Büro verbarg, erreicht hatte blieb er stehen. Er kannte das Paßwort nicht und würde wohl oder Übel warten müssen, bis der Schulleiter ihm die Tür von innen öffnete. Harry betrachtete den großen, reichlich verzierten Wasserspeier, und sein Blick blieb an einem schmalen Spalt daneben hängen. Harry schaute genauer hin: die geheime Tür war offen! Hatte Dumbledore vergessen die Tür hinter sich zu schließen, oder hatte er sie für Harry aufgelassen? Nun, er würde es nicht herausfinden, wenn er davor stehen blieb. Er öffnete die Tür und ging die steile Wendeltreppe, die zu dem Büro führte, nach oben. Kurz bevor er das Ende der Treppe erreicht hatte, hörte er Stimmen. Professor Dumbledore schien nicht alleine zu sein, und Harry erkannte die andere Stimme sofort. Sie gehörte dem Zaubereiminister Cornelius Fudge. Harry blieb in einigem Abstand von der Tür stehen, denn er wollte das Gespräch nicht unterbrechen. Trotzdem konnte er es nicht vermeiden, daß er jedes Wort verstand, das die beiden Männer miteinander sprachen.
„Cornelius, ich bitte Sie“, sagte Dumbledore drängend. Er hatte scheinbar Mühe ruhig zu bleiben.
„Albus, ich kann nicht glauben, daß Sie immer noch einen Death Eater schützen“, antwortete Fudge verständnislos.
„Er wurde freigesprochen, das wissen Sie so gut wie ich“, empörte sich Dumbledore.
Harry konnte ein verächtliches Schnauben von Fudge hören. Dann sagte er abschätzig: „Einmal Death Eater, immer Death Eater. Wie können Sie sich so sicher sein, Albus, daß er sich nicht bereits wieder Sie-Wissen-Schon-Wem angeschlossen hat? Sie sind ein Narr, wenn Sie glauben, daß er Ihnen gegenüber loyal ist.“
„Ich vertraue ihm das sollte Ihnen genügen. Aber scheinbar haben Sie nun endlich akzeptiert, daß Lord Voldemort zurück ist“, schnaubte Dumbledore wütend.
Harry ging noch 2 Stufen höher, um besser hören zu können. Eigentlich wollte er nicht lauschen, aber es war doch zu interessant.
„Ich muss zugeben, die Hinweise dafür sind erdrückend. Wir schließen die Möglichkeit nicht ganz aus, daß er eventuell wieder etwas stärker geworden ist. Nichts desto trotz, meine Leute werden Ihren Lehrer im Auge behalten, seinen Sie versichert, sobald auch nur der kleinste Verdacht gegen ihn aufkommt, wird er die Mauern von Askaban in diesem Leben nicht mehr verlassen.“
„Cornelius, das ist lächerlich, Sie können nicht .....“
„Professor Dumbledore, das Gespräch ist für mich beendet. Aber ich warne Sie: wenn Sie einem Death Eater Schutz gewähren, sind Sie am Ende. Guten Abend.“
Harry hörte ein leises PLOPP. Dann war alles still. Scheinbar hatte Professor Dumbledore durch die Flammen mit dem Zaubereiminister gesprochen, denn Harry hatte das Geräusch des sich auflösenden Fudges sofort wiedererkannt. Er überlegte, ob er vielleicht ein paar Schritte nach unten gehen sollte, um dann mit festem Schritt wieder nach oben zu gehen, so daß Dumbledore wußte, daß jemand da war. Er wollte vermeiden, daß der Direktor das Gefühl hatte Harry würde ihn belauschen.
Noch während er überlegte was er am Besten machen sollte, hörte er plötzlich wieder eine Stimme aus dem Büro: „Komm herein, Harry.“
Harry betrat mit schlechtem Gewissen das Büro. Er hatte schließlich nicht absichtlich lauschen wollen. Professor Dumbledore lächelte Harry an und bedeutete ihm sich zu setzen. Er sah unheimlich müde und ausgelaugt aus. Das Gespräch mit Fudge mußte ihm ganz schön zugesetzt haben.
„Professor, ich wollte nicht ..... es tut mir leid ....“, stammelte Harry unbeholfen.
„Ist schon gut Harry, ich bin ja selbst Schuld, schließlich habe ich die Geheimtür offen gelassen. Mach dir keine Vorwürfe“, antwortete er.
Harry atmete auf. Doch ihn quälte noch eine Frage und er wollte wissen, ob seine Vermutung stimmte. Vorsichtig begann er: „Professor, entschuldigen Sie bitte, aber darf ich Ihnen eine Frage stellen?“
„Natürlich darfst du, aber ich kann dir nicht versprechen, daß ich sie dir auch beantworten kann“, sagte Dumbledore ruhig.
Harry dachte einen Moment nach, wie er am Besten anfangen sollte, dann fragte er zögernd: „Professor, der Lehrer, über den Sie mit Mr. Fudge gesprochen haben, war das Professor Snape?“
Dumbledore senkte leicht den Blick, dann sah er Harry direkt in die Augen. „Harry, ich habe volles Vertrauen zu Professor Snape. Wie du vor den Ferien mitbekommen hast, habe ich ihn um einen Gefallen gebeten. Er erweist uns einen unschätzbaren Dienst und geht damit ein sehr hohes Risiko ein. Das sollte als Antwort genügen.“
Harry nickte.
Beide saßen eine Weile schweigend da. Harry betrachtete die verschiedenen Portraits, die an den Wänden hingen. Es handelte sich um die früheren Schulleiter von Hogwarts. Einige schliefen bereits, ein paar andere schienen Harry genau zu beobachten. Fawkes, der Phönix, saß auf seiner Stange, hatten den Kopf unter die Flügel vergraben und schlief ebenfalls.
Nach einer Weile ergriff Dumbledore wieder das Wort. „Harry, wie du dir sicher denken kannst, habe ich dich noch wegen etwas anderem in mein Büro gerufen.“
Harry nickte wieder. Natürlich, seine Bestrafung, das hatte er in der Aufregung fast vergessen. Er spielte nervös am Saum seines Umhangs und blickte auf den Boden. Er traute sich nicht Dumbledore in die Augen zu schauen. Sicher war der Schulleiter enttäuscht von ihm. „Ja, ich weiß, Professor“, antwortete er niedergeschlagen, „in dem Brief vom Ministerium stand bereits, daß ich meine Strafe von Ihnen erhalten würde. Was werden Sie jetzt machen?“
Dumbledore schwieg einen Moment, dann sagte er sanft: „Harry, schau mich bitte an.“
Gehorsam hob Harry seinen Kopf und sah Dumbledore an. Der Schulleiter blickte ihn ernst an. „Du weißt, daß es minderjährigen Zauberern verboten ist außerhalb ihrer Schulen zu zaubern. Es ist zu eurem eigenen Schutz, denn wenn ein Zauber schief geht, ist niemand da um es zu korrigieren. Schlimme Dinge sind in der Vergangenheit passiert, als nur halb ausgebildete Zauberer sich überschätzt haben. Oft ist es fast zu spät wenn die Agenten des Ministeriums erscheinen, um einen Zauber rückgängig zu machen. Denk zum Beispiel an deine Tante, die du vor zwei Jahren aufgeblasen hast. Außerdem ist eines unserer größten Anliegen, daß unsere Existenz für die Welt der Muggel geheim bleibt. Das letzte Mal, als die Muggel auf uns aufmerksam wurden, war eine dunkle Zeit für unsere Gesellschaft. Wir wurden verfolgt und gejagt, Zauberer und Hexen wurden gefoltert und verbrannt. Niemand war mehr sicher.“
Harry nickte wieder stumm.
„Das Ministerium hat mich darüber in Kenntnis gesetzt, daß du einen Juck-Fluch angewandt hast, zugegeben ein sehr harmloser Zauber. Trotzdem möchte ich genau wissen, wie es dazu gekommen ist.“
Harry atmete tief durch, und erzählte Dumbledore alles was sich an diesem Tag in der Schule der Muggel zugetragen hatte. Als er geendet hatte blickte Dumbledore ihn immer noch ernst an und nickte. „Ich verstehe, daß du provoziert wurdest, das rechtfertigt aber noch nicht, was du getan hast. Nun also zu deiner Bestrafung.“
Harry senkte wieder den Blick, als Dumbledore fortfuhr. „Lass mich überlegen, das Zaubern außerhalb der Schule ist untersagt, du hast in einer Schule gezaubert, eine Schule der Muggel, aber doch eindeutig eine Schule. Nun, wenn ich mir die Sache genau betrachte sehe ich eigentlich keinen Grund, dir eine Strafe aufzuerlegen. Du bist durch dein schlechtes Gewissen gestraft genug.“
Harry starrte Dumbledore ungläubig an. Meinte der Direktor das ernst? Dumbledores Augen blitzten spitzbübisch und er zwinkerte Harry zu.
„Danke, Professor, vielen Dank“, stammelte Harry immer noch völlig verwirrt.
„Harry, ich möchte, daß du mir versprichst, daß so etwas nie wieder vorkommt. Das nächste Mal wird das Ministerium das Strafmaß vielleicht selbst festsetzen. Dann kann ich dir nicht mehr helfen.“
Harry strahlte nun über das ganze Gesicht. Er konnte es einfach nicht fassen, so glimpflich davon gekommen zu sein. „Natürlich, ich verspreche es. Ich werde mich zusammen reißen.“
Dumbledore nickte zufrieden. „Geh jetzt in deinen Gemeinschaftsraum, es war ein langer Tag.“
Harry erhob sich von seinen Stuhl, drehte sich um, um den Raum zu verlassen, blieb jedoch abrupt stehen.
„Gibt es noch etwas, Harry?“, fragte Dumbledore überrascht.
Harry drehte sich noch einmal um und ging wieder einen Schritt auf Dumbledores Schreibtisch zu. „Professor“, begann Harry unsicher, „ich wollte mich noch bei Ihnen bedanken, daß ich meine Ferien bei Sirius und Remus verbringen durfte. Ich ....“
„Ist schon gut, Harry“, antwortete Dumbledore mit einem Lächeln. Harry verließ erleichtert das Büro des Schuldirektors und ging zurück zum Gryffindor-Turm.
Vor dem Portrait der fetten Dame stand Ron und wartete auf ihn. „Hallo Ron, ich hab schon überlegt, wie ich in den Gemeinschaftsraum kommen soll. Ich hatte ganz vergessen Lee Jordan nach dem Passwort zu fragen, bevor ich zu Professor Dumbledore gegangen bin. Nett daß du gewartet hast.“
Ron grinste. „Immer zu Diensten“, sagte er in gespielt unterwürfigem Ton um machte eine tiefe Verbeugung vor Harry. Auch Harry konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.
Ron sagte das Passwort, „Rosenkavalier“, das Bild schwang zur Seite und sie betraten den Gemeinschaftsraum. Normalerweise fanden die Schüler an ihrem ersten gemeinsamen Abend kein Ende, zu interessant waren die Ferienerlebnisse der anderen, doch an diesem Abend war der Gemeinschaftsraum fast leer.
„Was ist denn hier los?“, fragte Harry verwirrt.
„Na ja, die sind alle ein bißchen geschockt wegen Snape, da hatte keiner mehr groß Lust noch über die Ferien zu reden. Was wollen die uns dieses Jahr denn noch alles antun? Snape in ‚Zaubertränke‘ und ‚Verteidigung gegen die dunklen Künste‘. Warum ist denn nicht einfach Lupin wiedergekommen? Das wäre doch das Beste gewesen. Er ist ein super Lehrer, und ihn kennen schon alle, er wäre also kein Fremder.“
Niedergeschlagen berichtete Harry von seinem Gespräch mit Lupin, welches er genau über dieses Thema mit ihm geführt hatte.
Als er seine Erzählung beendet hatte sagte Ron: „Aber jetzt erzähl mal, was hat Dumbledore gesagt?“
Harry und Ron setzten sich in ein paar Sessel vor dem Kamin und Harry berichtete von seinem Gespräch mit Professor Dumbledore.
Als er schließlich fertig war sagte Ron: „Hm, war ja schon vor den Ferien abzusehen, daß Fudge ziemlich geschockt war, als er erfahren hat, daß Snape ein Death Eater war. Aber ich find’s klasse, daß er dich nicht bestraft hat. Ist echt ein feiner Kerl.“ Sie unterhielten sich noch einen Moment, dann sagte Harry: „Ron, ich glaube ich gehe jetzt ins Bett, ich bin müde.“ Auch Ron gähnte herzhaft.
Gemeinsam gingen sie nach oben in ihren Schlafsaal. Ihre Mitschüler schliefen bereits. Sie zogen ihre Umhänge aus, schlüpften in ihre Pyjamas und gingen ins Bett.
Am nächsten Morgen trafen Harry und Ron Hermine im Gemeinschaftsraum und gingen gemeinsam mit ihr zum Frühstück. Auf dem Weg nach unten klärte Harry sie über die jüngsten Ereignisse auf.
Vor der Tür zur Großen Halle trafen sie auf ein paar Siebtklässler aus Slytherin. Als sie Hermine erblickten zischte einer von ihnen „Schlammblut“ und die anderen lachten hämisch. Hermine starrte sie wütend an und Harry legte ihr beruhigend eine Hand auf die Schulter. Sie warteten bis die Slytherins zu ihrem Tisch verschwunden waren und betraten dann ebenfalls die Halle.
Als sie den Tisch der Gryffindors erreicht hatten wedelten Fred und George, Rons Zwillingsbrüder, mit ein paar Bögen Pergament. „Kommt hier rüber“, rief George, „wir haben schon mal eure Stundenpläne in Empfang genommen. Da kann man ja echt neidisch werden, ihr habt Freitags nachmittags frei.“
„Ja, aber dafür haben wir vier mal Unterricht bei Snape“, schnauzte Ron ihn an.
Fred grinste. „Und? Wir doch auch. Aber eigentlich habt ihr ihn nur dreimal, ihr habt nämlich freitags ‚Zaubertränke’ und ‚Verteidigung gegen die dunklen Künste’ hintereinander.“ Harry stöhnte. Bei dem Gedanken Snape gleich zwei Doppelstunden hintereinander ertragen zu müssen drehte sich ihm der Magen um. Da hatten sie sich den freien Nachmittag im Anschluß redlich verdient. „Gib mal her“, sagte er zu den Zwillingen und nahm ihnen die Stundenpläne aus der Hand. „Na das fängt ja prima an“, maulte er, „erste Stunde ‚Geschichte der Zauberei‘ bei Binns und direkt danach Snape in ‚Verteidigung gegen die dunklen Künste‘.“
Noch während sie sich unterhielten flog eine große Schar Eulen mit der heutigen Post in die Große Halle. Ein großer Uhu ließ Hermine die neueste Ausgabe des ‚Tagespropheten‘ in den Schoß fallen. Sie faltete sofort die Zeitung auf und begann zu lesen.
„Harry, hier, sieh mal, da steht etwas von Sirius“, sagte sie leise, so daß Rons Zwillingsbrüder sie nicht hören konnten. Harry riß ihr die Zeitung aus der Hand und begann zu lesen:
Sirius Black in Kings Cross
Nach Augenzeugenberichten wurde gestern gegen elf Uhr vormittags der gefährliche Verbrecher Sirius Black, der vor etwa zwei Jahren aus dem Zauberei-Gefängnis Askaban entflohen ist, gesehen. Die Zeugen berichten, daß Black sich auf dem Bahnhof Kings Cross in London in der Nähe von Gleis 9 ¾ herumgetrieben haben soll.
Das Ministerium hat sofort drei Dementoren aus Askaban angefordert, doch als sie auf dem Bahnhof eintrafen, war Black bereits verschwunden.
Der Pressesprecher des Ministeriums hat uns mitgeteilt, daß nach diesem Vorkommnis wieder verstärkt nach Black gefahndet wird.
Sollte er in der Nähe von Hogwarts gesichtet werden, hat Minister Fudge bereits zugesagt, wieder Dementoren zum Schutze der Schüler, und im Besonderen für Harry Potter, zur Verfügung zu stellen. Nach Informationen, die dem Tagespropheten aus sicherer Quelle zugetragen wurden, hat Sirius Black bereits vor zwei Jahren versucht den jungen Potter zu töten.
„Er ist entkommen“, zischte Harry erleichtert. Fred, der ebenfalls einen Tagespropheten in der Hand hielt, sah zu ihm hinüber. „Ist wirklich eine Schande, daß sie Black schon wieder nicht erwischt haben.“ George nickte zustimmend.
Harry versuchte die Zwillinge zu ignorieren. In ihren Augen war Sirius nur ein gewöhnlicher Verbrecher, sie konnten ja nicht wissen, was vor eineinhalb Jahren alles in Hogwarts geschehen war. Harry wollte sich lieber gar nicht vorstellen, was passiert wäre, wenn die Dementoren Sirius erwischt hätten. Ron und Hermine sahen ihn mitleidig an. Sie wußten genau, was Harry fühlte.
Um sich etwas abzulenken wandte Harry sich wieder Rons Zwillingsbrüdern zu und fragte sie: „Was machen eigentlich ‚Weasleys Zauberhafte Zauberscherze‘?“
„Ach, wir können uns nicht beschweren“, antwortete Fred, und ein Grinsen machte sich auf seinem Gesicht breit.
„Wir haben in den Ferien sehr fleißig gearbeitet und zwölf neue Scherzartikel erfunden. Wenn wir nach diesem Jahr mit der Schule fertig sind steht unserer Karriere nichts mehr im Weg“, sagte George und grinste ebenfalls.
„Und das verdanken wir alles dir“, fügte Fred bedeutungsvoll hinzu und klopfte Harry anerkennend auf die Schulter.
Harry hatte den Zwillingen letztes Jahr nach dem Vorfall mit Voldemort den gesamten Gewinn geschenkt, den er als Preis für den Sieg beim Trimagischen Turnier gewonnen hatte. Er selbst hatte nichts von dem Geld behalten.
Schweigsam frühstückten sie und machten sich dann gemeinsam auf den Weg zu Professor Binns‘ Klassenraum. Professor Binns, ein Geist, den nicht einmal sein Tod davon abgehalten hatte weiter zu unterrichten, war in Hogwarts dafür bekannt den langweiligsten Unterricht der Schule zu geben, und auch an diesem Morgen bestätigte er dies wieder. Er hielt der gelangweilten Klasse einen langatmigen Vortrag über die Gebräuche der vorchristlichen Schamanen, und die einzige, die ihm zuhörte, war Hermine.
Nach der Geschichtsstunde machten sich die Gryffindors auf den Weg zu ‚Verteidigung gegen die dunklen Künste‘. Harrys einziger Trost war, daß sie dieses Fach nicht zusammen mit den Slytherins hatten. Aber eigentlich war das nur ein kleiner Trost.
Sie betraten das Klassenzimmer und Harry, Ron und Hermine suchten sich sofort Plätze in der letzten Reihe. Sie wollten so weit wie möglich von Snape entfernt sitzen.
Es hatte kaum geläutet, da betrat Professor Snape den Klassenraum. Sein schwarzer Umhang wehte dämonisch hinter ihm her.
Ohne ein Wort der Begrüßung ging er zu seinem Pult und fixierte die Klasse kalt. „Ihre Sitzordnung gefällt mir ganz und gar nicht“, sagte er leise. Es war fast nur ein Flüstern, doch alle konnten ihn mühelos verstehen. Snape hatte die Gabe auch ohne seine Stimme zu erheben sehr durchdringend zu sprechen. Er musste selten einmal laut werden, denn alle Schüler hatten zu viel Respekt und teilweise sogar Angst vor ihm, um ihn zu provozieren.
Ein Lächeln machte sich auf seinem Gesicht breit. „Darf ich die letzte Reihe bitten nach vorne zu kommen, hier sind noch genug Plätze frei. Mr. Longbottom, Sie bitte auch. Potter, kommen Sie am Besten gleich hier zu mir.“
Mißmutig standen Harry, Ron, Hermine und Neville auf und gingen in die erste Reihe, in die sich aus gutem Grund keiner gesetzt hatte: jeder wollte so weit wie möglich weg von Snape.
Als sie die vorderen Plätze erreicht hatten versuchten sie sich so weit wie möglich nach außen zu setzen, um wenigstens so noch etwas Abstand zwischen sich und Snape zu lassen. Snape blickte sie immer noch kalt an. „Potter, ich sagte Sie sollen zu mir kommen.“
Wieder stand Harry mißmutig auf und setzte sich auf den Platz direkt vor Snapes Pult. Ohne Harry eines weiteren Blickes zu würdigen wandte Snape sich wieder an die ganze Klasse. „Wie Sie schon von Professor Dumbledore erfahren haben, werde ich Sie im folgenden Schuljahr in ‚Verteidigung gegen die dunklen Künste‘ unterrichten. Wir haben eine Menge Stoff aufzuholen, denn Sie hängen weit zurück. Weder dieser besessene Professor Quirrell, noch der verrückte Mad Eye Moody, oder sagen wir besser Mr. Barty Crouch jr. hat Ihnen viel beigebracht. Von dem Werwolf sprechen wir lieber überhaupt nicht.“
Harry zischte zu Ron: „Das ist eine Frechheit!“
„Mr. Potter“, sagte Snape in einem öligen Tonfall, „würden Sie uns freundlicherweise an Ihrer Unterhaltung teilhaben lassen?“
Harry stockte der Atem. Er hatte nicht bedacht, daß er so nah an Snape saß, daß dieser jedes Wort verstehen konnte das Harry sagte. „Äh, nichts Professor“, antwortete er und versuchte so unschuldig wie möglich auszusehen.
„Potter“, zischte Snape jetzt gereizt, „was haben Sie gerade gesagt?“
Harry schluckte. „Ich sagte nur“, begann Harry vorsichtig, „daß wir bei Professor Lupin eine ganze Menge gelernt haben.“
Snape blickte Harry kalt an. Seine stechenden, schwarzen Augen fixierten ihn. Als Snape schließlich wieder sprach hatte er einen verschlagenen Ton in der Stimme. „Mr. Potter, ich bin nicht interessiert daran von Ihnen belehrt zu werden was gut und was schlecht ist. Bitte überlassen Sie dies meinem Urteil. Zufällig habe ich von Professor Dumbledore erfahren, daß Sie einen Teil Ihrer Ferien mit einem Werwolf und einem ehemaligen Gefangenen aus Askaban verbracht haben. Auf Grund dieses schlechten Einflusses, den Sie offenbar genossen haben, werde ich ein Auge zudrücken und von einer Strafarbeit für dieses ungebührliche Verhalten absehen. Doch ich rate Ihnen zukünftig Ihre Zunge im Zaum zu halten.“
Snape machte eine kurze Pause und fuhr dann wieder in öligem Tonfall genussvoll fort: „Fünf Punkte Abzug für Gryffindor für Ihre Frechheit, Mr. Potter.“
Haß stieg in Harry auf. Er wäre Snape am liebsten an die Gurgel gegangen, aber dann hätte Snape Gryffindor wahrscheinlich so viele Punkte abgezogen, daß sie selbst am Ende des Schuljahres noch weniger als null hatten.
Snape blickte nun wieder auf die ganze Klasse. „In der ersten Hälfte dieses Schuljahres werden wir eingehend den Stoff der letzten Jahre wiederholen und versuchen Ihre enormen Wissenslücken zu schließen. Doch ich denke wir sollten erst einmal überprüfen, was Sie in den letzten vier Jahren gelernt haben, oder besser was Sie versäumt haben zu lernen. Nehmen Sie bitte ihre Federn heraus, wir schreiben einen Test.“
Die Klasse stöhnte auf. „Ruhe“, zischte Snape gefährlich und fuhr dann drohend fort, „ich warne Sie, dieser Test wird in vollem Umfang in Ihre Abschlußnote eingehen, also rate ich Ihnen sich anzustrengen.“
Mit diesen Worten stand er auf und begann die Aufgaben-Blätter in der Klasse zu verteilen. Der Test enthielt tatsächlich alles, was sie in den letzten vier Jahren durchgenommen hatten. Selbst Hermine stöhnte auf, als sie die umfangreiche Aufgabenstellung sah.
Nach einer scheinbar endlosen Stunde wurden die Schüler vom Klingeln erlöst. Alle packten ihre Sachen zusammen und verließen den Klassenraum, als Snape plötzlich rief: „Potter hierblieben, die anderen können gehen.“
Als alle die Klasse verlassen hatten ging Harry vorsichtig zu Professor Snape. Er hatte schon befürchtet, daß seine unbedachte Äußerung von vorhin noch ein Nachspiel haben würde.
Snape blickte Harry direkt in die Augen und ein fieses Grinsen umspielte seinen Mund als er schließlich in seinem öligsten Tonfall zu sprechen begann: „Mr. Potter, auf Grund der besonderen Umstände hat Professor Dumbledore mich gebeten Ihnen meine ganz besondere Aufmerksamkeit zu teil werden zu lassen.“ Dann fuhr er etwas kälter fort: „Damit Sie das nächste Mal nicht wieder wie ein hilfloses, kleines Kind vor Lord Voldemort stehen, werden einige Sonderlektionen fällig werden.“ Er machte eine kurze Pause. „Sie werden mich zukünftig Dienstags und Donnerstags pünktlich um 19:00 Uhr in diesem Klassenraum treffen. Dann wollen wir mal sehen, ob wir etwas gegen Ihr alarmierend armseliges Wissen unternehmen können.“
Im ersten Moment brachte Harry kein Wort hervor. Er kochte vor Wut und starrte Snape nur wortlos an. Snape schien Harrys Ärger zu bemerken und sein fieses Lächeln kehrte zurück. Als Harry schließlich seine Sprache wiedergefunden hatte sagte er empört zu Professor Snape: „Aber Professor, ich ........“
„Keine Widerrede, Potter“, blaffte Snape ihn an, „es ist die ausdrückliche Anweisung von Professor Dumbledore. Seien Sie versichert, daß diese Idee mit Sicherheit nicht von mir stammt. Aber Sie können sich genauso sicher sein, daß ich die mir übertragene Aufgabe ernst nehmen werde. Sehr ernst. Außerdem muß ich darauf bestehen, daß dies unter uns bleibt. Wenn die falschen Leute von diesen Lektionen erfahren, kann das sehr unangenehme Konsequenzen haben. Sie können gehen, Potter.“
Harry verließ wie in Trance das Klassenzimmer.
Ron und Hermine hatten vor der Tür auf Harry gewartet. „Und, was wollte er?“, fragte Ron neugierig. Harry wollte seinem besten Freund antworten brachte aber kein Wort heraus.
„Na los, erzähl schon“, sagte Hermine ungeduldig, „hat er dir jetzt doch eine Strafarbeit gegeben?“
„Nein“, antwortete Harry niedergeschlagen, „viel schlimmer.“
Ron blickte Harry verständnislos an. Wie konnte etwas noch schlimmer sein als eine Strafarbeit? Das letzte Mal, als er eine Strafarbeit erledigen mußte, hatte Snape ihm das Putzen der Bettpfannen im Krankenflügel aufgehalst.
„Was kann denn schlimmer sein als eine Strafarbeit? Hat er dir einen Heiratsantrag gemacht?“, fragte Ron verwirrt.
„Professor Dumbledore hat Snape angewiesen mir zwei Mal pro Woche abends Sonderunterricht zu geben. Wegen Voldemort“, sagte Harry deprimiert.
Ron stand mit offenem Mund vor Harry und wußte nicht was er sagen sollte.
Hermine überlegte kurz, dann sagte sie: „Hm, von Snape kannst du sicherlich eine Menge lernen. Er weiß viel über die dunklen Künste und Ihr-Wißt-Schon-Wen.“
„Hermine“, rief Ron entsetzt, „es ist SNAPE. Hast du den Verstand verloren?“
„Entschuldige, du hast ja recht Ron“, murmelte Hermine „Was willst du jetzt machen?“, fragte sie zu Harry gewandt.
Harry blickte sie verwundert an und antwortete: „Ich kann gar nichts machen, es ist die ausdrückliche Anweisung von Dumbledore. Snape hat sich nicht um diese Aufgabe gerissen, das hat er mir selbst gesagt.“
Rons Blick wurde nun mitleidig. „Das klingt ja gar nicht gut. Der wird dich Stück für Stück auseinander nehmen“, meinte er.
„Danke Ron“, antwortete Harry sarkastisch.
Nun wurde auch Hermines Blick etwas mitfühlender, als sie sagte: „Oh Harry, sechs mal pro Woche Snape, das klingt nicht wirklich gut.“
Ron dachte einen Moment nach, dann sagte er leise, damit kein anderer außer Harry und Hermine ihn hörten: „Aber es wundert mich nicht, dass niemand von diesen extra Stunden erfahren soll. Stell euch mal vor, falls Snape wirklich wieder bei den Death Eatern ist, und Ihr-Wißt-Schon-Wer erfährt, dass er Harry hilft, dann ist er fällig.“
Hermine nickte zustimmend und sagte: „Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass Ihr-Wißt-Schon-Wer dafür besonders viel Verständnis haben würde. Wenn zum Beispiel Malfoy davon Wind bekommt und es seinem Vater erzählt, weiß Ihr-Wißt-Schon-Wer es auch bald. Eigentlich ist es ja sehr mutig von Snape dir zu helfen.“
Harry schnaubte verächtlich. Ob Snape mutig war oder nicht, war ihm eigentlich völlig egal.
„Ja, falls er überhaupt wieder bei Ihr-Wißt-Schon-Wem ist. Das wissen wir nicht mit Sicherheit“, warf Ron ein.
Harry nickte nachdenklich. Nein, Professor Dumbledore hatte nicht definitiv gesagt, dass Snape wieder zu den Death Eatern und Voldemort zurückgekehrt war. Er hatte nur von einem Gefallen gesprochen. Sie konnten nur vermuten, dass es damit zusammen hing, dass Snape wieder als Spion für Hogwarts arbeiten sollte.
Nach einer kurzen Pause sagte er: „Na kommt schon, es gibt gleich Mittagessen.“
Harry stocherte lustlos in seinem Essen herum. Er hatte keinen Hunger, auch wenn er schon gestern und heute morgen nicht viel gegessen hatte. Ihm war der Appetit mittlerweile endgültig vergangen. Mißmutig blickte er zum Lehrertisch, und sein Blick blieb an Snape haften, der zwar mit den anderen Lehrern am Tisch saß, sich aber an keinem der Gespräche beteiligte, und auch keinen Bissen anrührte. Harry schnaubte leise. Nein, dachte er, soweit würde es nicht kommen, und steckte sich einen großen Bissen seiner Nudeln in den Mund. Er würde es nicht so weit kommen lassen, daß er auch so hager wurde wie Snape, so daß all seine Mitschüler noch sagen würden ‚seht ihr, die beiden passen doch zusammen‘.
Nach dem Mittagessen hatten sie Verwandlung bei Professor McGonagall. Sie hieß die Schüler herzlich zu einem neuen Jahr auf Hogwarts willkommen. „Wir haben dieses Jahr viel vor“, fuhr sie fort. „Die letzten vier Jahre haben wir uns zwar schon mit der Verwandlung von einer Form in eine andere beschäftigt, doch in diesem Jahr möchte ich euch die ‚stufenweise Transformation‘ genauer erläutern. Kann mir jemand sagen was das ist?“
Sofort war Hermines Hand oben. Professor McGonagall wartete noch einen Moment, ob sich noch andere Schüler melden wollten, dann sagte sie: „Miss Granger, was können Sie uns über die stufenweise Transformation sagen?“
Hermine räusperte sich demonstrativ, dann antwortete sie der Lehrerin: „Unter der stufenweisen Transformation versteht man die Kunst, in der Regel Gegenstände, seltener Tiere oder Pflanzen, innerhalb von mehreren Schritten von einer in eine andere Form zu verwandeln.“ Hermine blickte ihre Lehrerin erwartungsvoll an.
„Gut Miss Granger, aber vielleicht ein bißchen sehr theoretisch.“ Dann wandte sie sich wieder der ganzen Klasse zu: „Bei dieser Art der Verwandlung geht es ganz einfach darum, daß man die Verformung des Objekts genauer steuert. Wenn man die stufenweise Transformation perfekt beherrscht, ist es möglich einen Verwandlungszauber jederzeit zu verlangsamen, oder sogar zu stoppen. Man kann ihn aber auch schrittweise ablaufen lassen, immer Stück für Stück. Ich werde es Ihnen an einem ganz einfachen Beispiel demonstrieren.“
Mit diesen Worten legte Professor McGonagall einen roten Apfel auf den Tisch. Sie sagte „Transmuto partiale“, und mit einem Wink ihres Zauberstabs schien der Apfel etwas ovaler zu werden und der Stiel am oberen Ende wurde deutlich kürzer. Sie wartete einen Moment. Dann bewegte sie wieder kurz den Zauberstab, und der Apfel wurde noch etwas ovaler, fast wie ein Ei und bekam gelbe Tupfen. Mit einer weiteren Bewegung ihres Stabes wurde der längliche Apfel nun schmaler und noch etwas länger, die gelbe Farbe überwog nun deutlich und der Stiel war verschwunden. Wieder legte sie eine kurze Pause ein, damit die Schüler alle genau sehen konnten was mit dem Apfel geschehen war. Mit einem letzten Wink hatte der Apfel nun endgültig die Form einer gelben Banane angenommen. Die Schüler staunten. Natürlich war es nicht so schwer einen Apfel in eine Banane zu verwandeln, schließlich gehörten beide in die selbe Kategorie, doch bis jetzt hatten sie einfach nur ihre Zaubersprüche aufgesagt, und gehofft, daß die Verwandlung vollständig ablaufen würde.
Nachdem Professor McGonagall ihnen noch einen längeren Vortrag über die Betonung der Formel und des genauen Bewegungsablaufes mit dem Zauberstab gehalten hatte, durften nun auch die Schüler ihr Glück probieren. Mit einem Schlenker ihres Zauberstabes verteilte sie Äpfel an alle Schüler.
Ein leises Stimmengewirr wurde nun im Raum laut, als alle Schüler anfingen die Zauberformel aufzusagen um die Äpfel zu verwandeln. Bei keinem wollte es so richtig gelingen. Selbst Hermines Apfel machte keine großen Anstalten sich in eine Banane zu verwandeln. Harry beobachtete sie gelangweilt. Er hatte Professor McGonagalls Vortrag zwar gehört, aber kaum ein Wort richtig mitbekommen. All seine Gedanken kreisten um Snape.
Plötzlich wurde er von einem lauten Knall aus den Gedanken gerissen. Er blickte sich verwirrt um. „Ih gitt, was für eine Sauerei!“, schrie Dean Thomas. Harry konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Dean war von oben bis unten mit Apfelmus bekleckert. Neville Longbottom hatte etwas zu energisch versucht seinen Apfel zu transformieren und aus lauter Protest war dieser kurzerhand einfach in tausend Stücken in die Luft geflogen. Seamus Finnigan, der neben Dean saß, streckte die Hand aus und kratzte etwas von dem Mus aus Deans Haaren. Stirnrunzelnd steckte er das Apfelmus in den Mund und kicherte zu Neville gewandt: „Mmmm, schmeckt glaube ich schon ein klein bißchen nach Banane.“
Neville lief feuerrot an. Er war es ja gewöhnt, daß alles was er tat in die Hose ging, aber normalerweise fanden Explosionen immer nur in ‚Zaubertränke‘ statt. Alle außer Professor McGonagall lachten laut. „Ruhe“, rief sie aufgebracht, „Dean, gehen Sie am besten in den Gryffindor-Turm, und waschen Sie sich das Zeug aus den Haaren.“ Dean verließ den Raum, und der Rest der Stunde lief ohne weitere nennenswerte Vorkommnisse ab.
Nach dem Unterricht gingen die Gryffindors in ihren Gemeinschaftsraum. Harry trottete lustlos hinter Ron und Hermine her. Ron blickte ihn mitleidig an und sagte aufmunternd: „Schreib doch mal an Sirius, vielleicht kann er noch mal mit Dumbledore reden.“
Harry zuckte zusammen, Sirius, er hatte gestern abend ganz vergessen ihm zu schreiben. Harry nickte und antwortete Ron: „Ja, gute Idee. Ich verstehe nur nicht, warum Professor Dumbledore mir gestern abend nichts davon gesagt hat.“
Dann setzte er sich in eine Ecke des Gemeinschaftsraums und schrieb einen Brief an Sirius und Remus. Er hatte das Gefühl sich nun endlich alles von der Seele reden zu können, was ihn die letzten zwei Tage bedrückt hatte. Zwar hatte er schon ausgiebig mit Ron und Hermine gesprochen, aber von Sirius und Remus versprach er sich irgendeine Patentlösung. So beschrieb er wie Malfoy ihn im Zug mit dem Stein gesehen hatte und daß Snape nun auch ‚Verteidigung gegen die dunklen Künste‘ unterrichtete. Zum Schluß berichtete er noch von Dumbledores Idee, Snape solle ihm extra Unterricht geben. Während er diesen Brief schrieb kam ihm plötzlich ein seltsamer Gedanke. Sirius hatte Dumbledore doch über alles informiert was in den letzten Wochen vorgefallen war, ob Dumbledore Sirius in dieser Zeit auch schon über diesen Punkt informiert hatte? Hatte Sirius schon davon gewußt, als sie sich am Bahnhof Kings Cross verabschiedet hatten? Harry wollte sich einfach nicht vorstellen, daß sein Pate ihm etwas verheimlichen könnte. Das war einfach unmöglich.
Als er den Brief beendet hatte kam Colin Creavy, ein Viertklässler, auf ihn zugerannt. „Hallo Harry, wir haben uns ja noch gar nicht begrüßt. Wie waren deine Ferien? Ich war mit meinen Eltern auf Mallorca, war echt toll da. Warst du auch weg?“ All dies hatte Colin gesagt ohne auch nur einmal Luft zu holen.
Harry seufzte und murmelte „Hallo Colin“.
Gerade als Colin zu einem neuen Vortrag ansetzen wollte stand Harry wortlos auf und ließ Colin stehen. Er hatte keine große Lust sich mit ihm auseinander zu setzen, er wußte, daß er, wenn er einmal anfing mit Colin zu reden, ihn nie mehr los werden würde. Statt dessen machte er sich auf den Weg in die Eulerei, um Hedwig den Brief für Sirius und Remus zu bringen.
Es war schon dunkel als Harry das Schloß verließ, aber es störte ihn nicht. Er war schon oft im Dunkeln über das Schulgelände gelaufen und konnte sich nicht vorstellen, daß ihm hier etwas Schlimmes passieren konnte.
Als er die Eulerei erreicht hatte waren die meisten der Vögel schon ausgeflogen. Harry spähte in die Dunkelheit und rief Hedwig, in der Hoffnung, daß sie noch da war. Er brauchte nicht lange zu warten, bis Hedwig angeflogen kam. Sie setzte sich auf Harrys Schulter und knabberte zur Begrüßung zärtlich an seinem Ohr.
„Hallo Hedwig, meine Gute“, begrüßte Harry sie, „na, fühlst du dich fit genug für einen kleinen Ausflug?“ Wie zur Bestätigung streckte Hedwig ein Bein aus, damit Harry seinen Brief daran befestigen konnte. Als er fertig war erhob Hedwig sich sofort in die Luft und verschwand in der Nacht. Harry blickte ihr noch einen Moment nach, bis die Dunkelheit die weiße Eule endgültig verschluckt hatte.
Dann machte er sich wieder auf den Weg zur Schule. Er war so in seine Gedanken versunken, daß er die Gestalt, die hinter ihm her schlich nicht bemerkte. Auf halbem Weg zur Schule wurde Harry durch einen Ruf aus seinen Gedanken gerissen. „Harry, was machst du’n hier?“, fragte eine tiefe Stimme.
Harry drehte sich ruckartig um. „Ach Hagrid, hast du mich erschreckt“, antwortete Harry erleichtert. Bei seinem Glück hätte er jetzt eigentlich Professor Snape hinter sich erwartet.
Hagrid sah ihn verwundert an und sagte: „‘Tschuldigung, wollt ich nicht. Was machst du hier draußen? Es is‘ schon spät. Ausgerechnet du solltest nun wirklich nicht im Dunkeln hier draußen rum schleichen.“
„Ich wollte nur noch einen Brief abschicken, vorher bin ich noch nicht dazu gekommen, weißt du, und ich hatte doch versprochen gleich zu schreiben, sobald ich in Hogwarts angekommen bin.“
„Harry, das is‘ trotzdem nich gut. Ich bring dich jetzt besser wieder in die Schule, bevor dich noch jemand anders hier draußen erwischt. Da könntest du richtig Ärger bekommen“, antwortete Hagrid.
Harry nickte und sagte: „Okay, danke Hagrid.“
Schweigend machten sie sich wieder auf den Weg zur Schule. Am Portal verabschiedeten sie sich und Hagrid sagte: „Kommt die Tage doch mal auf nen Tässchen Tee vorbei. Ich hab grad gestern frische Kekse gebacken.“
„Ja ist gut Hagrid, ich werde es auch Hermine und Ron sagen. Machs gut.“
Harry ging wieder zum Gryffindor-Turm und war froh, daß er sonst niemandem auf den Korridoren begegnete. Als er das Bild der fetten Dame erreicht hatte sagte er das Paßwort „Rosenkavalier“ und betrat den Gemeinschaftsraum. Überall saßen Schüler und machten die ersten Hausaufgaben, lasen oder unterhielten sich. Er brauchte nicht lange zu suchen, bis er an einem der Fenster Ron und Hermine entdeckte. Sie saßen gemeinsam mit Ginny an einem Tisch und spielten ‚Snape explodiert‘. Harry gesellte sich zu ihnen.
„Ach Harry, da bist du ja, hast du den Brief weggeschickt?“, fragte Hermine.
Harry nickte.
„Bin mal gespannt was Sir..... äh Schnuffel so schreibt“, sagte Ron. Fast hätte er Sirius beim Namen genannt, aber außer ihm, Hermine, Dumbledore und mittlerweile auch Snape und Mr. und Mrs. Weasley durfte niemand wissen, daß Sirius Black Harrys Pate war. Schließlich war er offiziell immer noch ein flüchtiger Verbrecher.
Ron sah unsicher zu Ginny hinüber. Hoffentlich hatte sie nicht verstanden um wen es hier ging. Ginny blickte von einem zum anderen. Als ihr Blick für einen Moment an Harry hängen blieb lief ihr Gesicht sofort rot an. Sie murmelte irgend etwas von Zaubertränke-Hausaufgaben und machte sich so schnell sie konnte aus dem Staub. Hermine blickte ihr mitleidig hinterher, dann sagte sie zu Harry und Ron gewandt: „So Jungs, wann gehen wir in die Bibliothek wegen äh, ihr-wißt-schon-was? Morgen abend?“
„Nein“, antwortete Harry, „morgen ist Dienstag, da muß ich zu Snape.“
„Hm, vielleicht können Hermine und ich schon mal alleine anfangen“, schlug Ron vor.
Harry blickte ihn ungläubig an, das war gar nicht typisch für Ron, freiwillig in die Bibliothek zu gehen. Es mußte ihn wirklich brennend interessieren, was es mit der Kette auf sich hatte. „Klar“, sagte Harry schließlich, „wenn es euch nichts ausmacht könnt ihr ja schon mal schauen ob ihr etwas findet. Ich stoße dann einfach später zu euch. Da Snape selbst gesagt hat, daß er keine große Lust hat, hoffe ich, daß er mich nach spätestens einer Stunde wieder gehen läßt.“
Hermine sah ihn zweifelnd an, sagte jedoch nichts. Das wäre gar nicht typisch für Snape, dachte sie.
Den Rest des Abends verbrachten sie mit ‚Snape explodiert‘ doch Harry war so unkonzentriert, daß er dauernd verlor. Als die Uhr schließlich schon nach elf anzeigte machten sie sich auf den Weg in ihre Schlafsäle.