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Kapitel 3: Das Portrait
Wie lange er so dort gestanden und auf das Grabmal gestarrt hatte, wusste Harry nicht, als er plötzlich etwas im letzten Strahl der Sonne blinken sah. Etwas, das vor seinen Füßen lag, genau an der Stelle wo nur Minuten zuvor - oder waren es Stunden? - Snapes Blut ins Gras gesickert war. Harry bückte sich. Es war ein Spiegel. Ein kleiner, quadratischer Spiegel, fast genau so einer wie der, den Sirius ihm einst gegeben hatte. Er sah alt aus und war unglaublich dreckig. Eine Schicht aus Staub und einer dunklen, klebrigen Substanz überzog den Spiegel und ein tiefer Riss lief quer über das Glas, von einer Ecke bis zur anderen. Er musste aus Snapes Umhang gefallen sein ... Harry nahm den Spiegel, wobei er darauf achtete nicht das Blut des Verräters zu berühren, wickelte ihn in sein Taschentuch und steckte ihn ein. Da er nach den Geschehnissen des Abends nicht gerade hungrig und auch nicht sonderlich erpicht darauf war, der Schulleiterin über den Weg zu laufen, machte er sich auf den Weg zu Hagrids Hütte, als er plötzlich jemanden seinen Namen rufen hörte.
"Harry, warte!", keuchte Ron, der hinter ihm her gerannt kam. "McGonagall will dich sprechen. In ihrem Büro. Sofort, hat sie gesagt."
"Nun, dann muss ich wohl gehen", sagte Harry beiläufig, obwohl er plötzlich ein flaues Gefühl in der Magengegend verspürte. Was, wenn McGonagall seine Aktion nicht gut hieß? Aber Snape wurde gesucht, tot oder lebendig, seine hässliche, hakennasige Visage starrte einen von überall her finster und fettig an, von Plakaten in Geschäften, Litfasssäulen, Alleebäumen ...
"Im Gemeinschaftsraum gibt es heiße Schokolade", versuchte Ron seinen Freund aufzuheitern, während er mit ihm zurück zum Schloss lief.
"Großartig. Falls McGonagall mich nicht in ein Nadelkissen verwandelt, komme ich und geselle mich zu euch", sagte Harry düster und stoppte damit Rons Versuche einer Unterhaltung. In dumpfem Schweigen gingen sie weiter.
"Man sieht sich, Harry", murmelte Ron und nahm die Treppe, die hoch zum Gryffindor-Turm führte. Alleine setzte Harry seinen Weg zum Büro der Schulleiterin fort.
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Als Harry das Büro der Schulleiterin betrat, wies diese wortlos auf den Stuhl auf der anderen Seite des riesigen, klauenfüßigen Schreibtisches, an dem sie saß. Sie schaute Harry eine ganze Weile mit unergründlichem Gesichtsausdruck an.
"Severus Snape ist kein Verräter", sagte sie schließlich ruhig, aber fest.
"Nein?", fragte Harry scharf. In seiner Stimme schwang tiefer Sarkasmus, als er fortfuhr: "Ich denke, Sie vergessen da ein klitzekleines Detail, Professor. Er hat Albus Dumbledore ermordet, erinnern Sie sich?"
"Ja, in der Tat hat er das getan, Harry", gab die Direktorin mit einem Seufzen zu. "Jedoch hat er dies auf Professor Dumbledores Befehl hin getan. Ich wusste es damals auch nicht. Das Portrait hat es mir gesagt."
"Auf - auf Dumbledores Befehl?" Harry schaute wie vom Donner gerührt. "Warum sollte Dumbledore wollen, dass Snape ihn tötet? Das macht überhaupt keinen Sinn!"
"Es macht Sinn, das versichere ich Ihnen, schrecklichen Sinn. Ich wünschte ich hätte von dem Wahnsinn gewusst, ich hätte es vielleicht verhindern können - doch nein, ich fürchte niemand hätte es stoppen können. Armer Albus, armer Severus." Sie seufzte wieder und blickte auf ihre gefalteten Hände, die auf demselben Schreibtisch ruhten, an dem Professor Dumbledore so oft gearbeitet hatte. Nach einem Augenblick des Schweigens hörten sie beide ein leises Räuspern von der Wand her. Das Portrait von Albus Dumbledore lächelte mit freundlich blitzenden Augen auf sie herab. Doch bei genauerem Hinsehen schien eine verborgene Trauer im Blick des Gemäldes zu liegen, von der Harry sich sicher war, dass er sie zu Lebzeiten des Schulleiters nie darin gesehen hatte.
"Minerva, würdest du bitte fortfahren? Der Junge hat ein Recht darauf, die Wahrheit zu hören." Der gemalte Dumbledore wandte seine blitzenden Augen Harry zu. "Ich nehme an, wir hätten es dir viel früher erzählen sollen, Harry, jedoch hattest du schon immer diese Tendenz, Befehlen nicht so ohne weiteres zu gehorchen. Dies hätte all unsere Anstrengungen zunichte machen können ... Abgesehen davon hatte ich Severus versprochen, niemandem den wahren Grund für seine Abkehr von Voldemort zu nennen, so lange ich lebe. Aber nun, da ich nicht mehr am Leben bin ..." Dumbledores Stimme verebbte.
"Ja, was wollten Sie mir erzählen, Direktor?", fragte Harry, als das Portrait nicht weiter sprach.
"Oh, entschuldige, Harry, ich bin dieser Tage etwas vergesslich, fürchte ich. Ich werde es dir zeigen. Aber zuerst sollte die Direktorin mit ihrer eher traurigen Geschichte fortfahren. Minerva?" Er wandte seinen blitzenden Blick wieder der neuen Schulleiterin zu.
McGonagall hielt einen Augenblick inne, um ihre Gedanken zu sammeln, bevor sie weiter erzählte. "Vor fast zwei Jahren suchte Narcissa Malfoy in Begleitung ihrer Schwester Bellatrix Severus auf, um ihn zu bitten, ihrem Sohn Draco bei der Ausführung eines wichtigen und äußerst gefährlichen Auftrags ihres Meisters beizustehen. Um Narcissa dazu zu verleiten Voldemorts Pläne auszuplaudern, bluffte Severus und tat so, als hätte Voldemort nicht nur den Black-Schwestern seine Absichten offenbart, sondern auch ihm. Unglücklicherweise schlug diese Taktik gründlich fehl. Das Ende vom Lied war, dass Severus sich gezwungen sah Narcissa Malfoy gegenüber einen Unlösbaren Schwur abzulegen und, wie Sie bereits wissen, zu geloben ihren Sohn Draco zu beschützen. Was Sie noch nicht wissen ist, dass er außerdem gelobte die Tat, die Voldemort dem Jungen aufgetragen hatte, zu vollenden falls Draco versagen sollte, ohne jedoch die geringste Ahnung zu haben, was er da schwor. Hätte er sich geweigert, auch diesem Teil des Schwurs zuzustimmen, hätte es ausgesehen, als ob Severus seinem Meister nicht so treu ergeben war, wie er behauptete. Und Bellatrix und viele andere misstrauten ihm ohnehin bereits tief. Voldemort selbst hatte Peter Pettigrew im Haus von Severus platziert, und Severus war überzeugt, dass es Peters wirkliche Aufgabe war ihn auszuspionieren und Beweise für seinen Verrat zu finden, nicht ihm beim Brauen zur Hand zu gehen. Der Unlösbare Schwur war der beste Weg, um ein für alle Mal diejenigen zu überzeugen, die an seiner Loyalität zweifelten, der beste Weg um an wirklich wichtige Informationen zu gelangen. Daher entschied Severus, dass es Wert war ihn abzulegen, auch wenn er ihn am Ende brechen musste. Und Sie wissen, was dies für ihn bedeutet hätte, nicht wahr, Mr. Potter?"
"Er wäre gestorben."
"Ja, er wäre gestorben." Minerva schaute Harry eindringlich an. "Und Severus war bereit sein Leben zu geben. Aber Albus war nicht bereit, dieses Opfer anzunehmen-"
"Natürlich war ich das nicht", unterbrach sie die Stimme des Portraits. "Ich hatte mein Leben gelebt, über hundertundfünfzig Jahre, und die meisten davon waren gute Jahre, möchte ich hinzufügen. Severus hatte mein Leben schon einmal gerettet - ohne seine Hilfe wäre ich nach der Zerstörung des ersten Horcruxes mit Sicherheit gestorben. Und ich fürchte, die Wunde in meiner Hand hätte mir ohne die Zaubertränke, die Severus für mich braute, unerträgliche Schmerzen bereitet. Nein, es war besser so ..."
"Deshalb hast du ihn gezwungen, was auch immer Draco plante, zu vollenden. Und die ganze Zeit hast du geahnt, worauf Voldemort aus war, obwohl Severus es trotz allen Bemühens nicht gelungen war, Draco dazu zu bringen ihn einzuweihen", fuhr McGonagall an das Portrait gewandt fort.
"Zwingen ist ein hartes Wort, Minerva, ich würde eher sagen, dass ich ihn überzeugt habe..."
"Nach dem, was Hagrid erzählt hat, hattet ihr eine sehr hitzige Auseinandersetzung ..."
"Du kennst Severus, meine Liebe, mitunter kann er extrem stur und uneinsichtig sein; man muss streng mit ihm sein. Aus mir unverständlichen Gründen hielt er meinen Vorschlag nicht für eine gute Idee", sagte Dumbledore und zwinkerte Harry zu.
"Als Sie Snape auf dem Astronomieturm anflehten", unterbrach Harry ungläubig, "baten Sie ihn in Wirklichkeit Sie zu töten?"
"Völlig richtig, mein Junge, völlig richtig. Ich wäre ohnehin gestorben, siehst du, wegen dieses schrecklichen Trankes, der das Medaillon beschützte. Und natürlich hatte Severus als Meister auf diesem Gebiet dies auf den ersten Blick erkannt. Ich glaube, das war es, was ihn schließlich dazu bewog, meinem Befehl Folge zu leisten, obwohl er es zutiefst hasste. Und, ich fürchte, er hasste mich dafür, dass ich ihn dazu zwang ..."
Harry wurde blass, als ihm klar wurde, was dies alles bedeutete. "Also hat er uns in Wirklichkeit nie verraten?", flüsterte er. "Er hat immer noch für den Orden spioniert?"
"Ja, das hat er", sagte McGonagall schwer. "Der Rabe hat jedes Mal eine Nachricht auf dem Turm hinterlassen. All die erfolgreichen Festnahmen von Todessern in den letzten paar Monaten durch den Orden waren nur aufgrund dieser Nachrichten möglich gewesen. Allerdings wäre ich nie auf die Idee gekommen, dass Severus ein Animagus ist. Wissen Sie, er war nie besonders talentiert in Verwandlung, als ich ihn unterrichtete, hatte es nicht in meinen Fortgeschrittenen-Kurs geschafft. Und seine Mutter hatte einen Raben als Haustier, wurde mir erzählt ..."
"Ich habe alles vermasselt", murmelte Harry und starrte auf den Boden. "Wenn Snape stirbt ..."
"Professor Snape, Harry. Und er wird nicht sterben, glaube mir. Madame Pomfrey ist eine sehr fähige Heilerin, und Severus ist zäh", versicherte das Portrait, wurde dann aber ungewöhnlich ernst. "Dennoch, Harry, du hast einen dunklen Fluch auf einen nichtsahnenden Mann angewendet, wo ein einfaches ‚Stupefy' genügt hätte, und das obwohl du ganz genau wusstest, wie viel Schaden dieser Fluch anrichten würde. Das ist eine sehr ernste Sache. Denk darüber nach, Harry, und tu es gründlich." Er machte eine Pause, um die Worte wirken zu lassen, dann fuhr er in väterlichem Ton fort: "Ich hoffe, du siehst nun, wie gefährlich, wenngleich sehr menschlich, es ist sich von Hass leiten zu lassen, Harry. Lass niemals Hass deine Urteilskraft trüben."
Harry schluckte trocken, dann nickte er. "Ich glaube, ich schulde ihm eine Entschuldigung", sagte er schließlich.
"Ja, Harry, das tust du", bestätigte der Portrait-Dumbledore mit Nachdruck. "Und ich bin dir noch immer den Grund schuldig, warum ich Severus Snape mein Leben anvertraut hätte - und meinen Tod. Aber nicht heute. Für heute hast du genug Neues zu verdauen, denke ich. Gute Nacht, Harry."
"Ich werde gehen und nach Severus sehen. Mr. Potter." McGonagall hatte sich erhoben und schob den Jungen nun aus ihrem Büro hinaus. "Ich nehme an, Ihre Freunde warten im Gemeinschaftsraum auf Sie."
Harry nickte stumm. Er ließ sich von der verzauberten Wendeltreppe nach unten tragen und machte sich auf den Weg in Richtung Gryffindor-Turm, während die unerhörten Neuigkeiten in seinen Gedanken kreisten. Ja, daran würde er mehr als genug zu knabbern haben...
TBC
TBC
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