Kapitel 39: Licht
Severus Snape legte den schweren, schneefeuchten Umhang ab, strich sich achtlos eine tropfende Strähne aus den Augen und blieb für einen Moment mitten in seinem Büro stehen - bewegungslos, gelähmt durch eine schier unüberwindbare Starre. Sein Blick hing festgehext an einem besonders verunstalteten Wesen in Formalin, aber kein bewußter Gedanke fand den Weg in seinen Geist.
Ein feiner Duft schwebte einem Versprechen gleich im Raum, so zart und dezent, daß er mehr einer Erinnerung glich denn möglicher Gegenwart, und doch gaukelte er ihm vor, MacGillivray müsse jeden Moment aus dem Labor treten und ihm eine scharfsinnige Bemerkung zuwerfen.
Ihre aristokratischen Züge, schillernde, faszinierende Augen in wechselndem Farbspiel, das er so noch nie zuvor wahrgenommen hatte, die unkonventionelle, burschikose Kurzhaarfrisur, die ihre frische Eleganz nur betonte, eine lange indigofarbene Robe über der biegsamen Gestalt… sie hatte sein Herz behext, seine Seele betört, seinen Geist verzaubert. Sich die Tage ohne sie vorzustellen, erwies sich als utopisch; selbst vor der Flucht in die Arbeit, die noch immer die Macht gehabt hatte, seinen Seelenfrieden wiederherzustellen, indem sie alle Gedankenkraft an sich band, graute ihm: schrecklich, sich die Leere auszumalen, die ihr Fehlen hervorrief, höchst unangenehm, sie bei Zweifeln nicht um Rat fragen zu können.
Es hatte sein Gutes, bei Bedarf ihre Meinung zu hören; Snape schätzte ihr Wissen, seit klar war, daß die Abstimmung mit ihr seine Forschung voranbrachte.
Allerdings war der Traum der vergangenen Nacht eine deutliche Warnung gewesen. Je weiter sie von ihm weilte, desto besser, obwohl kein Ort der Welt ihr die Sicherheit bieten konnte, die er für sie ersehnte. Angst um ihr Wohlergehen zu haben… dieses Gefühl war fremd; das letzte Mal hatte er Angst um seine Mutter gehabt, und seitdem waren viele Jahre vergangen.
Snape schüttelte den Kopf. Lethargische Trauer diente keinem Zweck, sondern stahl nur Zeit. Seine Aufgaben als Spion gingen vor; nur der Erfolg des Ordens zählte. Persönliches Leid kam darin mit keiner Wichtigkeit vor.
Er zuckte in unwillkürlichem Trotz die mageren Schultern, eine Geste, die er nicht einmal als solche registrierte, fuhr sich grob durch die nassen Strähnen und ging mit entschiedenen Schritten ins Labor.
Wenn Voldemort ihn rief, mußte er vorbereitet sein, um so mehr, da er den gräßlichen Traum beileibe nicht als Produkt irrealer Furcht ansah. Aber auch hier gab es keinen Ausweg, mochte dies seinen Tod bedeuten. Wenn nur Catriona verschont wurde.
Der Zaubertrankmeister schürte ein Feuer und band die Gedanken an den Trank, der bald wallte, bald ruhte, so daß kein Raum mehr blieb für Erinnerungen, Reminiszenzen oder Wehmut.
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Die ersten Tage nach Catrionas Abreise vergingen in seltsamer, gedrückter Stimmung. Es war, als erwarteten die Eingeweihten, Snape müsse den zweifellos vorhandenen Schmerz der Einsamkeit irgendwie zeigen, vergaßen dabei jedoch völlig, daß Snape das Alleinsein vertraut war und er Zurückgezogenheit durchaus nicht verabscheute.
Sie begegneten ihm rücksichtsvoll, sahen jedoch zu seiner Erleichterung davon ab, sich aufzudrängen.
Er selbst ließ durch nichts erkennen, wie tief die Lücke war, die Catrionas Fortgehen hinterlassen hatte. Weder war er ungewöhnlich abwesend, noch besonders schlecht gelaunt. Stoisch versah der den Unterricht wie ein notwendiges Übel, ignorierte Neville Longbottoms angstschlotternde Person und bedachte auch Harry Potter nur mit erlesenen, wohldurchdachten Seitenhieben.
Snape schlief wenig und schlug sowohl Dumbledores als auch Lupins Einladungen zu gemeinsamen Mahlzeiten mit verläßlicher Hartnäckigkeit und verblüffender Eloquenz aus.
Vorübergehendes Tauwetter verwandelte das gefrorene Land in braunen Morast, der die jüngeren Schüler tagsüber zu farbreichen Schlammschlachten animierte und über Nacht wieder zu unbeweglichen Krusten erstarrte.
Snapes ohnehin reduziertes Interesse am Unterrichten erreichte einen historischen Tiefstand, nachdem sechs Mitglieder seines Hauses aus purem Übermut fünf Hufflepuffburschen mit gigantischen Schlammbomben eines Nachmittags das Fürchten lehrten und er sich genötigt sah, drakonische Strafen zu verhängen, obwohl ihn der Anblick der Besiegten insgeheim in nicht unerhebliche Heiterkeit versetzte.
In der nächsten Zaubertrankstunde wagte niemand zu mucksen, denn Snape war denkwürdig schlecht gelaunt, so daß es Hermione Granger beinahe übermenschlichen Mut abverlangte, nach dem Unterricht zurückzubleiben und um ein kurzes Gespräch zu bitten.
Diplomatisch gänzlich unglücklich, mochte sie dennoch nicht länger warten; zu schwer hatte sie sich mit dem Entschluß getan. Jetzt mußte die Umsetzung folgen, bevor sie es sich überlegte und die Idee feige verwarf.
Der Tränkemeister durchbohrte sie mit einem regelrecht angewiderten Blick. "Sehr kurz", betonte er grantig. Ohne ihr die Ehre ungeteilter Aufmerksamkeit zu erweisen, blätterte er konzentriert in einem Protokollheft, wippte mit der Feder und hoffte, die Schülerin würde nicht merken, wie ihm die Schrift vor den Augen verschwamm.
"Miß MacGillivray hat mir vor einiger Zeit eine Zusatzaufgabe gegeben", begann Hermione fest, "die wir anschließend durchgesprochen haben. Ich wollte Sie als meinen Lehrer um dasselbe bitten."
"Langweilt Sie mein Unterricht derart?" schoß Snape vor, lauernd, gereizt. Die Erwähnung des Namens riß die kaum vernarbte Wunde ihres Fortgangs wieder auf, ärgerte ihn mit einer Gewalt, die ihn selbst erschreckte.
"Ganz im Gegenteil", gab Hermione mutig zurück, die von seinem Schmerz nichts ahnte. "Deshalb möchte ich ja mehr wissen."
Er sah schlechter aus denn je, durchzuckte es sie plötzlich, als er die Feder achtlos fallenließ. Sicher arbeitete er Tag und Nacht. Ob er MacGillivrays Hilfe vermißte?
"Ich ziehe es in Erwägung", raunzte der Zaubertrankmeister unwillig und fügte sicherheitshalber hinzu, für den Fall, daß sie die an und für sich eindeutige Aufforderung, seinen Klassenraum zu verlassen, nicht als solche erkannte: "Sie sind entlassen, Miß Granger."
Ungeduldig wartete er darauf, daß sie die Tür hinter sich schloß, massierte die pochenden Schläfen und gestattete sich, den Kopf minutenlang auf dem Pult abzulegen.
Der bevorstehende Vollmond machte ihm mindestens ebenso zu schaffen wie Remus Lupin, der trotz des Wolfsbanns grau und angegriffen umherschlich.
Snape lebte in tiefer, verkapselter Furcht vor dem nächsten Ruf, der mit großer Wahrscheinlichkeit noch in dieser Nacht erfolgen würde. Seit Wochen verbot er sich rigoros Gedanken an MacGillivray; einerseits, um sich selbst den nagenden Schmerz zu ersparen, andererseits, um gegen Angriffe auf seinen Geist gewappnet zu sein.
Er hatte den Werwolftrank weiter perfektioniert in dem vollen Wissen, sich dafür vor mindestens der Hälfte der Ordensmitglieder rechtfertigen zu müssen, doch war er es leid, sich die schier unerfüllbare Aufgabe als Ziel zu setzen, es beiden Parteien recht zu machen, wenn die eine mit weitaus mehr Nachdruck in der Lage war, ihm ihre Wünsche deutlich zu machen.
Snape erhob sich schwerfällig und ging langsam zum Ausgang, ohne den Klassenraum auch nur noch eines Blickes zu würdigen. Wenn Voldemort ihn heute abend rief, würde er bereit sein.
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"Nimm doch Platz, Severus." Albus Dumbledore deutete einladend auf einen gepolsterten Stuhl nahe am Kamin und reichte dem Tränkemeister gegen dessen Widerstand eine Tasse dampfender Flüssigkeit.
Über Nacht war der Frost zurückgekehrt, und klirrende Kälte kündete von dem nahenden Weihnachtsfest.
Der Schulleiter hatte ihn dringend einbestellt; Snape vermutete unbezwingbare Neugier über den Ausgang der letzten Audienz beim Dunklen Lord, aber er war erschöpft genug, um die Gedanken daran gleich wieder fahren zu lassen. Das Kaminfeuer spendete verläßliche Wärme, die seinem ewig frierenden Körper wohltat. Fawkes, der Phönix, streckte ein Bein, und Snapes Aufmerksamkeit wurde von einem dunklen Punkt auf dessen leuchtendrotem Gefieder unwillkürlich gefangengenommen.
"Severus", sagte Dumbledore sanft, um ihn daran zu erinnern, daß er ihn aus einem bestimmten Grund hatte rufen lassen.
Snape blinzelte verwirrt, fing sich jedoch in Sekundenschnelle wieder. "Es gibt nicht viel zu berichten", kam er vermeintlichen Fragen zuvor. "Die letzte Version des Werwolftrankes fand Voldemorts Zustimmung. Er überdenkt die Einsatzmöglichkeiten."
Es überlief ihn kalt, wenn er daran dachte, wie er selbst zu Vorschlägen aufgerufen worden war und sich nur mit Mühe auf unbestimmtes Terrain retten konnte. Ob der Dunkle Lord ihm Glauben geschenkt hatte, blieb spekulativ.
Dumbledore nickte freundlich. Wie das Treffen für ihn, Snape, verlaufen war, erschien dem Alten plötzlich wichtiger, als Informationen über das, was Voldemort als nächstes plante. "Fühlst du dich wohl?" verlangte er nun auch noch zu wissen, so daß der Tränkemeister entsetzt beide Brauen wölbte. Gewiß, er fühlte sich miserabel, wünschte jedoch keinerlei Diskussionen über seinen Gesundheits- und schon gar nicht über seinen Seelenzustand.
Noch immer grauste ihm, sich in Erinnerung zu rufen, wie ihn auch dieses Mal der Dunkle Lord umlauert hatte, wie er seine mentalen Barrieren berührte und hinterlistig danach trachtete, sie bald durch Gewalt, bald durch schmeichelnde Ablenkung zu durchdringen.
"Natürlich", sagte er automatisch und untermalte die Behauptung durch gleichmütiges Schulterzucken.
"Ich werde mich nun der Anpassung des Trankes an die Wünsche des Ordens widmen", fügte er aus Pflichtbewußtsein hinzu, obwohl er weder Antrieb noch Interesse dazu verspürte.
"Das wird warten müssen", bemerkte der Schulleiter in liebenswürdigem Singsang. "Ich habe eine Eule von der Flamelstiftung bekommen. Miß MacGillivray erbittet deine Hilfe in einer offenbar schwierigen Angelegenheit."
Snape preßte die Lippen fest aufeinander und schloß sekundenlang die Augen, bevor er den Kopf schüttelte und resolut ausrief: "Ich habe keine Zeit für-"
" Dies ist ein offizielles Ersuchen um deine Expertise, Severus", unterbrach ihn der der Direktor höflich, aber sehr bestimmt. "Es abzulehnen bedürfte eines außerordentlich guten Grundes, der meines Erachtens nicht existiert."
"Aber -", versuchte Snape erneut, sich Gehör zu verschaffen; wieder schnitt ihm der Alte freundlich das Wort ab: "Ich habe mich wohl unklar ausgedrückt. In wenigen Tagen sind Ferien, falls du daran gedacht hast. Natürlich weiß ich, daß du dem keine Bedeutung beimißt, weil du über mangelnde Beschäftigung nicht klagen kannst. Ich verfüge jedoch, daß du dem Ersuchen der Stiftung nachkommst. Das ist das Mindeste, was du im Gegenzug dafür tun kannst, daß sie Catriona für unsere Zwecke freigestellt hat."
Das gutmütige Funkeln in den Kornblumenaugen des Direktors verwandelte sich in ein breites, hintergründiges Schmunzeln.
"Du hast dir einen Ortswechsel redlich verdient", sagte er herzlich. "Grüß Miß MacGillivray von mir."
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Severus Snape bewältigte den Weg vom Turm in sein Quartier in gänzlich betäubtem Zustand. Sie hatte tatsächlich einen Weg gefunden, ihn aus einem Umfeld zu befreien, das ihm einzig Pflicht, niemals jedoch Erholung gönnte. Einen Weg, der seine strikte Weigerung vorhergesehen und daher von vornherein unmöglich gemacht hatte.
An ihr war wahrhaft eine Slytherin verlorengegangen, überlegte Snape bewundernd, der erste und einzige Beweis, daß der Sprechende Hut ebenso wie alle anderen Wesen irren konnte.
Obgleich er sich keine rechte Vorstellung von dem zu machen vermochte, was ihn in Brasilien erwartete, versetzte ihn der Gedanke, die geliebte Seelenverwandte so bald schon wiederzusehen, in eine beinahe euphorische Unruhe.
Welches Problem war der Stiftung so dringlich, daß sie, anstelle MacGillivray daran zu erinnern, wofür man sie bezahlte, ihr nicht nur gestattete, seine Expertise einzuholen, sondern sie vielmehr nach allen Regeln der Kunst in dem Vorhaben unterstützte?
Hatte sie eines ihrer für besondere Gelegenheiten zurückgehaltenen Resultate dazu benutzt, ein solches Problem zu kreieren?
Catrionas hintergründiger Scharfsinn war in seiner Subtilität um so gefährlicher. Sie ernsthaft gegen sich aufzubringen, konnte fatale Folgen haben.
Die Erinnerung an ihre betörenden Augen unter kupfernem Haar scheuchte ein widerwilliges Lächeln über des Tränkemeisters blasses Gesicht. So empfindlich er sie vermißte, so zügellos drängte sich nun Vorfreude in seine Gedanken. Unwichtig, daß die Weihnachtsferien gerade zwei Wochen dauerten - zwei Wochen Abwesenheit von Hogwarts waren mehr, als er sich seit langem gegönnt hatte. Vierzehn Tage mit ihr, egal wo… eine beflügelnde Aussicht.
Severus Snape schlug zufrieden ein Bein über das andere und nippte an einem nachlässig aufgerufenen Glas Tee, während er die oberste, flache Schublade seines Schreibtisches langsam öffnete. Behutsam entnahm er einen Zeitungsausschnitt und hielt ihn kurz zwischen Daumen und Zeigefinger, bevor er ihn sacht auf dem Pult ausbreitete.
'Neue Tränkemeisterin der Nicholas-Flamel-Stiftung überrascht mit unkonventionellen Forschungsmethoden' stand in schwarzen Lettern über dem Artikel, darunter ein Bild Catriona MacGillivrays, das sie neben einem monströsen Kessel unter einem Blätterdach zeigte. Sie lächelte hintergründig in die Kamera, und Snapes Lippen zuckten, bis die glückselige Heiterkeit, die ihn mit goldsonnigem Prickeln durchströmte, seine Obsidianaugen erreichte und dort ein Leuchten entfachte, das die gramvolle Bitterkeit hinfortwusch und dem abgezehrten, ernsten Gesicht des Tränkemeisters einen Ausdruck von Herzen kommender, aufrichtiger Freude verlieh.
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