Die nächsten Wochen verliefen relativ ruhig und ereignislos. Im Schloss kehrte die übliche Routine des Schuljahres ein. Harry fragte sich manchmal, wie er es überhaupt schaffte, sein riesiges Tagespensum zu erledigen. Vor allem in Verwandlung und Zaubertränke musste er hart arbeiten.
Die Zaubertrankstunden schienen in diesem Schuljahr immer nach dem gleichen Schema abzulaufen: Harry und Snape starrten sich hasserfüllt an und der Junge machte wütend seine Arbeit, sich jedes Mal darum bemühend, die Anwesenheit des verhassten Lehrers zu ignorieren. Mit Genugtuung stellte Harry fest, dass es ihm immer wieder gelang, den Anforderungen zumindest einigermaßen zu entsprechen. Er würde es diesem Bastard schon zeigen. Harry hatte insgesamt vier Mal alleine arbeiten müssen, doch in der letzten Stunde hatte Snape die Paare neu zusammengestellt und Harry arbeitete jetzt mit Frederik McCarthy, dem unauffälligen Slytherin-Jungen, zusammen. Jetzt war Hannah Abbott diejenige, die auf dem Platz vorne bei Snape sitzen musste. Auch ihr hatte der Mistkerl genüsslich unter die Nase gerieben, dass sie nur ein E in ihrer ZAG-Prüfung erreicht hatte und somit gar nicht in diesen Kurs gehörte.
Auch in Verteidigung gegen die dunklen Künste erhielten sie immer eine Menge Hausaufgaben, jedoch zumindest die praktischen Übungen bereiteten Harry keine große Mühe. Doch wenn Harry alles zusammen nahm, war er recht zufrieden mit sich. Sogar das Quidditch-Training machte erhebliche Fortschritte. Es war zwar harte Arbeit, aber diese lohnte sich. Nach drei Wochen intensiven Trainings hatte der neue Mannschaftskapitän zumindest das Gefühl, dass sie es schaffen konnten, sich nicht völlig bei dem Spiel gegen die Hufflepuffs zu blamieren. Die Slytherins hatten ihre Störattacken zu Harrys Erleichterung auch eingestellt, wahrscheinlich war ihnen die Sache einfach zu langweilig geworden.
Wenn Harry über Draco Malfoy nachdachte, musste er sich allerdings eingestehen, dass er dessen Verhalten in den letzten Wochen sehr merkwürdig fand. Draco hatte sich, für Harrys Geschmack, sehr bedeckt gehalten, was Harry vermuten ließ, dass Malfoy irgendetwas Größeres im Schilde führte. Sogar Harrys Verteidigungskurs, bei dem sich natürlich in diesem Jahr auch Slytherins, einschließlich Malfoy, Crabbe und Goyle, eingefunden hatten, hatte Malfoy nicht gestört.
Auch die Stunden mit Professor Fenwick liefen recht gut. Die Lehrerin hatte Harry in der letzten Stunde gesagt, dass sie demnächst zu anderen Themen übergehen könnten, da er inzwischen in Okklumentik so große Fortschritte gemacht habe, dass es jetzt von seiner Übung abhänge, ob er sich im Ernstfall gegen das Eindringen in seinen Geist verteidigen könne. Zu einem späteren Zeitpunkt wollten sie dann die gesteigerte Form des Legilimens-Zaubers üben. Diese Aussicht bereitete Harry zwar großes Unbehagen, doch dachte er jetzt nicht weiter darüber nach, lag das doch noch in der Zukunft.
Was Harry im Augenblick allerdings wirklich beunruhigte, war das Gefühl, nicht wirklich darüber informiert zu sein, was außerhalb der Schule vor sich ging. Während der Zeit, als er im Hauptquartier gewesen war, hatte er fast täglich entweder von Dumbledore oder von Moody Neuigkeiten erfahren, doch jetzt war er, wie alle anderen auch, fast ausschließlich auf die Nachrichten aus dem Tagespropheten angewiesen und diesen konnte man, wie Harry aus eigener Erfahrung wusste, nicht vertrauen. Am Tag nach jenem ungewöhnlichen Zeitungsartikel, in welchem das Ministerium der Lüge bezichtigt worden war, war eine Gegendarstellung des Ministers erschienen, in der dieser zwar eingeräumt hatte, dass bei dem Entführungsversuch auf dem Bahnhof in Hogsmeade drei Todesser entkommen seien, man dies aber nicht deshalb verschwiegen habe, um die Öffentlichkeit zu belügen, sondern rein aus ermittlungstechnischen Gründen. Außerdem habe man berechtigte Hoffnungen, auch dieser Verbrecher bald habhaft zu werden. Bei den übrigen Anschuldigungen handele es sich um Verleumdungen, für welche die Urheber zur Verantwortung gezogen würden. Ein enger Mitarbeiter des Ministers, Anthony Delaware, sei bereits der Urkundenfälschung und des Geheimnisverrates überführt und in Gewahrsam genommen worden. Er erwarte jetzt seinen Prozess. Der Minister bedaure zutiefst die Verwirrungen, die durch den Artikel vom Vortage entstanden seien und betone nochmals, dass ihm eine vertrauensvolle Zusammenarbeit mit der Bevölkerung immer oberstes Anliegen gewesen sei.
Harry war übel geworden, als er diesen Artikel gelesen hatte. So schnell starb also die Wahrheit im Krieg. Nachher war die Berichterstattung weitergegangen, als hätte es den besagten Artikel nie gegeben. Harry hatte mehrfach mit Professor Dumbledore gesprochen und ihn gebeten, ihm zu erzählen, was draußen vor sich ging, doch der Schulleiter hatte keine konkreten Angaben gemacht, er hatte den Jungen jedes Mal beruhigend angelächelt und erklärt, dass im Augenblick kein Grund zur Besorgnis bestehe. Harry fand diese Ruhe, in der sie hier lebten, irgendwie gespenstisch, wenn er daran dachte, dass Voldemort da draußen immer mächtiger wurde und zusammen mit seinen Gefolgsleuten sein Unwesen trieb. Harry hatte zusehends das Gefühl, dass sie sich in der viel zitierten Ruhe vor dem Sturm befanden.
Am zweiten Samstag im Oktober war ein Hogsmeade-Samstag. Harry, Ron, Hermine, Ginny, Neville und Luna Lovegood, die in den letzten Wochen sehr oft mit Neville zusammen war, machten sich direkt nach dem Frühstück auf den Weg hinunter ins Dorf.
"Wo ist eigentlich Dean?", Ron blickte Ginny fragend an.
"Woher soll ich das wissen." Ginny sah verwundert zu ihrem Bruder herüber.
"Na ja, ich meine, schließlich ist er doch dein Freund, oder?"
"Du bist nicht ganz auf dem neuesten Stand, Brüderchen. Wir sind schon seit zwei Wochen nicht mehr zusammen."
"Und wer ist jetzt der Glückliche?"
"Im Moment habe ich mich noch nicht entschieden."
Aus völlig unerfindlichen Gründen freute Harry diese Mitteilung.
"Was machen wir jetzt?", fragte Neville.
"Ich möchte erst mal in die Drei Besen gehen", sagte Ginny, "ich will mich mit Fred treffen. Er bringt mir ein Päckchen mit Nachschub."
"Schön, gehen wir doch alle hin, ein Butterbier trinken", schlug Harry vor.
Als sie das Lokal betraten, herrschte dort schon reger Betrieb. Die sechs Teenager bahnten sich einen Weg zu einem freien Tisch in der Ecke.
"Also ich kann Fred nirgends entdecken", sagte Ron.
"Wahrscheinlich hat er sich verspätet", antwortete Ginny, "trinken wir erst mal ein Glas, er wird schon noch kommen. Ich kann mir kaum vorstellen, dass er sich so ein gutes Geschäft durch die Lappen gehen lässt. Ich würde mich nicht wundern, wenn ich mit meiner Filiale in Hogwarts genauso viel Umsatz mache, wie die Beiden in der Winkelgasse."
"Leiden wir da nicht ein bisschen an Selbstüberschätzung, Miss Weasley?" Harry blickte Ginny zweifelnd an.
"Hast du 'ne Ahnung. Die reißen mir die Sachen nur so aus den Händen."
"Aber untersteh' dich und verkaufe noch einmal diese verhexten Schokofrösche", sagte Hermine mit tadelnd erhobener Stimme, "ansonsten habe ich keine andere Wahl, als das Professor McGonagall zu melden. Diese Dinger sind nämlich absolut illegal."
"Quatsch", widersprach Ron, "die sind einfach nur total lustig."
"Hab ich da was verpasst?", fragte Harry interessiert, "was machen diese Dinger denn?"
"Wenn du sie essen willst, dann fangen sie an, dich zu beleidigen", erklärte Ginny grinsend.
"Und was soll daran illegal sein?" Harry sah Hermine verwundert an.
"Diese Frösche sind genauso unmoralisch, wie Professor Fenwicks Fluch, mit dem sie den Katzenteller verhext hat", entrüstete sich Hermine. Wieder erinnerte ihr Gesichtsausdruck Harry eindeutig an Professor McGonagall, wenn diese sehr wütend war. "Bis jetzt haben diese Frösche noch nichts wirklich schlimmes angerichtet, aber allein schon die Tatsache, dass sie nicht irgendwelche zufälligen Beleidigungen von sich geben, sondern sich gezielt auf die Person einstellen, geht entschieden zu weit."
"Stell dich nicht so an, Hermine", sagte Ron, "ich finde, dass der Anblick von Goyles dämlichem Gesicht, nachdem er dem Frosch den Kopf abgebissen hatte und auf einmal diese Stimme aus seinem Mund kam, schon ein bisschen Ärger wert wäre."
"Was hat die Stimme denn gesagt?", fragte Harry.
"Du verfressenes Nilpferd, klapp endlich dein Breitmaul zu. Und Crabbe ist die Kinnlade runtergeklappt, weil er geglaubt hat, dass Goyle jetzt endgültig durchgedreht ist und anfängt, mit sich selber zu reden."
"Schade, dass ich das nicht gesehen habe." Harry verzog bedauernd das Gesicht. "Das lässt sich nachholen", sagte Ginny mit einem verschmitzten Grinsen, "Goyle ist sicher so blöd und so verfressen, dass er noch mal einen Frosch nimmt. Ich hab im Schloss noch welche und du kriegst einen gratis, weil du's bist."
"Hallo zusammen." Fred war an ihren Tisch gekommen, "das höre ich gerne, heiße Diskussionen über unsere Erfindungen?"
"Ich finde wirklich, ihr solltet eure Energien für nützlichere Sachen einsetzen", sagte Hermine bestimmt, doch auch sie lächelte inzwischen.
Fred setzte sich auf die Bank neben seine Schwester und reichte ihr ein Päckchen in der Größe eines Schuhkartons.
"Und da soll alles drin sein, was ich bestellt habe?" Ginny warf Fred einen ungläubigen Blick zu.
"Ich hab das Paket verkleinert. Sonst hättest du Schwierigkeiten gehabt, es zum Schloss hoch zu transportieren, ohne dass ein paar Leute dumme Fragen gestellt hätten."
Nachdem er seinen Feuerwhiskey ausgetrunken hatte, erhob sich Fred. "Ich muss los, wir haben 'ne Menge zu tun und George wartet bestimmt schon auf mich. Viel Spaß mit den Sachen."
"Werden wir haben", versicherte Ginny grinsend.
"Dann lasst uns alle gehen", schlug Hermine vor.
"Ja, der Honigtopf ruft", sagte Ron.
Sie erhoben sich und drängten sich durch das überfüllte Lokal zur Tür. Als die kleine Gruppe hinaus ins Freie trat, trafen sie auf Draco Malfoy, der mit ein paar seiner Slytherin-Kumpane auf dem Gehsteig stand.
"Drei Wiesel, die aus den Drei Besen kommen", sagte Malfoy nachdenklich mit einem fiesen Grinsen auf dem Gesicht, "ich frage mich gerade, ob es da drinnen was umsonst gibt. Oder habt ihr euch mal wieder von unserem berühmten Potter aushalten lassen?"
Ron griff mit einer reflexartigen Bewegung nach seinem Zauberstab.
"Lass ihn", sagte Hermine beschwichtigend und legte eine Hand auf seinen Arm.
"Denk dir mal was neues aus", sagte Harry herablassend, "deine Sprüche sind so alt, dass sie schon verschimmeln."
"Hey, da drüben ist Percy", sagte Ginny und deutete auf die gegenüberliegende Straßenseite, "scheint ja ein richtiges Familientreffen zu werden."
Harry sah in die angegebene Richtung. Percy war anscheinend in ein angeregtes Gespräch mit einem großen kahlköpfigen Zauberer vertieft, den Harry nicht kannte. Als Percy die kleine Gruppe vor den Drei Besen bemerkte, verabschiedete er sich von seinem Gesprächspartner und kam zu ihnen herüber.
Die Slytherins schlenderten gemächlich die Strasse entlang. Harry hatte für einen kurzen Augenblick den Eindruck, dass Percy und Malfoy sich verschwörerische Blicke zuwarfen. Als er verwundert noch einmal hinsah, stellte Harry jedoch fest, dass beide in völlig entgegen gesetzte Richtungen blickten, wahrscheinlich hatte er sich das nur eingebildet.
"Hallo zusammen", sagte Percy nun gönnerhaft. "Freut mich, euch zu sehen. Ich wollte euch sowieso einmal in Hogwarts besuchen, aber ihr wisst ja, wie das ist. Termine, Termine, Termine! Meine Arbeit im Ministerium lässt mir kaum freie Zeit. Man bezahlt eben seinen Preis, wenn man so einen wichtigen Posten hat, wie ich."
"Oh Mann, der quatscht immer noch den gleichen Blödsinn, wie früher", sagte Fred genervt, "hat sich kein bisschen verändert."
"Und du hast immer noch nicht den Ernst des Lebens erkannt", erwiderte Percy tadelnd.
"Wenn du so ein Blech quatschen willst, kann ich gerne darauf verzichten, dass du mich in Hogwarts besuchst", sagte Ron gereizt.
"Nicht so heftig, Bruderherz, ich habe es immer nur gut mit meinen jüngeren Geschwistern gemeint. Außerdem bin ich sehr stolz auf euch, Ron und Ginny. Zwei Vertrauensschüler gleichzeitig aus unserer Familie, das macht mich sehr glücklich und auch unsere Mutter ist sehr stolz auf euch."
"Wenigstens ist dir endlich wieder eingefallen, dass du eine Familie hast", entgegnete Ron heftig und funkelte seinen älteren Bruder wütend an. "Ich hoffe, du hast dich wenigstens bei Mum und Dad für dein unmögliches Verhalten im letzten Jahr entschuldigt."
"Nun ja, Jeder kann sich mal irren", sagte Percy und machte eine abwehrende Handbewegung, "aber unter den gegebenen Umständen musste meine absolute Loyalität natürlich dem Minister gelten. Und ihr müsst mir glauben, ich habe dabei nicht nur an meine Karriere gedacht, sondern auch an das Wohl meiner Familie, das unserem Vater offensichtlich nicht so wichtig zu sein scheint." Ein verächtlicher Zug lag um Percys Mund, als er von seinem Vater sprach.
"An Dads Stelle hätte ich dir 'ne gehörige Tracht Prügel verpasst", sagte Ron böse, "die hättest du nämlich verdient."
"Nun nun, lasst uns doch das Vergangene vergessen", erwiderte Percy beschwichtigend, "das, was jetzt ist, zählt."
"Lass gut sein, Ron." Ginny hatte eine Hand auf den Arm ihres Bruders gelegt, "es lohnt sich nicht, sich mit ihm rumzustreiten."
"Was treibst du eigentlich in Hogsmeade", wollte Fred wissen,
"Darüber darf ich euch leider keine Auskunft geben", sagte Percy und setzte eine wichtige Miene auf. "Geheimauftrag des Ministeriums. Ich muss dann mal weiter." Percy wandte sich ab und schritt in Richtung der Heulenden Hütte davon.
"Also, wenn ihr mich fragt, ist der jetzt völlig durchgeknallt", sagte Fred.
"Wenigstens redet er wieder mit Mum", meinte Ron.
"Dann wollen wir mal nicht länger hier herumstehen, sondern unsere Einkäufe erledigen", sagte Hermine, "um fünf können wir uns alle wieder hier treffen." Die kleine Gruppe trennte sich und jeder ging seiner Wege.
***
Severus Snape versiegelte seine Bürotür mit den üblichen Schutzzaubern und verließ missmutig das Schloss. Er wäre lieber in seinem Labor geblieben, um in Ruhe an dem Unsichtbarkeitstrank weiterzuarbeiten. Heute wäre er völlig ungestört, denn das Schloss war fast menschenleer. Die meisten Schüler befanden sich an diesem Samstag in Hogsmeade. Doch Severus hatte keine andere Wahl, als sich auf den Weg in die Nokturngasse zu machen. Der Zaubertränke-Meister musste dem Dunklen Lord am Abend ein Gift abliefern, für das er noch Trollleber und ein seltenes Schlangengift brauchte. Burkes, dieser Idiot, hatte das Zeug nicht früher besorgen können und darauf bestanden, dass Severus die Zutaten persönlich abholte. Als Severus die Weißdornhecke erreichte, die den Friedhof umschloss, schnaubte er ärgerlich. Schon wieder eine Sonderregel, die der Schulleiter für Potter geschaffen hatte. Nur, damit der Junge sicher das Grab seines Paten besuchen konnte, hatte Albus der Alten Krähe, dem Werwolf und ihm den Auftrag erteilt, die Apparationsgrenze bis hierher zu erweitern. Es war ein hartes Stück Arbeit gewesen und das alles wegen solch eines sentimentalen Unsinns, wie Severus fand. Albus hatte zwar als offiziellen Grund für die Maßnahme angegeben, man müsse den Friedhof vor Friedhofsschändern schützen, aber Severus hätte seinen Kopf dafür verwettet, dass es auch in diesem Fall in erster Linie um Potter ging. Nun musste er wegen dieses Unsinns hundert Meter weiter laufen und würde kostbare Minuten verlieren.
Wenig später materialisierte sich Severus in der dunklen und engen Nokturngasse direkt vor Borgin und Burkes' Laden. Severus betrat den schwach erleuchteten Raum und sah sich um. Im Augenblick war er der einzige Besucher. Sein Blick glitt hinüber zu einem Glaskasten, in welchem auf grünem Samt ein Kurzschwert lag, dessen Griff mit Smaragden besetzt war, von denen ein schwaches Glimmen ausging.
"Guten Tag, Professor Snape." Der bucklige Mr. Borgin schlurfte herein und verbeugte sich tief vor Severus. "Was darf es heute sein?", fragte er unterwürfig und mit öliger Stimme. "Ich sehe, Sie bewundern meine neueste Errungenschaft. Ein echtes Dämonenschwert aus Kirgisien. Hab ich erst gestern rein bekommen. Ich mache für Sie einen Sonderpreis wenn..."
"Ich bin nicht interessiert", unterbrach Snape barsch den Redefluss des Verkäufers, "Burkes erwartet mich."
"Aber natürlich. Bitte, wenn Sie mir folgen wollen." Der bucklige Verkäufer führte Severus in das Hinterzimmer, einen womöglich noch düstereren Raum als den Laden selbst, mit rauchgeschwärzten Deckenbalken.
"Bitte, nehmen Sie einen Augenblick Platz, Professor Snape." Borgin deutete auf einige wacklige Stühle, die um einen alten Holztisch gruppiert waren. "Mein Teilhaber wird gleich hier sein. Es kann sich nur noch um Minuten handeln."
"Das hoffe ich", knurrte Severus.
"Darf ich Ihnen derweil einen Feuerwhiskey oder einen Bergtrollbrandwein anbieten?"
"Nein", antwortete Severus unfreundlich, "lassen Sie mich in Ruhe und verschwinden Sie."
Borgin sah sein Gegenüber böse an, seine falsche Unterwürfigkeit war nun völlig verschwunden. Ohne noch etwas zu erwidern, schlurfte er in den Laden hinüber.
Severus ging unruhig im Zimmer auf und ab. Hoffentlich kam der Kerl bald. Severus hatte keine Zeit, hier ewig auf ihn zu warten. Es würde mindestens drei Stunden dauern, bis der Trank gebraut war. Etwa fünf Minuten später hörte Severus Stimmen aus dem Nebenzimmer. Zwei Männer unterhielten sich leise und dann betrat Hannibal Burkes den Raum. Er war mittelgroß, leicht untersetzt und hatte mittelblondes, etwas schütteres Haar, das an den Schläfen bereits zu ergrauen begann.
"Hast du meine Bestellung?", fragte Severus ohne Umschweife.
"Du weißt, dass du dich auf mich verlassen kannst", antwortete Burkes scharf und sah Severus aus seinen wasserblauen Augen herausfordernd an. Severus starrte zurück und der andere senkte als erster den Blick.
Burkes ging zu einem Schrank an der der Tür gegenüberliegenden Wand und öffnete ihn durch eine Berührung mit seinem Zauberstab. Dann entnahm er dem Schrank ein kleines Holzkästchen, das er Severus reichte. Dieser öffnete es und begutachtete den Inhalt. Als er das kleine, in Drachenleder eingewickelte Päckchen öffnete, um die Qualität der Trollleber zu kontrollieren, verzog Severus angewidert das Gesicht. Dieses Zeug stank selbst in getrocknetem Zustand noch erbärmlich. Nachdem der Zaubertränke-Meister auch noch die kleine Phiole, die sich ebenfalls in dem Kästchen befand, ausgiebig untersucht hatte, nickte er zustimmend und entnahm seiner Geldbörse wortlos hundertfünfzig Galleonen, die er Hannibal hinhielt.
"Tut mir leid, aber ich muss dir noch fünfzig Galleonen berechnen." Der Verkäufer versuchte, einen bedauernden Gesichtsausdruck zu machen, doch Severus konnte die Gier auf dem Grunde seiner Augen erkennen.
"Hundertfünfzig Galleonen waren für alles zusammen abgemacht, Burkes, keinen Sickel mehr", antwortete Severus bestimmt.
"Aber es war mir fast unmöglich, dieses Schlangengift zu bekommen. Du weißt genau, in welche Gefahren ich mich da begebe. Wenn ich geschnappt würde, wäre das mein Ruin. Und auch diese Leber ist schwierig zu beschaffen, wie du weißt." Burkes sprach nun in einem leicht weinerlichen Tonfall, der Severus immer wütender machte. "Ich sagte, keinen Sickel mehr. Das ist dein Berufsrisiko. Darf ich dich daran erinnern, dass du den Preis letztes Mal schon zwanzig Galleonen in die Höhe getrieben hast? Hau übers Ohr, wen du willst, aber nicht mich."
"Aber von mir bekommst du immer erstklassige Ware. Wenn ich meine Unkosten nicht mehr decken kann, könnte es sein, dass sich das ändert." Ein verschlagener Ausdruck war nun in Burkes' Augen getreten.
"Dann finde ich jemanden anderen, doch solltest du dir im Klaren darüber sein, Burkes, dass der Dunkle Lord über einen Gefolgsmann, der Schwierigkeiten macht, sehr ärgerlich werden könnte."
Severus verstaute das Kästchen in einer der unzähligen Taschen seines Umhangs und verließ den Laden, ohne Burkes noch eines Blickes zu würdigen. Dieser Kerl wurde immer unverschämter. Wenn Severus ehrlich zu sich selbst war, musste er sich eingestehen, dass er immer noch, nach so vielen Jahren, einen Stich der Enttäuschung empfand, wenn er Hannibal Burkes begegnete. Severus verachtete sich für diese Schwäche und versuchte jedes Mal, mit aller Kraft gegen dieses unnütze Gefühl anzukämpfen. Vor vielen Jahren hatte es eine Zeit gegeben, da war Severus so naiv gewesen, zu glauben, dass Hannibal sein Freund sei. Bei dieser Erinnerung verzog sich das Gesicht des Mannes zu einem zynischen, selbstquälerischen Lächeln. Er hatte geglaubt, einen Freund zu haben. Er, der vorher und auch später niemals einen wirklichen Freund gehabt hatte, außer vielleicht Albus Dumbledore? Aber war Albus wirklich sein Freund? War Severus nicht einfach nur nützlich für Albus? Eine effektive Waffe im Kampf gegen Voldemort, eine Schachfigur, die man opfern würde, wenn es erforderlich war?
Mit größter Willensanstrengung verbot sich Severus diese selbstquälerischen Gedanken über Albus. Aber Burkes hatte er damals für seinen Freund gehalten, doch als sie beide in diesen Hinterhalt geraten waren und man sie in die Ministeriumskerker gebracht hatte, hatte es keine drei Tage gedauert, bis Burkes ihn verraten hatte, nur, um seine eigene Haut zu retten. Severus verbot sich auch diese Gedanken und disapparierte. Er ging sofort zurück in sein Büro, um sich an die Arbeit zu machen.
Als Severus am Abend dem Ruf des Dunklen Lords folgte, fand er sich diesmal im Innern des Gebäudes wieder. Sie befanden sich in einem unterirdischen Gewölbe, in dessen Mitte ein ähnlicher Felsenthron, wie im Freien stand, auf welchem Voldemort Platz genommen hatte, Wurmschwanz stand, wie immer, dienstbeflissen hinter ihm. Der Dunkle Lord hatte heute anscheinend nur seine engsten Mitarbeiter zu sich befohlen. Nur etwa zehn vermummte Gestalten umstanden den Thron des Dunklen Lords.
"Ich habe euch heute Abend hier zusammengerufen", begann Voldemort, nachdem das unvermeidliche Begrüßungsritual vollzogen war, "um euch in einen wichtigen Plan einzuweihen. Ich habe in Erfahrung gebracht, dass ein Mann, der uns und unserer edlen Sache sehr gefährlich werden könnte, derzeit im Ministerium zunehmend an Einfluss gewinnt. Er heißt Stanley O'Brian und arbeitet in leitender Position in der Abteilung für magische Strafverfolgung. Wie ich von einem meiner Spione aus dem Ministerium erfahren habe, ist er an der Entwicklung von äußerst effektiven Bewachungssystemen für Gefangene maßgeblich beteiligt. Ich will, dass dieser Mann vor mich gebracht wird. Entweder werde ich ihn brechen und ihn zwingen, für mich zu arbeiten, oder er wird sterben. Vielleicht kann er auch mit Hilfe seiner Familie gefügig gemacht werden, wir werden sehen."
"Darf ich eine Frage stellen, Mein Lord?", meldete sich Lucius Malfoy, den Blick unterwürfig zum Boden gesenkt.
Voldemort nickte zustimmend.
"Wäre es nicht einfacher, wenn Euer Spion den Mann mit dem Imperius belegen würde?"
"Wenn dies der einfachere Weg wäre", sagte Voldemort kalt und sah Malfoy drohend an, "kannst du sicher sein, dass ich ihn gewählt hätte. Malfoy, Malfoy, du bist offenbar immer noch nicht von meiner großen Macht und Weitsicht überzeugt. Du brauchst noch eine kleine Lektion im Punkto bedingungsloses Vertrauen zu deinem Herrn und Meister." Voldemort sah Malfoy fast bedauernd an, doch jeder, der ihn kannte, wusste, was nun kommen würde.
"Crucio!"
Malfoy sackte zusammen und lag zuckend und wimmernd am Boden, bis der Dunkle Lord den Fluch wieder aufhob.
"Aber ich will dir erklären, warum dies nicht der einfachere Weg ist", sagte Voldemort, als Malfoy wieder mit zitternden Knien vor ihm stand. "O'Brian ist sehr misstrauisch. Außerdem ist er voll ausgebildeter Auror, mit einigen Jahren Berufserfahrung, und ein Misslingen des Versuchs, ihn mit dem Imperius-Fluch zu belegen, würde ein zu großes Risiko für meinen Spion bedeuten. Er ist momentan zu wertvoll für mich, als dass ich riskieren könnte, ihn zu verlieren."
‚Wenn ich doch nur herausbekäme, wer dieser Spion ist', dachte Severus verzweifelt. ‚Voldemort macht ein solches Geheimnis daraus, dass er den Namen noch nicht einmal seinen engsten Mitarbeitern preisgibt. Ist es am Ende Cornelius Fudge selbst?'
"Wir werden den Mann in den nächsten Wochen beobachten, um dann einen Entführungsplan entwickeln zu können", fuhr Voldemort fort, "Malfoy, McNair, Bella, Rudolphus. Ihr seid dafür verantwortlich."
"Ja, mein Lord", murmelten die vier Todesser zustimmend.
"Snape, Nott. Ihr beiden werdet zu gegebener Zeit die Entführungsaktion leiten. Einen genauen Zeitpunkt und die Anzahl der Männer, die ihr mitnehmt, werde ich mir noch überlegen. Das wird von dem Ergebnis der Beobachtung abhängen. Ihr könnt jetzt gehen." Voldemort machte eine verabschiedende Geste mit einer seiner langfingrigen, dürren Hände. Als sich Severus abwenden wollte, sagte er jedoch in befehlendem Ton: "Du noch nicht, Snape. Für dich habe ich noch einen besonderen Auftrag."
Als die anderen den Raum verlassen hatten, fuhr Voldemort fort: "Was denkst du über die neue Lehrerin für die Verteidigung gegen die dunklen Künste? Auf welcher Seite steht sie und wäre es vielleicht möglich, sie für uns zu gewinnen?" Er sah Severus mit seinen roten Augen durchdringend an. "Natürlich könnte ich sie auch mit Gewalt gefügig machen, aber wenn sie freiwillig für mich arbeiten würde, wäre sie mir in ihrer jetzigen Position von wesentlich größerem Nutzen."
"Ich kann noch nicht einschätzen, auf welcher Seite sie steht und wie ihre wahren Absichten aussehen", antwortete Severus wahrheitsgemäß.
"Es spricht für sie, dass sie sich nicht in die Karten sehen lässt", sagte Voldemort nachdenklich. "Ich kannte ihren Vater sehr gut. Er war ein wahrer Slytherin: schlau, listig und vor allem ehrgeizig. Das hat ihm schließlich das Genick gebrochen. Er wollte zuviel Macht - meine Macht - und das konnte ich nicht dulden. Aber das ist eine andere Geschichte. Wenn Violet Fenwick nur einen Teil der Fähigkeiten ihres Vaters geerbt hat, könnte sie es weit bringen als meine Dienerin. Finde heraus, ob sie für uns zu gewinnen ist."
"Ja, mein Lord", antwortete Severus pflichtschuldigst. Er hatte zwar im Augenblick keinerlei Vorstellung davon, wie er das anfangen sollte, aber Severus war zu klug, um Voldemort in diesem Augenblick zu widersprechen.
"Jetzt geh", sagte der Dunkle Lord und wandte sich ab, "ich erwarte deine Berichte über Violet Fenwick."
Severus disapparierte. Wenn er im Schloss ankommen würde, musste er sofort zu Albus gehen, um die neue Lage mit ihm zu besprechen. Dieser O'Brian musste gewarnt werden, damit seine Familie in Sicherheit gebracht werden konnte. Bei alledem musste geschickt vorgegangen werden, damit Voldemorts Verdacht nicht auf Severus fiele, zumal nur wenige Leute in den Plan des Dunklen Lords eingeweiht waren. Und Severus' Befürchtungen bezüglich der Alten Krähe hatten sich sogar früher bewahrheitet, als er erwartet hatte. Nun war diese Frau gerade mal einen Monat in Hogwarts und schon zeigte Voldemort Interesse an ihr.
Wäre sie nur niemals nach Hogwarts gekommen, dachte Severus wütend, er hatte von Anfang an gewusst, dass die alte Krähe ihm Scherereien machen würde. Und ausgerechnet Severus hatte von Voldemort den Auftrag erhalten, sie zu bespitzeln. Er hatte sich zwar selbst schon vorgenommen, herauszufinden, was sie vorhatte, doch der diesbezügliche Auftrag des Dunklen Lords verkomplizierte die Angelegenheit nur. Was würde Severus tun, wenn er herausfand, dass Fenwick wirklich auf der dunklen Seite stand? Diese Frage war noch am einfachsten zu beantworten. Sobald Severus herausfinden würde, dass die Ex-Aurorin gegen Dumbledore und den Orden arbeitete, würde er sie töten, das stand für ihn fest. Doch wenn das Gegenteil der Fall war? Dann würde es die Pflicht des Zaubertränke-Meisters sein, seinen eigenen Kopf zu riskieren, um dieses arrogante, eingebildete Weib zu schützen. Es schien sein unabwendbares Schicksal zu sein, für Leute, die ihn hassten und die es keinen Deut interessierte, was aus ihm wurde, seinen Hals zu riskieren. Eine verzweifelte, ohnmächtige Wut stieg in Severus auf. Wenn ihm die alte Krähe jetzt über den Weg gelaufen wäre, hätte er sie sicherlich in irgendetwas Ekliges verwandelt, auf dem er dann herumgetrampelt wäre, aber ihm begegnete niemand auf seinem Weg zurück zum Schloss.
So schnell, wie die Wut gekommen war, ebbte sie wieder ab und machte tiefer Resignation und Verzweiflung Platz. Das war wohl genau das, was er verdient hatte, die gerechte Strafe für die Verbrechen, die er begangen hatte und immer noch beging. Er hatte es gar nicht verdient, dass es irgendjemanden kümmern würde, was aus ihm wurde, wie es ihm ging. Es war nur gerecht so, wie es war. Wenn er diese Tatsache doch einfach akzeptieren könnte! Wann würde es endlich aufhören, weh zu tun? ‚Hör auf mit diesem Selbstmitleid', rief sich Severus zur Ordnung, als er das Eingangsportal erreicht hatte, ‚dieser Unsinn führt zu nichts und wenn du gleich mit Albus redest, brauchst du einen klaren kopf, also Schluss damit!' Der Zaubertränke-Meister durchquerte die Eingangshalle und machte sich direkt auf den Weg zum Büro des Schulleiters.
***
BERÜCHTIGTER TODESSER ENDLICH IN GEWAHRSAM! DIE ZAUBERERGEMEINSCHAFT KANN AUFATMEN.
Am Dienstagabend ist es Ministeriumsauroren endlich gelungen, Jodocus Mortimer Fenwick, einen der loyalsten Anhänger dessen, dessen Name nicht genannt werden darf, in Gewahrsam zu nehmen. Wie Angelina Furgeson, die Leiterin des Aurorenteams, das Fenwick festnahm, unserem Reporter erklärte, konnte Fenwick aufgrund mehrerer anonymer Hinweise in einem Abbruchhaus im Londoner Westend aufgegriffen werden. Als die Auroren am Einsatzort ankamen, fanden sie dort eine äußerst merkwürdige Situation vor: "Fenwick lag geknebelt und gefesselt im Eingangsbereich des Hauses", berichtet Furgesson, "er war bewusstlos und wies erhebliche Spuren starker Folterungen und Misshandlungen auf, ansonsten war niemand anwesend. Das Haus machte einen völlig unbewohnten Eindruck."
Wie wir aus dem Ministerium erfahren haben, wurde Fenwick zunächst ins St. Mungo-Krankenhaus für magische Krankheiten und Verletzungen gebracht, wo er unter stärksten Sicherheitsvorkehrungen solange bleiben soll, bis eine Verbringung nach Askaban erfolgen kann. Dort wird Fenwick seinen Prozess erwarten. Aufgrund der ihm zur Last gelegten Verbrechen ist mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass ihn der Kuss des Dementors erwarten wird. Zu den seltsamen Umständen, die zum Aufgriff des Verbrechers geführt haben, befragt, erklärt ein Ministeriumssprecher: "Die Ermittlungen laufen noch, wir vermuten aber, dass es sich hier um einen Racheakt seiner eigenen Leute, wenn nicht sogar dessen, dessen Name nicht genannt werden darf, handeln könnte."
Wir können nur hoffen, dass sich noch mehrere dieser Schurken gegenseitig denunzieren. Das würde doch die Arbeit unserer Behörden erheblich erleichtern. Wir dürfen gespannt sein, wie sich die Angelegenheit weiter entwickeln wird.
Henry Dutch, für den Tagespropheten.
Ron, Harry und Hermine standen zusammengedrängt in einer Kabine im Klo der maulenden Myrthe und beugten sich über das Pergament, das sie gerade gelesen hatten.
"Und wer ist nun genau dieser Jodocus Fenwick?", fragte Ron.
"Ist doch logisch", sagte Hermine, "das ist Professor Violet Fenwicks Vater."
"Wundert mich überhaupt nicht, aber wie kommst du darauf?"
"Ich habe euch doch gesagt, dass ich mich mit dieser Frau etwas näher beschäftigen werde. Und hier sind die ersten Ergebnisse."
"Wie kommst du denn auf die Zusammenhänge?" Auch Harry blickte Hermine verwundert und erwartungsvoll an.
"Zunächst einmal habe ich Blaise gebeten, mir mal dieses Buch mit den Jahrgangsbesten zu zeigen, von dem sie letztens beim Abendessen gesprochen hat. Dort fand ich folgenden Eintrag:
1982: Violet Verbena Fenwick, Tochter des Jodocus Mortimer Fenwick, -, und der Verbena Bridget Fenwick, Buchhalterin, verstorben am 01.03.1964, OHNEGLEICHEN in allen UTZ-Prüfungen.
Was mir komisch vorkam, war der Umstand, dass bei Professor Fenwicks Vater kein Beruf angegeben war, dies war nämlich bei den Eltern der anderen Jahrgangsbesten der Fall. Als nächstes bin ich dann in die Bibliothek gegangen."
"Wohin auch sonst", sagte Ron.
Hermine beachtete seinen Einwurf nicht und fuhr fort: "Dort habe ich dann mein Glück im ‚Wer ist wer', einem Lexikon der reichsten und angesehensten Zaubererfamilien Großbritanniens, versucht."
"Ich hätte gar nicht gewusst, dass es so was überhaupt gibt", sagten Ron und Harry fast gleichzeitig.
"Wenn ihr im letzten Schuljahr in Geschichte der Zauberei zugehört hättet, wüsstet ihr, dass William der Wissbegierige dieses Projekt im Jahre 1612 ins Leben gerufen hat. Mittlerweile gibt es keine Neuauflagen mehr von diesem Nachschlagewerk, die letzte Ausgabe erschien im Oktober 1981, also ein Jahr, bevor Violet Fenwick von der Schule abging. In dieser Ausgabe habe ich keinen Jodocus Mortimer Fenwick gefunden, was mich allerdings sehr verwundert hat."
"Warum?", fragte Harry.
"Weil doch nach Slytherin in der Regel nur Leute aus alten Reinblüterfamilien kommen, die, wenn schon nicht angesehen, dann zumindest reich sind. Jedenfalls habe ich dann die Ausgaben rückwärts durchgesehen, vielleicht war ja die Familie verarmt oder hatte sonst wie Pech gehabt. Erst in der Ausgabe von 1968 fand ich den Eintrag, den ich gesucht habe. Damals war Jodocus Mortimer Fenwick Inhaber einer Firma mit der Bezeichnung ‚Fenwick Immobilien - Exquisit und Sicher'."
"Und du bist sicher", sagte Ron, "dass das der gleiche aus dem Artikel des Tagespropheten ist?"
"Na klar. Schon allein dass alle drei Namen übereinstimmen, ist ein deutlicher Hinweis. Als nächstes habe ich mich über das Archiv des Tagespropheten hergemacht, und zwar ab 1968."
"Hermine, du kannst doch unmöglich alle Ausgaben durchgelesen haben." Ron sah Hermine entsetzt an.
"Nein, hab ich auch nicht", erwiderte diese leicht ungeduldig, "ich habe einen Zauber entwickelt, der so ähnlich funktioniert, wie ein Muggel-Computer."
"Hast du mir nicht mal erzählt, dass dein Cousin Dudley immer mit so einem Ding rumgespielt hat?", wandte sich Ron an Harry.
"Schon", antwortete Harry, "aber man kann damit auch sinnvolle Sachen machen, nämlich gezielt nach bestimmten Namen suchen. Darauf willst du doch wohl hinaus Hermine?"
"Ja, ich habe einen Federkiel so verhext, dass ich nur mit ihm über einen Packen Zeitungen zu streichen brauche, um herauszufinden, ob etwas über Fenwick drinsteht. Wenn das der Fall ist, fängt die Feder an, zu vibrieren. Dann muss ich nur noch über die einzelnen Zeitungen streichen, um die richtige Stelle zu finden. Dieser Artikel stammt aus der Ausgabe vom...", Hermine sah auf die Rückseite des Pergaments, auf der sie si ch eine Notiz gemacht hatte, "vom 30.08.1970. In einigen Ausgaben von 1968 habe ich Werbeanzeigen von Fenwicks Firma gefunden, aus denen sich ergibt, dass er sein Geld damit verdient hat, Zauberer-Immobilien zu vermitteln und diese, bei Bedarf des Käufers, auch noch mit den erforderlichen Sicherungssystemen auszurüsten. Ich kann mir vorstellen, dass er eine ganze Menge Geld damit verdient hat. In weiteren Artikeln von 1969 steht, kurz zusammengefasst, dass Fenwick dann wegen einer undurchsichtigen Bestechungsaffäre, in die auch zwei Leute aus dem Ministerium - einer aus dem Koboldverbindungsbüro und einer aus der Abteilung für internationale magische Zusammenarbeit - verwickelt waren, in die Ministeriumskerker gebracht wurde. In diesem Zusammenhang hat man herausgefunden, dass er das Dunkle Mal trug. Unter ungeklärten Umständen ist ihm dann die Flucht gelungen, kurz, bevor er nach Askaban gebracht werden sollte. Ab diesem Zeitpunkt wurde davon ausgegangen, dass er einer der treuesten Anhänger Voldemorts war. Ich hab dann noch einen Artikel vom November 1970 gefunden, aus dem sich ergibt, dass Fenwick wirklich den Kuss des Dementors bekommen hat."
"Jetzt wissen wir zwar einiges über ihren Vater", sagte Harry, "aber was hast du über Professor Fenwick rausgefunden?"
"Ich habe euch doch gesagt, dass ich erst am Anfang meiner Recherche stehe. Ich habe euch genau deshalb hier runtergeschleppt, damit auch wirklich niemand etwas von unserem Gespräch mitkriegt."
In diesem Augenblick war ein Glucksen und Platschen aus einer der Nachbarkabinen zu hören. Die maulende Myrthe schoss pfeilschnell aus den Tiefen ihres Klo's nach oben, Wasserfontänen verspritzend. "Das ist mal wieder typisch", kreischte sie und bekam dabei einen lautstarken Weinkrampf. "Jahrelang besucht mich kein Mensch, und wenn dann mal jemand kommt, beachtet mich keiner. Man kommt in mein Klo und redet miteinander, als wäre ich überhaupt nicht da. Na ja, mit mir könnt ihr es ja machen. Ich bin ja schon lange gestorben, ich kann mich ja nicht mehr wehren."
"Entschuldige, Myrthe", sagte Harry beschwichtigend, "wir dachten, du wärst gerade unterwegs, weil wir nichts von dir gehört haben. Tut uns echt leid. Wir sind dir wirklich dankbar, dass wir hier auf deinem Klo ungestört reden können."
"Wo sollte ich denn schon anders sein, als auf meinem Klo? Keiner will mich haben. Keiner kümmert sich um mich!" Wieder brach sie in lautes Weinen aus.
"Tut mir wirklich leid", wiederholte Harry noch einmal.
"Ist ja gut", lenkte Myrthe ein, "kann ich euch vielleicht irgendwie helfen?"
"Das glaube ich nicht", sagte Ron zweifelnd. Doch da hatte er genau das falsche gesagt, denn sofort fing Myrthe wieder an zu zetern: "Na klar. Die dumme Myrthe ist zu nichts nütze. Ich bin ja schon lange tot. Jeder kann auf mir rumtrampeln, sogar Bücher durch mich durchschmeißen, mich beleidigen, mich rumschikanieren, aber helfen kann ich natürlich niemandem. Keiner will was mit mir zu tun haben. Nur mein Klo wollt ihr benutzen, um ungestört zu sein. Aber auf den Gedanken, dass die dumme, nichtsnutzige Myrthe das Slytherin-Mädchen mit den braunen Zöpfen und den grau-grünen Augen, über das ihr redet, kennt, kommt ihr erst gar nicht."
"Entschuldige, Myrthe, so war's nicht gemeint", sagte Ron schnell.
"Das Slytherin-Mädchen ist inzwischen unsere Lehrerin", sagte Hermine, "kannst du uns was über sie erzählen, Myrthe?"
"Jaja", sagte Myrthe nachdenklich, "sie war schon sehr sehr lange nicht mehr hier. In der Zeit, als sie nach Hogwarts kam, hat sie mich sehr oft besucht. Damals ging es ihr genauso, wie mir, als ich noch lebte. Keiner wollte was mit ihr zu tun haben, alle haben sie immer nur geärgert."
Aus der Art, wie Myrthe das erzählte, schloss Harry, dass es ihr Genugtuung und Freude bereitet hatte, dass es noch jemandem so ging, wie ihr selbst.
"Sie hat sich oft bei mir versteckt, wenn die anderen sie geärgert haben", fuhr Myrthe genüsslich fort, "ich habe ihr sogar angeboten, dass ich mein Klo mit ihr teile, wenn sie stirbt und hier bleiben will. Eines Tages saß sie wieder einmal hier und weinte, weil die anderen ihre langen Haare mit einem Klebezauber so zusammengeklebt hatten, dass man sie fast ganz hatte abschneiden müssen. Da kam auf einmal diese rothaarige Gryffindor herein und..."
"Meine Mutter", entfuhr es Harry.
"Sie hat auf Violet eingeredet und ihr gesagt, dass es nicht gut für sie ist, wenn sie sich immer hier verkriecht und dass es alles nur noch schlimmer macht. Sie hat ihr weiter gesagt, dass sie endlich anfangen soll, sich zu verteidigen, wenn die anderen sie ärgern und dass sie ihr dabei helfen wird. Danach ist sie nur noch sehr selten zu mir gekommen. Ihr hat diese Gryffindor geholfen. Mir hat nie jemand geholfen, als ich noch gelebt habe." Wieder brach Myrthe in herzzerreißendes schluchzen aus und tauchte glucksend in ihrem Klo unter.
"Woher weißt du, dass es deine Mutter war, von der Myrthe gesprochen hat?", wandte sich Hermine an Harry. Dieser sah verlegen zu Boden. Er hatte seinen Freunden nichts von dem erzählt, was er in Professor Fenwicks Erinnerungen gesehen hatte, weil er dies irgendwie nicht richtig fand. Schließlich wollte Harry auch nicht, dass Professor Fenwick mit irgendjemandem über das sprach, was sie in seinen Erinnerungen sah. Doch jetzt, wo ihm die Bemerkung über seine Mutter entschlüpft war, sagte er knapp: "Professor Fenwick hat mir einmal in einer Okklumentikstunde erzählt, dass sie meine Mutter gut gekannt hat."
"Wow, in einer Okklumentikstunde?", fragte Ron interessiert. "Erzähl, hast du ihre Erinnerungen gesehen?"
"Teilweise, aber ich fände es irgendwie unfair, darüber zu sprechen."
"Quatsch", widersprach Ron, "die Fenwick ist doch auch nicht fair."
"Harry hat Recht", sagte Hermine entschieden, "nur, weil Professor Fenwick unfair ist, muss es Harry noch lange nicht sein."
Sie warteten noch einige Minuten, um sich von Myrthe zu verabschieden, doch als diese keine Anstalten mehr machte, wieder aufzutauchen, verließen sie die Mädchentoilette, um zum Mittagessen zu gehen.