Kapitel 5: S.O.S.
Das Knurren seines Magens weckte ihn spät am folgenden Morgen. Der köstliche Duft von Zimt und Vanille lag in der Luft und kitzelte ihn in der Nase. Langsam öffnete Severus die Augen. Noch immer dasselbe Zimmer, dasselbe Bild über dem Bett, jedoch war das Meer nun ruhig und Möwen trieben auf den lustigen kleinen Wellen. Außer ihm war niemand im Zimmer, aber ein Tablett mit duftendem, cremigen Porridge stand auf dem Nachttisch. Und die gewohnte Tasse Salbeitee. Er setzte sich auf, griff nach dem verlockenden Brei und begann zu essen. Der Geschmack war sogar noch besser als der Duft. Severus konnte sich nicht daran erinnern, je etwas köstlicheres gegessen zu haben.
Aus dem angrenzenden Raum hörte er leises Murmeln. War das nicht die Stimme des Direktors? Severus war sich fast sicher. Eine Frauenstimme identifizierte er als McGonagalls. Aber es waren noch mehr Stimmen zu hören, Stimmen, die er nicht zuordnen konnte. Das leise Gemurmel und das warme, satte Gefühl in seinem Magen machten ihn erneut schläfrig. Auf einer Wolke von Vanille und Zimt nickte er ein.
***
In der Zwischenzeit nahm die Diskussion im Büro des Schulleiters schärfere Töne an. Alastor Moody, berühmt-berüchtigter Auror-Veteran, und Sirius Black, eines der jüngeren Mitglieder des Phönixordens, waren aufgesprungen und versuchten erregt, Dumbledore den Plan, den er ihnen gerade dargelegt hatte, auszureden.
"Er hat selbst zugegeben, daß er geholfen hat, mindestens ein halbes Dutzend unschuldige Muggel zu foltern und zu töten, ganz zu schweigen von den drei Auroren des Ministeriums und ihren Familien! Wie können Sie auch nur im Traum daran denken, den verfluchten Todesser ungestraft davonkommen zu lassen, Albus?!"
"Ich habe nie gesagt, ich würde ihn einfach so gehen lassen, Alastor. Ich habe euch nur gebeten darüber nachzudenken, Mr. Snape - unter der Bedingung, daß er für uns als Spion arbeitet - eine zweite Chance zu geben. Vorausgesetzt natürlich, er kann alle noch verbliebenen Fragen zu meiner Zufriedenheit beantworten und ist bereit, sich unserer Seite anzuschließen und den Eid abzulegen."
"Sie wollen den fettigen Idioten in den Orden lassen? Er ist ein verdammter, schleichender, verräterischer Slytherin! Er wird uns in dem Moment, in dem er hier herauskommt, an seinen Meister verkaufen!" schäumte Sirius zitternd vor unterdrückter Rage und Frustration.
"Setz dich hin und beruhige dich, Kumpel. Wirklich!" James Potter hatte eine Hand auf die Schulter seines besten Freundes gelegt und drückte ihn fest zurück in seinen Stuhl. "Albus würde nie etwas übereiltes oder gefährliches tun. Das weißt du genauso gut wie ich. Und wir brauchen wirklich dringend einen Spion in Voldemorts Reihen. Wir konnten bisher noch nicht einen einzigen Überfall verhindern, nicht ein einziges Leben retten, trotz all des Schweißes und der Arbeit, die wir in den Orden investiert haben. Voldemort trickst uns schon seit Jahren immer wieder aus. Denk nur, der Innere Zirkel der Todesser! Ein Spion dort könnte uns den entscheidenden Vorteil bringen, uns endlich einmal die Oberhand verschaffen, verstehst du das nicht?"
"Aber warum zum Teufel ausgerechnet Schniefelus? Würdest du dem schmierigen Mistkerl je vertrauen?"
"Nein. Aber ich vertraue Albus Dumbledore, und wenn er Snape traut ..."
"Einmal ein Mörder, immer ein Mörder. Das ist, was ich dazu zu sagen habe", grummelte Moody, während sich sein magisches Auge wild in seiner Augenhöhle drehte.
"Ich habe nie gesagt, daß ich dem jungen Mr. Snape vertraue. Aber ich habe ein paar Dinge über ihn erfahren und frage mich nun, ob der Junge jemals wirklich eine Wahl gehabt hat. Natürlich muß er sich unser Vertrauen erst verdienen, aber ich bin bereit, es mit ihm zu versuchen, ihm eine zweite Chance zu geben. Und ich wage zu behaupten, daß er sie nutzen wird."
"Was, wenn wir ihn gehen lassen und er wieder mordet? Diese Toten würden auf unser Konto gehen!"
"Alastor, ich bin ganz sicher, daß Severus das nicht tun wird. Ich habe noch nie jemanden gesehen, der sich so schuldig gefühlt hätte und so voll Reue gewesen wäre wie dieser junge Mann. So sehr, daß er um den Kuß der Dementoren gebeten hat."
"Ich hätte seiner Bitte nur zu gerne entsprochen. Das ist genau, was ein Todesser verdient, Reue hin oder her. Du wirst mich nicht umstimmen, Albus!"
"Das habe ich auch nicht erwartet, Alastor." Er wandte sich an die anderen. "Aber was ist mit euch? Ich weiß, Minerva ist ganz meiner Meinung. Wie ist es mit Ihnen, James?"
"Wenn Sie dafür sorgen, daß er an keine wichtigen Informationen über den Orden des Phönix herankommt, bin ich dafür, ihm eine zweite Chance zu geben."
"Kein unnötiges Wort über den Orden aus meinem Munde. Was ist mit euch, Alice, Frank?" Dumbledore lächelte den frisch vermählten Longbottoms zu.
"Zweite Chance." Die Antwort kam fast synchron.
"Emmeline? Dedalus? Elphias? Remus?"
Die Hexe und die drei Zauberer nickten ihr Einverständnis.
"Was ist mit Ihnen, Sirius?"
"Verdammt noch mal, nein!" brüllte der Zauberer erregt. "Dieses Stück Dreck gehen lassen? Das kann nicht Ihr Ernst sein!"
"Es ist mein voller Ernst." Dumbledore zwang sich ein gequältes Lächeln ab. Dann drehte er sich zu den anderen Mitgliedern der Kerngruppe des Ordens um und fuhr fort: "Das macht also neun gegen zwei für eine zweite Chance, wenn ich richtig gezählt habe. Ihr seid euch sicherlich der Brisanz der Sache bewußt, also kein Wort zu niemandem. Auch nicht zu Lily oder Peter." Eine leicht warnende Note lag in der Stimme des Direktors, als sein Blick auf das notorische Dreigestirn traf, welches aus James Potter, Sirius Black und Remus Lupin bestand.
"Wir schweigen wie ein Grab", versicherte James, und Remus nickte zustimmend. Sirius jedoch kochte noch immer vor Wut. Als er das Büro des Schulleiters verließ, konfrontierte er seinen besten Freund.
"Es gab einmal eine Zeit, wo du nicht mit der Wimper gezuckt hättest, das schnüffelnde Stück Scheiße den Dementoren vorzuwerfen! Du hast dich verändert, James, ganz schön verändert seit du Lily geheiratet hast."
"Dann ist es höchste Zeit für dich, dir auch eine Frau zu suchen, Kumpel!" grinste James und klopfte seinem brummigen Freund auf die Schulter. "Da draußen gibt es eine ganze Menge schöner Mädchen, die nur auf dich warten, alte Tatze, schnapp dir eine und gründe eine Dynastie!"
"Das ist ja gerade das Problem, es sind zu viele. Ich kann unmöglich nur eine auswählen und das Herz aller anderen brechen!" Auch Sirius grinste breit. Er konnte seinem Freund unmöglich lange böse sein. "Wie steht es eigentlich mit der Potter-Dynastie?"
"Wir arbeiten daran." Ein träumerischer Ausdruck legte sich über James' Gesicht. "Du wirst der erste sein, der es erfährt, Zaubererehrenwort."
***
Er wanderte ein wunderschönes Ufer entlang. Der Ozean lag ruhig und glitzerte im Sonnenschein. Eine sanfte Brise umschmeichelte sein Gesicht und ließ leichte Spuren von Salz auf seinen Lippen zurück. Die Landschaft sah irgendwie vertraut aus, aber er war sich sicher, daß er noch nie zuvor dort gewesen war. Schwärme von Möwen kreisten hoch in den Lüften oder trieben auf dem schimmernden Wasser. Eine Weile wanderte er weiter und genoß den Frieden und die Stille des Ortes. Plötzlich jedoch fiel ein dunkler Schatten auf das Land. Schwarze Wolken sammelten sich, ballten sich zusammen und löschten innerhalb von wenigen Augenblicken die Sonne und das Blau des Himmels aus. Die Möwen schrien auf und verschwanden. Ein kalter Wind traf Severus ins Gesicht, aber so sehr er auch wollte, er konnte sich nicht umdrehen und davonlaufen, um Schutz zu suchen. Er war wie am Boden fest gewachsen, erstarrt, konnte sich nicht bewegen, nicht einen Zentimeter. Schwer gegen den Sturm ankeuchend starrte er panisch auf das Meer hinunter. Die fröhlichen, silbrig-blauen Wellen hatten sich in haushohe, bleischwarze Wände schäumenden Wassers verwandelt, die unaufhaltsam und unentrinnbar auf ihn zurollten. Es gab kein Entrinnen.
Durch das ohrenbetäubende Heulen des Sturms hörte er eine kalte, tückische Stimme: "Du kannst mir nicht entkommen, Severus! Du bist mein, meine Kreatur, gebunden an die Dunkelheit. Du trägst mein Mal. Ich werde dich niemals gehen lassen!" Und mit diesen Worten schlugen die Wellen über ihm zusammen. Mit aller Macht kämpfte Severus gegen Sturm und Wasser an, kämpfte um das nackte Überleben, um jeden einzelnen keuchenden Atemzug, aber schon spürte er seine Kräfte schwinden.
"Helft mir!" schrie er verzweifelt und griff mit einer Hand wild um sich. Zu seiner großen Überraschung traf sie auf etwas warmes, lebendiges. Mit aller Macht hielt er sich daran fest, während der Sturm ihn schüttelte und ihm ins Gesicht peitschte. Jetzt war da eine andere Stimme, sie war kaum zu hören durch das Tosen des Sturms, aber sie wurde stärker und eindringlicher.
"Severus, wach auf! Es ist nur ein Alptraum! Severus!" Albus Dumbledore hatte versucht, den wild um sich schlagenden und tretenden jungen Mann zu wecken, und war schließlich dazu übergegangen, ihn zu schütteln und sachte zu ohrfeigen, aber ohne Erfolg. Er schien in einem schrecklichen Alptraum gefangen, wobei seine Hand im Schlaf krampfhaft Albus' Oberschenkel umklammerte.
"Severus!" Endlich begannen die Lider mit den langen, schwarzen Wimpern zu flattern, und Severus öffnete seine Augen, in denen sich äußerst Panik spiegelte.
"Helfen Sie mir, Direktor", flüsterte er, den schrecklichen Traum noch immer lebhaft vor Augen, "ich ertrinke."
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