Kapitel 57: Heilungsversuche
Weihnachten war für Harry in seiner Kindheit nie eine besonders schöne Zeit gewesen. Nicht dass die Dursleys das Fest nicht gefeiert hätten. Ganz im Gegenteil. Sie hatten sich immer die größte Mühe gegeben, dass ihr Haus das am schönsten dekorierteste und ihr Weihnachtsbaum der prächtigste und größte in der gesamten Nachbarschaft war. Ein Weihnachtsbaum, der natürlich direkt vor dem Wohnzimmerfenster aufgestellt wurde, egal ob man sich dann noch im Zimmer bewegen konnte, ohne gleich einen Slalom um Tisch, Baum und Wohnwand machen zu müssen, was vor allem seinen dicken Cousin Dudley aussehen ließ wie ein seiltanzendes Flusspferd.
Dennoch war bei seinen Verwandten, die jegliche Art der Unordnung als ein ungeheures Verbrechen ansahen, nie auch nur einmal eine einzelne Girlande nicht nach einem bestimmten Plan aufgehängt worden.
In Hogwarts hatte sich das für Harry geändert. Zum ersten Mal hatte er das Fest als mehr als bloß eine Pflichtübung erlebt, in der es darum ging die Nachbarn zu beeindrucken und zuzusehen, wie sein dicker Cousin mit Geschenken überhäuft wurde (was außerdem jedes Mal in einem Wutanfall und Geheule des letzteren ausartete, weil er nicht hundertprozentig das erhalten hatte, was er wollte, obwohl er alles seiner Mutter noch vor einer Woche genau aufgeschrieben hatte). Zum ersten Mal hatte Harry verstanden, warum man Weihnachten auch das Fest der Liebe nannte. Dass er zum ersten Mal Geschenke erhielt, war dabei noch nicht einmal wichtig. Entscheidend war, er war mit Freunden zusammen.
Im Fuchsbau, wo er ursprünglich dieses Jahr die Festtage hätte verbringen sollen, wäre es auch alles andere als steril zu- und hergegangen, das wusste er.
Doch das war nichts im Vergleich zu dem, was ihn im Hauptquartier des Ordens erwartete. Als er das alte Familienhaus seines Paten vor zwei Tagen zum ersten Mal betreten hatte, war er mit offenem Mund stehen geblieben. Das Haus hätte die perfekte Kulisse für einen Muggel-Gruselfilm abgegeben. Die dicken Scheiben in den Zimmern waren befleckt, und selbst wenn sie noch so sauber gewesen wären, hätte sich das Licht nicht getraut einzutreten, davon war Harry überzeugt. Es war sehr düster, woran auch die roten und silbernen Girlanden und die leise Weihnachtslieder singenden bunten Kugeln, die überall angebracht waren, nichts änderten. Im Gegenteil. Es wirkte etwa so natürlich wie ein Kamelrennen auf dem Grund des Ozeans.
Jedes einzelne der Gemälde zeigte missmutig dreinschauende Leute aus lang vergangener Zeit. Die Bekanntschaft des wohl schlimmsten aller Gemälde im Haus, dem von Sirius' Mutter, war Harry soweit erspart geblieben, da dicke Vorhänge die Leinwand im Eingangsbereich verdeckten. Ron hatte ihm davon erzählt und wie es bis jetzt noch niemand fertig gebracht hatte, das Ding zu entfernen, aber dass sein Bruder Bill einen wirkungsvollen Dämpffluch darüber gelegt hatte, so dass die alte Mrs. Black wettern konnte wie sie wollte, ohne jemanden zu stören. Was ihm sein Freund von der Hexe auf dem Bild berichtete, genügte, Harrys Anflug von Neugierde auf die Mutter seines Paten im Keim zu ersticken.
Überhaupt hatte er in den letzten zwei Tagen mehr über Sirius und seine Familie erfahren als in den ganzen letzten Jahren. Jetzt, wo er sich nicht mehr um Snape kümmern musste, war sein Pate förmlich aufgeblüht und hatte sogar bereitwillig mitgeholfen das Haus zu dekorieren.
Von Snape hatte Harry seit der Episode mit dem Alptraum nichts mehr gesehen oder gehört. Man hatte ihn in einem Gästezimmer einquartiert, in das bloß Molly, Remus und Albus immer wieder hineingingen, um ihm etwas zu essen zu bringen oder sich sonst wie um seine Pflege zu kümmern. Sirius' anfängliche Sorge um Snapes Seelenheil, die ihn in der Blockhütte noch sehr zu beschäftigen schien, war offensichtlich auch verschwunden. Nur einmal, ganz zu Beginn, als Remus Snape etwas zu essen bringen wollte, hatte Sirius ihn gebeten, Snape auf eine Depression hin zu beobachten. Wahrscheinlich hatte der Werwolf den Fehler begangen, Snape darauf anzusprechen, denn als er wieder erschien, einen Teil des Porridge über seine Roben verschüttet, zeigte das Gesicht des sonst so sanften Lupin einen Ausdruck irgendwo zwischen Empörung und Wut. Daraufhin war das Thema vom Tisch. Lupin versicherte, es entspräche genau einem geistig völlig normalen Snape, so giftig und beleidigend auszuteilen.
Am Morgen vor Heilig Abend war ein etwas beklommener Harry mit Ron am Durchblättern von einigen Magazinen mit mehr oder weniger bekleideten Frauen, die ihnen ausnahmslos neckisch zuzwinkerten und sie aus roten Schmollmündern kokett anlächelten. Die Zwillinge hatten ihnen nach dem Frühstück die Hefte zugesteckt samt einer Notiz, die versprach, dass sie ihnen helfen würden die Geheimnisse des Erwachsenwerdens zu ergründen. Harry konnte nicht verleugnen, dass er seltsam angetan von den Bildern war, auch wenn er das offen nie zugegeben hätte. Ron schien es genauso zu gehen, wenn seine feuerrot verfärbten Ohren ein Indiz dafür waren, und sie beide überdeckten die Nervosität mit einigen schlechten Witzen, woraufhin die Frauen im Magazin entweder kicherten oder erzürnt die Stirn runzelten.
Als sie sich nähernde Schritte hörten, versteckten sie die Magazine rasch unter der Matratze, warfen sich bäuchlings auf das Bett und machten ein so unschuldiges Gesicht wie möglich.
Die Schritte hielten jedoch nicht vor ihrem Zimmer, sondern setzten ohne Zögern ihren Weg fort.
Ein wortloser Blickwechsel mit seinem Freund, und schon sprangen die beiden Jungen auf, eilten zur Tür, stießen diese einen Spalt weit auf und blickten auf den Korridor. Gerade noch sahen sie wie Mrs. Weasley, Dumbledore und Lupin, der Poppy, die die Augen verbunden hatte, am Ellbogen führte, um eine Ecke verschwanden.
"Die wollen sicher zu Snape," sagte Ron mit gerunzelter Stirn. "Warum so viele von ihnen und das auch noch an Heilig Abend, frage ich mich."
"Hmm", antwortete Harry nachdenklich. Rons Frage hatte etwa für sich. Pomfrey war zwar schon einmal vorbeigekommen, an dem Tag als Snape hier her gebracht wurde, und auch damals hatte sie die Augenbinde tragen müssen, weil sie kein offizielles Mitglied des Ordens war, aber warum wurde sie nicht nur von einem Mitglied des Ordens begleitet? Irgend etwas musst mit Snape vor sich gehen.
***
Grau. Nichts als Grau, soweit das Auge blickte. Die ganze Welt schien ihre Farbe verloren zu haben. Mit hängenden Schultern saß Severus in seinem Rollstuhl und stierte durch die stumpfe Scheibe auf die triste Strasse vor dem Haus. Ein düsteres, unfreundliches, nasskaltes Winterwetter hatte vor dem Grimmaultsplatz Nummer 12 Einzug gehalten. Wo war bloß der Schnee, der um diese Jahreszeit die Gegend bedecken sollte? Weg. Genauso wie Severus' Selbstachtung. Er fröstelte unwillkürlich, obwohl es im Raum behaglich warm war. Severus tat sein bestes das über ihm lauernde Gefühl der Ohnmacht und Scham zu verdrängen und konzentrierte sich stattdessen auf die immer heißer brennende Flamme der Rache. Er würde Malfoy wieder gegenübertreten können und entweder würde er sich rächen und seine Würde wieder erlangen, oder er würde im Kampf sterben. Aber so weiterleben wie jetzt, mit dem Wissen, dass er schon wieder versagt hatte, sich hatte unterkriegen lassen, das konnte er nicht. So viel wusste er.
Dies war auch der einzige Grund, warum er sich mit Lupins und Mollys Übungen auseinander setzte. Mehrmals täglich kamen sie und leiteten ihn an seine Muskeln zu bewegen und zu stärken. So oft erschien ihm das alles sinnlos und es verlangte ihm sehr viel Kraft ab, trotz dieser Sinnlosigkeit mitzumachen. Aber sie würden ihn nur dann zum Kampf mitnehmen, wenn er körperlich fit genug war. Und deshalb musste er sich zusammenreißen.
Außerdem, wenn er auch nicht wirklich Interesse daran hatte, wieder gesund zu werden, lenkten ihn die täglichen Besuche von Albus und den beiden doch für eine kurze Zeit davon ab, in dem bodenlosen Grau seiner Seele und seiner trüben Gedanken zu versinken.
Er sah auf, als sich die Tür in sein Zimmer öffnete und eine Handvoll Menschen hereinkam, Poppy Pomfrey in deren Mitte. Severus hob eine Augenbraue und brauchte erst eine Sekunde um sich zu erinnern, dass Molly vorgestern etwas davon erzählt hatte, dass sie einen Versuch unternehmen wollten, seine Hände zu heilen. Zu seiner eigenen Überraschung begann sein Herz schneller zu schlagen. Wenn sie seine Hände wieder herstellen könnten, und wenn seine Beine in den nächsten Tagen auch geheilt würden, dann müssten sie ihn für fit genug erklären, dass er mit in den Kampf konnte.
"Hallo Severus", begrüßte ihn Albus strahlend. "Bereit für den großen Tag?"
Severus würdigte diese unerträgliche Fröhlichkeit mit keiner Bemerkung und beobachtete stattdessen, wie Molly zu ihm kam und die gräulichen, einst gelben Vorhänge vor das Fenster zog, während Lupin der Medi-Hexe die Augenbinde abnahm.
"Ich verstehe nicht, warum Sie noch immer auf dieser Augenbinde bestehen, Madame", sagte der Werwolf ruhig, während er versuchte das Stoffband aus ihren Haaren zu winden, ohne ihr dabei einige Strähnen auszureißen. "Sie waren schon so oft hier und haben so viel geholfen, dass Sie sowieso schon fast zu uns gehören."
"Ich gehöre nicht zu euch", erwiderte die ältere Frau und wischte Remus' Hände weg, bevor sie hinter ihren Kopf langte und sich selber von der verhedderten Augenbinde befreite. "Ich unterstütze eure Idee und werde euch mit meiner Heilkunst immer zur Verfügung stehen, aber ich habe den Schwur geleistet, niemals jemanden wissentlich zu verletzen, und das ist genau, was der Orden tut. Ihr seid Krieger und selbst wenn es der dunkle Lord und seine Todesser sind, gegen die ihr kämpft, so will ich doch so wenig wie möglich in diesen Kampf verwickelt werden. Es ist nicht nötig, dass ich weiß, wo das Hauptquartier liegt, um euch zu helfen. Ihr seid sicherer, wenn es so wenig Menschen wie möglich erfahren."
"Aber das ist dumm. Was würde es ändern, wenn Sie...."
"Scht", unterbrach ihn Poppy mit einer unwirschen Handbewegung. "Ich will nicht schon wieder mit Ihnen über Ethik diskutieren, Mister Lupin. Jetzt sind wir aus einem anderen Grund hier, der unsere ganze Aufmerksamkeit fordern wird."
Ihr Blick wanderte zu Severus und sie lächelte leicht. "Schön Sie auf zu sehen."
"In der Hütte hat er mehr als genug herumgelegen," mischte sich Molly ein, als sie die Handgriffe des Rollstuhls fasste und Severus in die Mitte des Raumes neben einen kleinen, hölzernen Clubtisch schob, auf dem sie ein weißes Tuch ausbreitete.
"Und wie ich sehe, hat Sie endlich jemand von diesem grauenhaften Bart befreit", sagte die Medihexe beiläufig, während sie ihre Tasche auf das Bett hievte, sie aufklappte und darin herumwühlte.
Severus schnaubte nur missmutig. Ja, Molly hatte ihn tatsächlich gestern rasiert. Im Hinblick auf den heutigen Heilungsversuch seiner Hände hatte sie keine Magie gebraucht, sondern ihn auf die Muggelmethode rasiert. Nicht, dass er dabei etwas zu sagen gehabt hätte, geschweige denn die Möglichkeit sich zu wehren. Natürlich hätte er dazu erst einmal genügend Widerstand aufbringen müssen. Was spielte es schon für eine Rolle, ob er einen Bart trug oder nicht? Und überhaupt. Als Molly seinen Kopf nach hinten gebeugt hatte und begann mit der Klinge von seinem Hals zum Kinn hin zu rasieren, war er zu beschäftigt damit gewesen, Visionen von Voldemort zu bekämpfen, wie dieser ihm die Kehle aufschnitt, um viel mehr zu machen, als versteinert da zu sitzen. Ihm war es reichlich egal, ob es ihr oder sonst jemandem so besser gefiel.
"Na, dann schauen wir mal, was wir mit diesen Händen machen können." Sie kam zu Severus und Molly hob seine rechte Hand, die die Medi-Hexe anfing vom Verband zu befreien, während sie begann die Prozedur zu erklären. "Die Wunden sind mit dunkler Magie zugefügt worden und wir werden sehr starke weiße Magie brauchen, um sie wieder herzustellen, wenn das überhaupt möglich ist. Mister Lupin hat sich gründlich darüber informiert und kennt die Prozedur der Neutralisation am besten. Seine Aufgabe wird es sein, den Einfluss der dunklen Magie unwirksam zu machen, während ich versuchen werde das Gewebe und die Nerven zu regenerieren. Albus wird überwachen, dass wir nicht zu schnell vorgehen und es eine Inbalance in Ihrer magischen Aura gibt. Die dunkle Magie hat sich tief in das Gewebe um die Hände gefressen, und wenn wir nicht vorsichtig sind, verschlimmern wir nur alles. Molly hier ist unsere Notfallassistentin. Wenn etwas schief geht, oder das, was von dem Magica Pudidus noch vorhanden ist, auf die Unmenge Magie reagiert, dann wird sie einige Zaubertränke oder Muggelmedikamente zur Hand haben, die sie Ihnen verabreichen kann."
Schließlich war die Hand vom Verband befreit und Severus tat sein Bestes, nicht auf die klaffende Wunde zu sehen. Stattdessen sah er, wie Lupin einen Hautton bleicher wurde, als er wie gebannt auf das Ding starrte, das einmal seine Hand gewesen war und das nun, mit der Handfläche nach unten, auf den kleinen Tisch gelegt wurde.
Poppy ging zu ihrer Tasche und holte eine Severus inzwischen viel zu bekannt gewordene Muggelinfusion heraus. "Wir werden zur Sicherheit eine Infusion legen, Professor Snape", erklärte sie, während sie die Schläuche und Nadeln an dem mit Flüssigkeit gefüllten Beutel anhängte, diese hindurchfließen ließ und schließlich den Beutel an eine entsprechende Haltevorrichtung am Stuhl hängte. "Nur für den Fall, dass wir mit Muggelmedikamenten einspringen müssen. Es könnte plötzlich schnell gehen müssen."
Mit kühler Professionalität schob sie Snapes Ärmel nach oben, band seinen linken Oberarm ab und führte flink die Nadel am Ende der Infusion in eine hervortretende Vene in seiner Armbeuge ein. Nachdem sie das Gummiband wieder vom Oberarm gelöst hatte, beugte sie sich leicht zu ihm vor. "Es ist bloß eine Sicherheitsmassnahme, Severus. Vielleicht geht überhaupt nichts schief, aber ich bin gerne auf alle Eventualitäten vorbereitet."
Severus reagierte nicht auf ihre Beruhigungsversuche. Es gab nichts zu beruhigen. Das einzige was er fürchtete, war, dass eine Heilung unmöglich war und er den Versuch trotzdem überlebte.
Review
Zurück