Kapitel 5: Auf Messers Schneide
Weder Harry noch seine Freunde sahen Snape an diesem Tag noch einmal - noch nicht einmal im Grossen Saal erschien er und sein Platz am Ende des Lehrertisches blieb leer. Harry konnte nicht behaupten, dass er dies bereute, und Ron hatte sogar vehement gehofft, dass der Zaubertränkelehrer von Dumbledore so zur Schnecke gemacht worden war, dass er es nicht mehr wagte seine übergrosse Nase in nächster Zeit sehen zu lassen.
Dafür war zu Dumbledores Linken ein weiteres Gedeck aufgetischt worden, hinter dem ein gutmütig lächelnder Remus Lupin sass. Unter dem Tisch neben Lupins Füssen lag ein grosser, schwarzer Hund, der den Kopf auf die verkreuzten Vorderpfoten gelegt hatte und sich die Schülerschar an den Tischen mit mässigem Interesse besah.
Die meisten Schüler beachteten den braunhaarigen Mann nicht weiter aber ein paar von ihnen, vor allem aus der Slytherin Ecke des Raums, bedachten ihn mit ablehnenden Blicken. Der ehemalige Lehrer war ein Werwolf und dies war für viele Menschen schon Anlass genug, ihn zu hassen und zu fürchten. Das war auch der Grund gewesen, warum Lupin nicht mehr unterrichtete. Ein weiteres Übel, dachte Harry, für die Snape verantwortlich war. Hätte der Zaubertranklehrer nicht ‚aus Versehen’ den Schülern über Lupins Zustand berichtet, wäre dieser sicherlich auf seinem Posten geblieben. Doch zu seiner Erleichterung sah Harry auch freundliche Gesichter, die sich zu freuen schienen den Lehrer, der damals recht beliebt gewesen war, zu sehen und die wohlwollend zurücklächelten.
Das gewaltige Rascheln von Dutzenden von Flügelpaaren, die durch die Luft flatterten, liess alle aufsehen. Durch das offene Fenster hoch oben unter der magischen Decke schoss ein weisser-brauner Schwarm, der sich gleich darauf in duzende individuelle Eulen auflöste, die kreuz und quer durch den Raum einige Kreise zogen, bis jede ihre Zielperson gefunden hatte und vor ihr auf dem Tisch landete.
Auch vor Harry hatte sich eine ihm unbekannte braune Eule mit schwarzgesprenkeltem Brustgefieder niedergelassen und streckte ihm ihr Bein entgegen, an der ein kleiner, aufgerollter Brief angebunden war.
Etwas überrascht nahm er ihr das Pergament ab und fütterte sie mit einigen kleinen Brocken seines Essens, woraufhin der Vogel zufrieden schuhschute, sich vom Tisch abstiess und davonflog.
„Von wem ist denn der Brief?“ fragte Hermine neugierig.
„Ja, genau“, fiel Ron ein. „Die einzigen, von denen du sonst Post empfängst, sitzen an bzw. unter dem Tisch dort oben.
Harry zuckte kurz ahnungslos mit den Schultern und öffnete das Pergament. Es war eine kurze Notiz aber Harry kannte die Schrift sofort.
Lieber Harry,
Triff uns heute Abend zusammen mit Hermine und Ron um acht im Astronomieturm. Remus und ich haben euch etwas Wichtiges zu sagen.
S.
***
Die drei Freunde konnten kaum erwarten die wichtige Neuigkeit zu erfahren, und kurz vor acht stiegen sie die enge Treppe in dem hohen Turm hinauf.
Sie erreichten die dicke, von der Zeit gezeichnete Holztür, die zum Eingang des Astronomiezimmers führte, und traten in den runden Saal, der Mit Modellen verschiedener Sterne, Astronomie- und Sternenkarten und unterschiedlichen Messgeräten vollgestopft war. Vor der riesigen Glasfront, neben dem fünf Meter hohen Teleskop stand Remus Lupin neben Sirius, letzterer noch immer in seiner Hundegestalt.
Als sie im Raum waren kam Lupin zu ihnen und lächelte sie an, bevor er einen Zauberstab auf die Tür hinter ihnen richtete und diese mit einem Zauber verriegelte.
„Ich kann mich noch erinnern, dass dieser Raum oft und gerne als Liebesnest für hormonell übersteuerte Teenager gebraucht wurde. Und wir wollen ja nicht gestört werden“, sagte er entschuldigend.
Erst als die Tür gesichert war, verwandelte sich Sirius zurück und kam ebenfalls zu den Freunden.
„Was ist denn los? Was wollt ihr uns so Wichtiges sagen?“ platzte es aus Harry heraus.
Sirius’ Miene verdunkelte sich unmerklich. „Wir wollten euch warnen, vor allem dich Harry. Du bist in Gefahr.“
Harry sah den besorgten Gesichtsausdruck seines Paten, aber er erschrak nicht. Mit einer Spur von Bitterkeit dachte er, was für ein verrücktes Leben er führte, dass ihn eine solche Warnung nicht mehr erschreckte. Dass er in Gefahr war, war in seinem kurzen Leben leider schon zur morbiden Gewohnheit geworden.
„Und wer ist es diesmal? Wieder Voldemort?“, seufzte Harry gleichmütig. Ron konnte sich ein leises Glucksen nicht verkneifen und selbst Sirius und Lupin schmunzelten anflugsweise ob seiner fast gleichmütigen Antwort.
Doch die Heiterkeit aus ihren Augen verschwand so schnell wie sie gekommen war. „Nein. Diesmal ist es nicht Voldemort sondern Snape.“
„Snape?“, wiederholte Hermine verdutzt.
Aber Ron schnippte mit den Fingern und hatte sein Ich-habs-ja-immer-gesagt Gesicht aufgesetzt. „Wusste ich’s doch. Der Kerl hat Dreck am Stecken.“
Harry allerdings sah eher zweifelnd aus. „Snape? Bist du sicher? Der ist doch bloss ein Hund der bellt aber nicht beisst.“ Noch bevor er fertig geredet hatte, kam ihm Dumbledores sorgenvolle Aussage in den Sinn und ein flaues Gefühl breitete sich in seiner Magengegend aus.
Remus schüttelte betrübt den Kopf. „Das war bis jetzt immer so. Er schuldet Dumbledore etwas, genau wie Dumbledore ihm etwas schuldet, aber Snape hat sich sehr verändert in letzter Zeit. Er ist unruhig und schläft, nach Dumbledores Aussage, kaum noch. Er hat absolut keine Toleranz gegenüber Sirius und heute Morgen haben wir beide gehört, wie er sich mit Dumbledore gestritten hat.“
„Das war recht unschön gewesen“, bestätigte Sirius. „Bis jetzt hat Dumbledore immer gewusst wie er zu Snape durchdringen konnte, und der Giftmischer hat auch jedes Mal am Ende den Schwanz vor ihm eingezogen. Diesmal hat er allerdings laut schreiend und Albus verfluchend dessen Büro verlassen. Als er uns auf der Treppe begegnete, hat er uns angeschrieen. Er hat gesagt, dass es genauso sei wie damals bei den Herumtreibern. Dass Dumbledore seine heissgeliebten Gryffindors immer bevorzugte, aber das er dafür sorgte, dass es diesmal anders ausgehen und Dumbledores Liebling den Preis, dafür, dass er ihn lächerlich gemacht hatte, zahlen würde.“
„Was meinte er damit?“, fragte Hermine.
Der Animagus wechselte einen kurzen Blick mit Lupin. „Ihr wisst, was damals in der Heulenden Hütten geschehen ist, nicht?“, wandte sich Lupin wieder an sie. Die drei Schüler nickten stumm.
„Es war ein blöder Streich gewesen“, Remus ignorierte den leicht beleidigt-wütenden Blick Sirius’.
„Er hat es verdient gehabt. Das einzige das blöde daran gewesen war, war dich damit hineinzuziehen“, knurrte Black.
Lupin schüttelte betrübt den Kopf. „Er hätte sterben können, Sirius, und egal wie sehr er dich immer aufgeregt hatte, ich bezweifle, dass du damit hättest leben können. Aber wie dem auch sei, Severus hatte damals den Schrecken seines Lebens davongetragen und war vollkommen überzeugt, dass wir alle für den Mordversuch - denn genau das war es in seinen Augen - nach Askaban kämen, oder aber zumindest von der Schule verwiesen würden. Stattdessen hat uns Dumbledore noch eine Chance gegeben und bloss Sirius Nachsitzen aufgebrummt. Er hat uns nicht einmal Punkte abgezogen, weil er den anderen Lehrern nicht den Grund dafür erklären wollte. Er versuchte mich damals wohl vor allem vor dem Ministerium zu schützen, aber Severus hat es hart getroffen. Und um das Ganze noch schlimmer zu machen, hat Dumbledore ihn auch zum Schweigen verpflichtet. Sirius musste sich bei ihm entschuldigen und dann wurde die ganze Sache unter den Teppich gekehrt und vergessen. Dumbledores Handeln hat wahrscheinlich mein Leben gerettet, aber es hat Severus noch mehr verbittert. Seine Wut hat sich über die Jahre immer mehr angestaut, und ich fürchte, dass, was auch immer heute Morgen passiert ist, das Fass zum Überlaufen gebracht hat.“
***
Am nächsten Tag, achteten die drei Freunde besonders auf Snape und waren sehr angespannt. Remus’ und Sirius’ Warnung hatte sie hellhörig gemacht und die Beobachtungen der beiden ehemaligen Herumtreiber stimmten komplett mit denen Dumbledores überrein. Sie hatten noch am Morgen den Schulleiter aufgesucht, aber er war nur sehr traurig gewesen und hatte ihnen versprochen, auf Severus zu achten. Aber er wagte nicht, den Lehrer jetzt zu bedrängen oder zu ermahnen, oder er würde ihn garantiert ganz verlieren. Harry erinnerte sich nicht gerne an das Gespräch mit dem Direktor. Noch nie hatte er den alten Zauberer so geknickt gesehen. Dumbledore hatte ihre Warnung zwar ernst genommen, aber er hatte auch gesagt, dass er eine Schuld gegenüber Snape trug, und er um ihn kämpfen würde. Aber er hatte Harry versichert, dass er sie drei vor dem Lehrer beschützen würde, wenn es wirklich soweit kam.
Sie sahen jedoch für zwei Tage gar nichts von dem Zaubertränkemeister, noch nicht einmal zu den Mahlzeiten erschien er und die Gerüchte häuften sich, dass er nicht oder zu spät zu seinen Stunden erschien und total desinteressiert am Unterricht war. Harry hatte Mühe, das zu glauben, bis er selbst im Zaubertränke-Klassenzimmer sass, und Snape eine Viertelstunde zu spät hereinstolzierte, ohne die Klasse auch nur eines Blickes zu würdigen. „Lest irgend etwas in euren Büchern“, befahl er kalt, bevor er sich an sein Pult setzte, im Stuhl zurücklehnte und blicklos gegen eine Wand sah, als ob er tief in Gedanken versunken wäre.
Die Schüler wechselten verständnislose Blicke bevor sie ihre Bücher hervorholten und so taten, als ob sie lesen würden. Jedoch schielten alle immer wieder spannungsgeladen zu dem Lehrer, als ob sie jeden Moment erwarten würden, dass er explodierte. Aber nichts geschah. Er sass nur da und beachtete sie nicht.
Die Stunde verging und noch immer regte sich Professor Snape nicht, aber niemand wagte es den Lehrer darauf aufmerksam zu machen, dass der Unterricht vorbei war. So sassen sie eine Viertelstunde später immer noch stumm da, bis es Hermine scheinbar zu blöde wurde.
„Ahem...Professor“, piepste sie.
Snape sah auf und fixierte sie mit einem undefinierbaren Blick, ohne jedoch etwas zu sagen.
„Ahem...Die Stunde, Sir“, sagte Hermine zögernd, „sie ist zu Ende...“
Die ganze Klasse starrte von Hermine zu dem Lehrer, erwartend dass diesmal der Ausbruch sicherlich kam. Stattdessen winkte Snape nur gelangweilt ab. „Und was macht ihr dann noch hier? Verschwindet.“
Kaum waren sie aus dem Zimmer, starrten sich Hermine und Harry an. „Was sollte das denn?“
Aber Ron schien keine Zeit zu haben um überrascht zu sein. „Er hat uns keine Hausaufgaben gegeben“, jubelte er, als wäre er soeben Zeuge eines Wunders geworden.
Und dies sollte nicht das letzte Mal sein. Scheinbar gab Snape überhaupt keine Hausaufgaben mehr auf. Er liess den Unterricht teilnahmslos über sich ergehen, als würde es ihn gar nicht mehr interessieren und keiner der Schüler beschwerte sich darüber, ausser vielleicht Hermine, die in dem Unterricht gerne etwas gelernt hätte. Harry machte sich keine Illusionen. Dumbledore würde früher oder später eingreifen müssen. Immerhin war das hier eine Schule, aber im Moment schien er Snape in Ruhe zu lassen.
Der Zaubertränkemeister begann wieder zu den Mahlzeiten zu erscheinen, doch auch da zeigte er kein richtiges Interesse an irgend etwas, was die Schüler oder Lehrer sagten oder taten. Und anstatt seiner üblichen bohrenden und mürrischen Blicke, die er immer gezeigt hatte, war immer klarer etwas in seinem Gesicht zu lesen, das aussah wie überhebliche Langeweile. Je länger, je mehr gewann sein Gesicht einen Ausdruck, den Harry schon einmal gesehen hatte. Den selben blasierten Gesichtsausdruck, den Lucius Malfoy auf sein Gesicht gemeisselt zu haben schien.
***
Anmerkung von Lilith: Für all diejenigen, die sich gewundert haben, ob beim Prolog etwas schief lief. Sei es, dass Severus den Fluch falsch betont oder daneben gezielt hat. All diejenigen die gezweifelt haben, ob Sirius wirklich tot ist, all jene, die noch hoffen, dass Dinu mich überzeugen kann, Sirius doch am Leben zu lassen, die kann ich beruhigen. Im nächsten Kapitel sind wir bei der Szene vom Prolog und ihr werdet endlich ein wenig mehr Details bekommen :-P
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