Von Mördern und Verrätern

 

 

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Kapitel 45: Gewissen

Harry hatte sich auf ein Sofa in die hinterste Ecke des Gemeinschaftsraums zurückgezogen, die Beine eng an seinen Körper gezogen, sie fest umarmend, als könne er so all dem Grauen des heutigen Tages entfliehen. Mayweather war, Gott sei Dank, nicht hier gewesen, als er im Turm angekommen war. Wahrscheinlich sass der Mann in seinem angrenzenden Raum und betrank sich mal wieder, wie so oft.

Harry wusste nicht, wie lange er da sass. Er sah nicht auf seine Uhr und die Zeit verlor sich in Gedanken, die sich um die Unmenschlichkeit drehten, die er beobachtet hatte und seine Rolle, die er darin gespielt hatte. Und um Snape und die Verfassung in der er ihn heute gesehen hatte. Nie hätte er gedacht, dass er den verhassten Lehrer je in einer solch wehrlosen Position erleben würde und das störte ihn fast noch mehr als die körperlichen Wunden, die er gesehen hatte. Seit der ersten Zaubertränkestunde hatte er Severus Snape verachtet, seine Bösartigkeit und seine unfairen Handlungen. Sein angeblicher Hass war so sehr gewachsen, als er dachte, dass Snape Sirius getötet hatte und nur die Vision von Voldemort, der dem Mann die Kehle durchgeschnitten hatte, hatte ihm gezeigt, was Hass wirklich war. Er war zu diesem Gefühl nicht fähig. Hass bedeutete jemandem den Tod zu wünschen, sich zu freuen, wenn er litt. Harry hatte gedacht, dass er so empfinden würde, doch er hatte sich geirrt. Er hatte Snape nie gemocht, doch er hasste ihn nicht. Nur Menschen ohne Gewissen konnten wirklich hassen. Er war einfach zu naiv gewesen um das zu erkennen, das war alles. Es gab kein Weiss und Schwarz. Nett und böse waren immer relativ und hinter jedem bösen Wort stand ein Mensch mit Gefühlen.

Das Portrait der fetten Dame schob sich irgendwann zur Seite und Ron und Hermine eilten herein, gleich zu ihm hastend, als sie ihn erblickten.

"Harry, Gott sei Dank. Der Direktor hat uns erzählt, dass du hier bist", sagte Hermine etwas ausser Atem. "Bist du in Ordnung?"

Harry nickte bloss stumm.

Ron setzte sich an seine Seite auf das Sofa. "Du hast uns einen ganz schönen Schrecken eingejagt, als du plötzlich mit Sirius verschwunden bist. Was hattest du dir nur dabei gedacht?"

"Ich musste mitgehen", murmelte er in seine Knie. "Snape war durch meine Schuld in Gefangenschaft geraten."

Es war eine Minute still, bevor Hermine schüchtern fragte: "Und? Habt ihr ihn gefunden?"

Wieder nickte Harry und versuchte verzweifelt, die Bilder von Snapes geschundenem, stinkendem Körper zu vertreiben, von den Verbrennungen und offenen Wunden, den hervortretenden Rippen und dem Dreck. Der weissen Substanz, die Sirius aus den Wunden am Rücken...

Er schloss kurz die Augen um diese Erinnerungen loszuwerden. "Er sieht schlimm aus, aber er lebt noch und Madame Pomfrey denkt, dass er gute Chancen hat zu überleben."

"Dann ist ja alles gut", sagte Ron fröhlich. "Nichts schlimmes passiert und Snape wird uns schon bald wieder Punkte abziehen und uns anschreien." Bei den letzten Worten hatte seine Stimme schon fast wieder den alten frustrierten, abneigenden Tonfall angenommen, wenn es um Snapes unfaires Benehmen in seiner Stunde ging. Harry aber fühlte nichts von der üblichen Antipathie, sondern höchstens einen tieferen melancholischen Stich in seinem Herzen.

"Vielleicht wird er nie wieder unterrichten. Voldemort hat ihn magisch überladen. Er kann noch nicht in die Nähe von Magie, oder er könnte sterben. Er wurde schlimm gefoltert und hat Wunden, die so schrecklich sind..." Wieder überkamen ihn hilflose Selbstvorwürfe und Kummer. "Man hat ihn einfach auf einen Stapel Leichen geworfen, halbtot und fast verhungert und verdurstet. Er hat die ganze Zeit, als ich dort war, nie das Bewusstsein wiedererlangt, aber selbst bewusstlos hat er unter den Schmerzen gewimmert..."

Es war lange still nach dieser Bemerkung. Ron und Hermine würden wohl Mühe haben, sich den bösen Zaubertränkemeister wimmernd vorzustellen. Hätte er es selber nicht gesehen.... er vergrub sein Gesicht wieder zwischen seinen Knien.

Nach einer langen Minute bedrückten Schweigens legte sich eine Hand sanft auf sein Knie.

"Über was denkst du nach?" fragte Hermine.

Harry hob seinen Kopf wieder und sah sie traurig an. "Über letztes Jahr, und all das, was in diesen Monaten passiert ist. Erinnert ihr euch noch an den Tag im Gericht?"

Die Beiden nickten.

Madame Pomfrey hat gesagt, dass Snape die Fingernägel rausgerissen wurden. Genau das habe ich mir vorgestellt, mit ihm zu machen um ihn zu strafen."

"Du hattest doch keine Ahnung, Harry", beschwichtigte Hermine.

"Das ist keine Entschuldigung. Als Ron gesagt hat, dass wir zusehen wollten, wie Snapes Seele ausgesogen wurde, habe ich mich gefreut, dass er das gehört hatte. Dass er wusste wie egal er allen war. Stellt euch nur einmal vor, wie er sich dabei gefühlt haben musste und trotz allem war er immer noch bereit alles zu riskieren. Ich weiss nicht warum er das getan hat. Sicher nicht aus Nächstenliebe. Er ist zu gemein und verbittert, dass er kaum Nächstenliebe empfinden kann. Er ist die Gefahr eingegangen für Menschen, denen er genauso wenig bedeutet, wie sie ihm, während ich den Brief, der ihm fast den Tod gebracht hatte, aus Liebe zu meinem Paten geschrieben hatte. Zu was für einen Menschen macht ihn das? Und mich?"

"Das war nicht nur dein Brief, Harry, wir waren alle darin verwickelt", versuchte Ron halbherzig Harry zu beruhigen. Sein Gesicht war unsicher und er wirkte beschämt, als sei er sich erst jetzt wirklich der Tragweite des ganzen Schlamassels und ihrer Rolle darin bewusst geworden.

***

"Ich kann das nicht glauben", brachte Sirius zwischen zusammengepressten Zähnen hervor während er Snape mit einer Hand auf der Schulter in seiner seitlichen Lage stützte, als er das stützende Kissen von seinem Rücken entfernte und missmutig auf die Matratze neben den Beinen des Mannes fallen liess. "Ich spiele doch tatsächlich Krankenschwester für Snape." Leicht frustriert liess er den Zaubertränkemeister auf den Rücken rollen, was diesem ein leises Stöhnen entlockte, als die Wunden an seinem Rücken so plötzlich belastet wurden. Sirius fühlte eine Mischung aus Verlegenheit, dass er nicht daran gedacht hatte, und Frust, dass er überhaupt hier war. "Nun stell dich mal nicht so an, Snape. Mir macht das Ganze auch nicht viel Spass, glaube mir."

Er zog nun auch das Kissen unter seinen Beinen hervor und begann die Verbände, Gazen und Einlagen zu kontrollieren, wie ihm Madame Pomfrey gezeigt hatte. "Nein, wirklich kein Spass", murmelte er, als er Snapes Bein anhob und anfing es sachte zu bewegen, während er oberhalb der Verbrennungen die Muskeln zu massieren begann um die Blutzirkulation anzutreiben. Pomfrey und Dumbledore würden es ihm nie verzeihen, wenn sich ein Blutgerinnsel bilden würde, nur weil er nicht aufgepasst hatte. "James würde sich in seinem Grab umdrehen, wenn er mich so sehen könnte", schimpfte er weiter in seinem leisen Monolog auf den bewusstlosen Mann ein. "Ich wette, dass dir das gefallen würde, nicht Snivellus?"

Er legte das Bein wieder auf die Matzratze, aber gab diesmal acht, dass die Bewegung nicht zu abrupt war, und wiederholte die selbe Prozedur mit dem anderen Bein. "Aber ich schwöre dir, dass, wenn du jemals auch nur ein Wort über all dies verlierst, dass ich dann all deinen Schülern erzählen werde, dass der gefürchtete Zaubertränkelehrer nicht einmal alleine aufs Klo konnte." Natürlich erwartete Sirius nicht, dass Snape ihn wirklich hörte, doch sein einseitiges Geschimpfe half doch sehr dabei, seinen Frust abzubauen.

Er legte das Bein auch wieder auf das Bett und drehte den schlaffen Körper auf die andere Seite, ihn das Kissen wieder stützend in den Rücken schiebend. Die Beine wurden ebenfalls mit einem Kissen gestützt, dass die Füsse und so gut als möglich die Unterschenkel frei lagen, bevor er das Leintuch wieder bis an Snapes Brust zog.

Er setzte sich an die Bettkante und nahm einen Lappen aus einer kleinen Schüssel mit Wasser, den er grob auswrang und dann zu Snapes Gesicht hob. Er wusste von Askaban her noch, dass es mehr als unangenehm war, wenn man Durst hatte und obwohl Snape nichts trinken konnte, solange er noch bewusstlos war, würde ein wenig Flüssigkeit doch helfen, das Durstgefühl zu mindern und Entzündungen der Mundschleimhäute vorzubeugen. Egal, wie ungern er den Job hier übernommen hatte, war es noch besser, als dass Harry seine Karriere dafür aufs Spiel setzte. Er plante es so gut wie möglich zu machen, damit Snape so bald als möglich wieder auf den Beinen war. Für Harry und Dumbledore, und damit er selber schneller von hier verschwinden konnte. Wenn Snape alleingelassen werden konnte, dann würden ihn keine zehn Riesen noch länger in der Nähe dieses Menschen halten können. Er würde tun, was getan werden musste, aber nicht mehr.
Scheinbar hatte die Überladung auch den Zauber aufgehoben, der Snape rasiert bleiben liess und somit würde dies wohl in Zukunft auf Muggelmethode passieren müssen. Zu dumm für Snape, dann musste er sich wohl an einen Bart gewöhnen, dachte Sirius. Rasieren würde er ihn nämlich ganz bestimmt nicht.

Sirius wischte erst die dünne Schicht Schweiss von Snapes Gesicht und bei der ersten Berührung des kühlen Wassers, stöhnte der Zaubertränkemeister wieder unterdrückt auf und lehnte sein Gesicht unmerklich in das Tuch.

"Sag bloss, du beehrst uns endlich wieder mit deiner Anwesenheit, Snape", spottete Sirius. Er schnaubte kurz und schwenkte das Tuch wieder im Wasser aus. Er wrang die überflüssige Flüssigkeit heraus und hob das Tuch an Snapes aufgesprungenen Lippen. "Wenn du wach bist, dann versuch an dem Tuch zu saugen, Snape. Es wird gegen die Trockenheit in deinem Mund helfen." Sirius verkniff sich eine giftige Bemerkung, auch wenn er den abweisenden Tonfall nicht aus seiner Stimme verbannen konnte. Doch als er mit dem nassen Stück Stoff Snapes Lippen berührte, einige Tropfen in den halb geöffneten Mund tröpfeln liess und den Befehl "Trink", gab, war Snapes Reaktion überhaupt nicht, wie er erwartete. Kaum hatte die Flüssigkeit seine Zunge benetzt, zuckte der Mann heftig zurück. Seine Augen pressten sich zusammen und er begann am ganzen Körper zu zittern, während er mit einem panischen Stöhnen versuchte den Kopf wegzubewegen, wozu er jedoch kaum Kraft zu haben schien. Sirius zog erschrocken seine Hand mit dem Lappen zurück. Solch eine heftige Reaktion hatte er nicht erwartet, dabei war er sicher, dass Snape noch nicht einmal ganz wach war. "Snape?"

Das Zittern wurde nur noch heftiger und Sirius konnte sehen, wie sich die Augäpfel unter den geschlossenen Augenlidern wild bewegten und Snapes Atmung schnell und unregelmässig wurde.

Langsam wurde Sirius unruhig. Snape würde ihm doch jetzt nicht einfach wegsterben? Er würde Harry und Dumbledore nie mehr gerade in die Augen sehen können. "Snape! Verdammt, hör auf damit. Wach endlich auf!"

***

Alles tat weh. Sein Körper war eine einzige Wunde. Erinnerungsfetzen schossen in seinem Kopf herum, ohne dass sie Sinn zu machen schienen. Da war eine Stimme, die ihn verhöhnte, Eine Gestalt mit fast weissem Haar, und eine andere mit roten Augen, die laut und hässlich lachte und er fühlte einen starken Anflug von Scham und Demütigung, aber konnte nicht sagen, warum. Da waren glühende Kohlen und leere Augenhöhlen in einem halbverwesten Schädel. Ketten und Messer. Die Bilder wirbelten vor seinem Auge umher, immer schneller, bis ihm der Schädel zu zerspringen drohte.

Doch dann legte sich etwas kühles, weiches sachte auf sein Gesicht und gab ihm einen neuen Halt, auf den er sein noch von einem dicken Nebel umfangenes Bewusstsein konzentrieren konnte. Die Berührung war sanft und gab ihm ein Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit, das er, wie ihm erschien, noch nie gefühlt hatte. Er stöhnte und lehnte sich in die Berührung, die aber plötzlich wieder verschwand und die Kühle, die sie gebracht hatte und die sein Bewusstsein so herrlich geklärt hatte in eisige Kälte verwandelte, als nur noch Luft die Haut traf. Von irgendwo her hörte er eine Stimme, doch die Worte schienen zu weit weg, als dass er sie hätte verstehen können.

Und dann wurde etwas Nasses an seinen Mund gehalten und er hörte den Befehl "Trink" zu ihm durchdringen und in seinem Kopf echoen. Bevor er wusste warum, übermannte ihn eine Welle immenser Panik und frass sich in seine Knochen. Blut... Blut des Kindes... Tote Augen... Wenn er nicht trinken würde, dann würde etwas schreckliches passieren... Er musste gehorchen... Er musste, aber er konnte nicht. Die Panik hatte ihn komplett in ihren Fängen und erstickte ihn, drückte ihn zusammen. Er musste trinken...musste...hatte so Durst, doch konnte nicht. Sein Magen schien sich überzustülpen und alles in ihm schrie danach zu fliehen. Aber er musste gehorchen... Etwas schlimmes würde passieren.... Die Gedanken rasten immer schneller, immer wiederkehrend auf Kollisionskurs mit seinen Gefühlen, bis alles verschwand und nichts mehr wahrnehmbar war. Nur noch ein Gewicht auf seinem Brustkorb, das immer schwerer wurde.

"Snape! Verdammt, hör auf damit. Wach endlich auf!"

Die Stimme drang schliesslich zu ihm durch und riss seinen Geist aus dem Alptraum. Er riss die Augen auf und sah für einen Augenblick nur einen grauen Schleier.

"Na endlich. Ich dachte schon du kratzt mir hier noch ab."

Er kannte die Stimme. Sie weckte etwas in ihm, ein drängendes, ungutes Gefühl und Severus presste kurz die Augen zusammen, Als er sie wieder öffnete, lichtete sich der graue Schleier langsam und der Schatten eines Kopfes zeichnete sich ab. Nach zweimal Blinzeln klärten sich die Gesichtszüge und Severus blickte in das stirnrunzelnde Gesicht eines schwarzhaarigen Mannes. Sein Gehirn brauchte allerdings eine Sekunde um ihm einen Namen liefern zu können. ‚Sirius Black', und noch eine Sekunde mehr um zu realisieren, dass er diesen Mann hasste. Er wusste zwar nicht genau warum, doch seine Panik von vorhin wandelte sich in unsägliche Wut. Sein sich von der Erinnerung gerade beruhigendes Herz begann wieder schneller zu schlagen, als sein Gehirn versuchte mit zu vielen Erkenntnissen und Gefühlen klarzukommen. Er wusste nicht, wo er war, aber sein ganzer Körper schmerzte, Er hatte kaum genug Kraft um die Augen offen zu halten und aus einem, seinem benebeltem Gehirn unbekanntem Grund heraus, hatte er das Gefühl in etwas sehr Wichtigem versagt zu haben. Und Sirius Black war hier um sich über sein Versagen lustig zu machen. Wie schon so oft zuvor.

"Du...", begann er Sirius zu beschimpfen, doch nur ein krächzendes Geräusch verliess seine Kehle. Black grinste ihn daraufhin nur schadenfreudig an, was Severus noch mehr wütend machte. Was erlaubte sich der verdammte Hund sich über ihn lustig zu machen? Und warum war er überhaupt in einem solchen Zustand. Was war passiert? Und wie konnte es Black wagen, sich an seiner Schwäche zu laben? Seine Augenlider wurden schwer, doch er zwang sie auf und starrte den Animagus hasserfüllt an. Er kräuselte den Mund zu einer verachtenden Geste, den ziehenden Schmerz ignorierend, der über seine Lippen zog. Er würde Black nicht noch mehr Schwäche zeigen... wenn nur seine Lider nicht so schwer wären...

Bevor sein Bewusstsein wieder in der Dunkelheit versank, hörte er noch Blacks abfällige Worte: "Du wirst dich nie ändern, du undankbarer fettiger Mistkerl."



 

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