Von Mördern und Verrätern

 

 

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Kapitel 29: Die Strasse zur Hölle ist gepflastert mit guten Vorsätzen


Harrys Gedanken befanden sich noch immer in einer Imitation einer perfekten Achterbahn, als er am späten Abend auf dem Weg zu dem Gryffindorturm war, Remus an seiner Seite. Dumbledore hatte am Morgen irgendwann nach den Erklärungen Lupin losgeschickt, da er alle Stunden Harrys an diesem Tag absagen solle. Lupin hatte den Lehrern und auch Ron und Hermine gesagt, dass Harry ihm bei einer Aufgabe helfen sollte, die den ganzen Tag beanspruchen würde. Dumbledore hatte schuldbewusst eingeräumt, dass Harry Zeit brauchen würde um über den Schock zu kommen und sich ohnehin nicht auf die Lektionen konzentrieren könne.

So hatte Harry einen ganzen Tag in der Gegenwart des Mannes verbracht, der ihm so viel bedeutete und den er gedacht hatte, nie mehr wieder zu sehen.

Eigentlich wäre dies ja Grund genug gewesen zu jubilieren, aber seine Freude wurde überschattet durch den Verrat Dumbledores und dem Wissen, dass er alles verdorben und das Leben eines Menschen, für etwas, wofür er unschuldig war, ausgelöscht hatte. Seine ganzen früheren guten Gründe, die er sich zurecht gelegt hatte und die die Sache einst als richtig und gerecht erschienen liessen hatten sich in Luft aufgelöst und es hatte lange gebraucht, bis er den Worten Dumbledores und Sirius' auch geglaubt hatte, dass es nicht wirklich seine Schuld war und dass Snapes Chancen die Mission zu überleben sowieso gleich null gewesen waren. Sobald Voldemort gemerkt hätte, dass seine Macht schwand, was irgendwann passiert wäre, hätte er sowieso mit ziemlicher Sicherheit des Zaubertränkemeisters Spiel durchschaut und ihn getötet. Snape sei sich dessen von Anfang an bewusst gewesen, aber er habe dennoch eingewilligt. Auch wäre das Gift zwar eine gute Gelegenheit gewesen, aber nicht die einzige, hatte man ihm gesagt.

Dennoch fragte sich Harry immer noch, ob sie dies selber auch wirklich glaubten oder ihn nur beruhigen wollten und immer wieder kamen ihm Dumbledores Worte in Erinnerung zurück, als er ihn gewarnt hatte, die Rache in die eigenen Hände zu nehmen, da die Grenze zwischen gut und böse sehr schmal war und Harry fragte sich nicht zum ersten Mal heute, ob er diese Grenze schon überschritten hatte. Und dieser Gedanke machte ihm mehr Angst als alles andere.

"Woran denkst du, Harry", holte ihn Lupins Stimme aus seinen Gedanken.

"Nichts", antwortete Harry etwas zerstreut und verwarf diese Zweifel für den Moment indem er sich auf etwas anderes konzentrierte. "Sag mal, Remus. Wie hat Snape überhaupt das Gift durch Askaban geschmuggelt, wenn ihr selbst für den kleinen Portschlüssel, aus Angst einer Entdeckung eine Wunde verursacht habt, um ihn zu verstecken? Wie konnte Snape eine Phiole mit Gift verstecken?"

"Gar nicht", antwortete Remus. "Er hatte das Gift nicht bei sich in Askaban. Er hat es sich später hier geholt."

'Natürlich', dachte Harry. Das machte Sinn. "Die Schrift an der Wand", sagte er laut.

Remus nickte. "Ja. Er hat Voldemort erzählt, dass er Rache an Dumbledore und ihn einschüchtern will. Der dunkle Lord mag solche Spielchen, wie du in deinem zweiten Jahr ja bemerkt hast. Snape hat ihm gesagt, dass er einen geheimen Gang kennt, den er benutzen könnte. Dumbledore hat das Gift zuvor hinter einem losen Stein versteckt und mit Severus abgemacht, dass er die Nachricht hinterlässt, wenn alles nach Plan läuft. Snapes wahre Natur ist nicht das Töten und als er ein Todesser war, hat er gegen seine Natur gehandelt. Nur ausser denen die eingeweiht waren, würde der Spruch für alle wie eine Warnung aussehen, während es in Wirklichkeit eine Bestätigung Snapes Loyalität Dumbledore gegenüber war."

"Aber warum hat dann Voldemort nicht einfach einen Angriff auf Hogwarts gestartet, wenn Snape doch einen Geheimgang kennt?"

"Weil der Gang, erstens zu schmal für eine Armee ist und Voldemort zweitens zuviel Respekt vor Dumbledore hat, um ihn hier anzugreifen. Pettigrew kennt ja auch einige geheime Eingänge, durch die Voldemort schon vor Monaten einen Angriff hätte starten können."

Sie liefen einen Moment schweigend nebeneinander, als Harry etwas anderes auffiel. "Aber warum hat Dumbledore eigentlich erzählt, dass du nach Sirius'... nachdem es so aussah, als sei er tot, einen Beruhigungstrank gebraucht hast, wenn du doch wusstest, dass er noch lebt?"

Remus lachte leise auf die Frage. "Er hat dich angelogen, um meine Abwesenheit zu erklären. Wenn Sirius wirklich ermordet worden wäre, wäre ich wahrscheinlich auch im Hospitalflügel gewesen."

"Und warum warst du dann nicht da?"

"Weil ich ein so mieser Schauspieler bin."

Mit der Begründung hätte Harry sicherlich nicht gerechnet. Perplex sah er den Werwolf an. Dieser lächelte verlegen. "Sirius und Severus waren für einmal beide der selben Meinung und überzeugt, dass ich die Sache vermasseln würde. Ich kann noch nicht einmal richtig lügen und dabei jemandem ins Gesicht sehen." Er zuckte entschuldigend mit den Schultern. "Das war schon während meiner Schulzeit so und hat sich nicht geändert. Wir haben beschlossen, dass es am Besten sein würde, wenn ich so wenig wie möglich dabei wäre, wenn es um die Täuschung ging."

Wenn Remus doch die Sache verraten hätte, dachte Harry bitter, dann wäre er jetzt nicht in dieser Situation. Aber er wusste, dass es nichts bringen würde, wenn er die Fragen nach dem ‚warum' noch einmal stellte. Weil man ihn wie ein kleines Kind behandelt hatte und ihm nicht die Wahrheit gesagt hatte, dort lag das ‚warum', dass das ganze Schlamassel ausgelöst hatte. Okay, Remus war vielleicht ein mieser Schauspieler, doch sie hätten etwas mehr Vertrauen in ihn haben können, dass er die Gerüchte selbst dann in Umlauf hätte bringen können, wenn er Bescheid gewusst hätte. Ganz bestimmt hätte er das geschafft, wenn sie ihm die Chance gegeben hätten, redete er sich selber ein, um die lautlose Stimme in seinem Hinterkopf zum Schweigen zu bringen, die ihm einredete, dass er dies nie so überzeugend geschafft hätte, wie wenn sein Hass auf Snape wirklich nicht gespielt war. Dieser Hass hatte sich so tief gefressen, dass er ihn selbst jetzt nicht losliess, jetzt, da der Mann tot war und dabei der Beweis von Harrys ungewollter Schuld, mit der er jetzt leben musste.

"Willst du, dass ich mit dir mitkomme, Harry?" fragte Remus, als sie vor dem Portrait der fetten Dame angekommen waren.

Harry schüttelte den Kopf. "Nein, danke fürs begleiten, Remus."

Ohne sich umzudrehen sagte er das Passwort und trat durch das Loch in der Wand, nur um einen Schritt weiter abrupt stehen zu bleiben.

Sämtliche Gryffindors waren im Aufenthaltsraum versammelt und johlten und sangen laute Parolen durcheinander, die kaum verständlich waren, aber einige Leintücher waren nebeneinander an die Wand geheftet worden, auf die mit grossen Buchstaben geschrieben stand:

Snape war ölig, Snape war gemein, nun schmort er in der Hölle, Oh wie ist das fein.

"Seit mal alle ruhig", rief ein strahlender Ron über die Menge. Das allgemeine Singen erstarb und alle Gesichter drehten sich erwartungsvoll auf den rothaarigen Jungen.

"Wie findet ihr den hier?" Er sprang posereißend auf einen Stuhl, warf sich gewichtig in die Brust und räusperte sich laut.
"Wir hatten mal nen Lehrer, der war ganz schön beschränkt,
legte sich mit Potter an, hat den Boden dafür rot getränkt.
Harry Potter ist unser Held,
Hat ne Schlange beseitigt, die niemandem fehlt."

Harry fühlte sich unangenehm berührt und als er den johlenden Beifall der anderen Gryffindor hörte, wurde ihm unerwartet elend. Es war wirklich wahr, was Ron sagte. Alle Schüler hier hassten Snape, obwohl dieser sein Leben für sie riskiert hatte. Sie hatten keine Ahnung, was wirklich passiert war und kannten nur Rons Version, die er ihnen augenscheinlich erzählt hatte und dass Harry für Snapes Tod verantwortlich war. Und dann wurde es Harry mit einem Mal wirklich bewusst, dass der Mann, den er seit dem ersten Moment gehasst hatte, trotz seiner armseligen zwischenmenschlichen Art nicht verdient hatte, dass er gehasst wurde. Genauso wie Sirius ungerechterweise in Askaban gewesen war, wurde Snape ungerechterweise verachtet. Natürlich war er ein unerträglicher, oft ungerechter Mensch, aber er war trotzdem bereit gewesen, mehr für die Seite des Lichts und ihre Verteidigung zu tun, als wohl jeder Schüler hier. Verdammt; mehr als wohl die meisten Menschen überhaupt. Egal wie sehr Harry ihn auch in der Schule verachtet hatte, hatte Snape es verdient, dass sein Andenken respektiert wurde. Harry bekämpfte die Übelkeit, die immer stärker wurde; er war indirekt Schuld an Snapes Tod, und auch wenn Dumbledore, Sirius und Remus ihm versicherten, dass er nicht allein verantwortlich war und es wohl auch ohne ihn so gekommen wäre. Und auch wenn sie ihm versicherten, dass für Snape sein Schicksal nicht unerwünscht war, dann machte ihn doch diese Haltung gegenüber seines Todes, diese Freude und Ausgelassenheit über den Todesfall eines Menschen, den alle gekannt hatten, fertig.

Erst jetzt schien ihn Ron bemerken und er grinste ihn offen an, bevor er vom Stuhl sprang und zu ihm eilte, ihm einen Arm um die Schultern legend. "Hey, mein Freund. Ich hoffe du verzeihst mir, dass ich dir vorgegriffen habe, und den anderen von Snapes Hinscheiden...", er machte eine schneidende Bewegung mit seiner flachen Hand über seinen Hals, während er grinste, "erzählt habe. Aber ich konnte die gute Nachricht nicht zurückhalten. Die anderen sollten erfahren, dass der fettige Bastard alles was er uns je angetan hat, zurückbekommen hat."

"Sei bloß ruhig, Ron", antwortete Harry wütend ob seines Freundes offensichtlichem Enthusiasmus. Ron hatte gar keine Ahnung, was er da von sich gab. Snape war ein gemeiner Bastard, aber er hatte ein solches Schicksal und all diesen Hass nicht verdient. Niemand hatte das, aber auch er hatte dies nicht bemerkt, bis es zu spät war.

"Was ist los, Harry?" fragte Ron perplex. Er hatte sichtlich erwartet, dass sein Freund anders reagieren würde, und das machte Harry noch wütender, denn vor noch nicht langer Zeit, die schon eine Ewigkeit her schien -- irgendwann, bevor er erkannt hatte, dass die Dinge nie so einfach waren wie sie aussahen und jedes Leben einzigartig war, hätte er mitgefeiert.

"Ihr macht mich alle krank!" schrie er schließlich in die Menge, die sofort verstummte und ihn verwirrt ansahen. "Ihr seit doch...Oh Gott." Harry fühlte die Tränen in seine Augen steigen. All die Personen hier waren krank, einfach nur krank und unmenschlich - genau wie er selber auch.

Er wand sich unter Rons Arm hervor, als sein Fluchtinstinkt anschlug. Er wollte nur weg hier, raus aus dem Raum mit all den anderen Schülern, die ihn an seine eigene Fehler erinnerten. So schnell er konnte, kämpfte er sich durch die Menge und eilte zu seinem Schlafsaal hinauf, kaum bemerkend, dass er weinte.

Er eilte die Treppe hoch und verschwand türkrachend im Schlafsaal, wo er sich wütend auf sein Bett warf und ein Kissen eng gegen sich presste in einem sinnlosen Versuch, das Gefühl der verzweifelnden Ohnmacht zu vertreiben. Er war nicht besser als seine Mitschüler. Wie hatte er nur jemals den Tod eines Menschen so offen in Betracht ziehen können? Wie hatte er dies jemals als richtig ansehen können?

Er hörte die Tür zum Schlafsaal aufgehen und jemanden hereinkommen. Er wollte allein sein, aber gleichzeitig brauchte er jemanden, dem er alles erzählen konnte. Jemand, der verstehen würde und dessen Verständnis sein Schuldgefühl schmälern konnte, wenn das überhaupt möglich war.

"Harry?" fragte Ron zögernd.

Harry ließ das Kissen los und setzte sich auf, mit seinem Ärmel die Tränen abwischend. Er sah zu seinem Freund, der ihn sehr besorgt und auch ein wenig verloren ansah. Harry wusste nicht, was er sagen sollte. Wo sollte er anfangen seinem Freund zu erzählen, dass sie einen schrecklichen Fehler begangen hatten? Am Schluss kam dann nur eine einfache Frage über seine Lippen. "Wo ist Hermine?"

"Sie ist im Mädchenschlafsaal. Sie wollte nicht wirklich mitfeiern. Du kennst sie ja. Selbst wenn es Snape gewesen ist, den wir reinlegten und er es verdient hat, ist sie nicht der Typ, der so etwas offen feiert."

Bei Rons Worten setzte sich der Brocken von Harrys Schuld nur noch tiefer in seiner Brust fest und er wurde wieder wütend, doch bevor er etwas erwidern konnte, stürmte eine atemlose Hermine in das Zimmer.

"Mine, was machst du hier? Das ist der Jungenschlafraum!" protestierte Ron.

Hermine ignorierte ihn und setzte sich zu Harry auf die Bettkante. "Patil ist zu mir gekommen und hat erzählt, dass etwas mit dir nicht zu stimmen scheint, Harry. Was ist denn los? Bist du verletzt? Ist etwas passiert als du mit Remus unterwegs warst?"

Hermines sorgenvolle Stimme schmerzte. Sehr sogar und Harry fühlte wieder, wie die Tränen über sein Gesicht strömten. "Ich war nicht mit Remus unterwegs."

Ron setzte sich nun auf sein eigenes Bett, das neben Harrys stand, seinem Freund zugewandt. "Aber man hat uns gesagt, dass du etwas mit ihm erledigen sollst und deshalb nicht zum Unterricht erschienen bist." Seine Augen verengten sich misstrauisch und besorgt. "Harry, wo warst du den ganzen Tag?"

Harry hörte nur mit einem Ohr hin. Seine Gedanken hielten nicht still. Snape war tot und alle hassten ihn, und all dies war seine Schuld. Er hatte ihm nicht nur das Leben genommen, sondern ihn voll und ganz zerstört, wo Snape sie doch retten wollte. "Oh Gott, wir haben einen schrecklichen Fehler begangen. Sirius hat nicht recht gehabt. Es IST meine Schuld. Alle hassen Snape, und auch dafür bin ich verantwortlich. Ich habe ihn vollkommen zerstört. Ich allein."

"Was soll das Harry? Was redest du da?"

Harry war sich nicht wirklich bewusst gewesen, dass er laut gesprochen hatte, aber er brachte nicht die Kraft auf, Ron zu antworten und starrte bloß auf die rote Überdecke seines Bettes.

"Harry antworte uns", sagte Hermine nun in einem drängenden Tonfall. "Du machst uns langsam Angst. Was ist passiert? Wo warst du?"

Harry sah seine Freunde gequält an. "Ich war bei Dumbledore. Er hat gesagt, dass ich den Tag mit Sirius verbringen soll und hat deshalb meine Stunden abgesagt."

Die beiden wechselten einen besorgten Blick, bevor sie sich wieder Harry zuwandten. "Harry? Ich glaube du solltest am besten zu Madame Pomfrey gehen. Du bist krank", sagte Ron vorsichtig.

Harry wurde wieder wütend. Warum verstanden sie nicht? Er schmiss das Kissen, das er noch vor kurzem gegen sich gedrückt hatte, gegen die Wand hinter seinem Bett.

"Verdammt noch mal, versteht ihr denn nicht? Es war alles geplant. Von Anfang an haben sie mit uns gespielt und ich habe dafür ein Leben zerstört."

Hermines und Rons Gesichter zeigten deutlich, dass sie noch immer nicht verstanden.

"Was war geplant?" fragte Hermine.

"Alles. Der Streit, der Mord, Askaban und die Flucht zu Voldemort... Alles eben." Die beiden schienen noch immer nicht zu verstehen, oder aber zumindest nicht glauben zu wollen, was Harry sagte. "Sirius ist nicht tot. Es war alles eine Lüge!" rief er schließlich.

Rons Augen weiteten sich unmöglich groß, dass rund um die Pupillen weiß zu sehen war und Hermine schlug sich die Hände bestürzt vor den Mund, als wolle sie einen Schrei zurückhalten, der ihr sonst entwichen wäre.

"Aber wie... warum?" fragte Ron schließlich und Harry erzählte ihnen von dem Plan Voldemorts und dem Gift, das Snape herstellen und dem dunklen Zauberer verabreichen sollte. Von dem ganzen verzwickten, aber verdammt gut durchdachten Plan, der vielleicht sogar funktioniert hätte, wenn sie nicht den Fehler begangen hätten, den verhängnisvollen Brief zu schreiben.

"Ich hätte nie gedacht", flüsterte Ron nach einer Weile betroffenen Schweigens, "dass ich mich jemals schuldig fühlen könnte wegen Snape."


 

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