Jenseits von Hogwarts

 

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Kapitel 6

Unerwartetes Wiedersehen


Harry saß trübsinnig im Wohnzimmer des Hauptquartiers und starrte in die Flammen. Seit Sirius' Tod wirkte das Haus der Familie Black noch düsterer und ungastlicher. Den ganzen Tag über hatte ein ständiges Kommen und Gehen geherrscht. Hermine, Ron und Harry hatten im ‚Einsatz' für den Orden mal wieder mit Mrs Weasley und Fleur putzen und aufräumen dürfen. Irgendwie hatte er sich den ‚Kampf für das Licht' anders vorgestellt! Aber es waren zahlreiche Zimmer herzurichten gewesen, da im Moment sehr viele Personen am Grimmauldplatz untergebracht waren. Die mussten natürlich auch bekocht und sonstwie versorgt werden...
Wenn Harry daran dachte, dass er jetzt ein Mitglied des Phönixordens war, fühlte er sich nicht ganz wohl in seiner Haut. Eigentlich hatte er vorgehabt, den Kampf gegen Voldemort auf eigene Faust zu führen. Doch er war von dem Angebot, dem Orden beizutreten, ziemlich überrumpelt worden und hatte auf Drängen Hermines und Rons schließlich eingewilligt. Besondere Bauchschmerzen verursachte ihm der Satz aus der Initiationszeremonie ‚Die Mitglieder sind dem Ordensoberhaupt zu absolutem Gehorsam verpflichtet.' Hätte er das vorher gewußt, wäre es ein ernsthafter Grund gewesen, nicht einzutreten. Harry hielt nichts von fraglosem Gehorsam. Er war sich bewusst, dass er jetzt eigentlich verpflichtet wäre, McGonagall über die Horcruxe zu informieren. Doch in jedem Fall galt ihm die Loyalität gegenüber Dumbledore mehr als die Verpflichtung gegenüber dem Orden - auch wenn er seinen ehemaligen Mentor zunehmend kritischer sah. Und Dumbledore hatte ausdrücklich betont, er solle niemandem außer Ron und Hermine von den Horcruxen erzählen. Harry hatte den Beiden das etwas widerwillige Versprechen abgerungen, dass sie ebenfalls den Mund halten würden. Er war sich nicht sicher, warum er die Sache mit den Horcruxen vor dem Orden verheimlichte, wo er doch kaum hoffen konnte, alleine oder nur mit Hilfe seiner beiden Freunde mit Voldemorts Seelenteilen fertig zu werden, aber sein Instinkt sagte ihm, dass er das Richtige tat. Und er hatte beschlossen, sich auf seinen Instinkt zu verlassen, jetzt, wo er Dumbledore nicht mehr hatte.
Harry streckte sich und warf einen Blick auf die alte Standuhr. Jetzt war es schon nach ein Uhr nachts und die anderen waren längst zu Bett gegangen, bis auf Mr und Mrs Weasley, Lupin und Tonks, die noch in der Küche zusammensaßen und sich unterhielten. Er hatte weder Lust, sich ihnen anzuschließen, noch würde er schlafen können. Die Ereignisse der letzten Woche verfolgten ihn bis in seine Träume. Dumbledores Tod hatte ihm auch den Verlust von Sirius wieder schmerzlich bewusst gemacht. Immer wieder sah Harry in seinen Träumen Sirius' entsetztes und überraschtes Gesicht vor sich, beobachtete hilflos, wie sein Pate durch den Vorhang fiel und verschwand. Oder er sah Dumbledore auf dem Astronomieturm, vor Schwäche an der Wand zusammengesunken, und hörte, wie er Snape mit zitternder Stimme um sein Leben anflehte...
Snape.
Harry konnte nicht verhindern, dass sich Wut und Hass wie eine eiskalte Faust in seinem Magen zusammenballten.
Snape.
Der Mörder Dumbledores, mitschuldig an der Ermordung von Harrys Eltern. Auch an Sirius' Tod hatte er einen erheblichen Anteil gehabt. Harry konnte nicht anders, als ihn aus tiefstem Herzen zu hassen. Und wieder schwor er sich, Snape zu töten, wenn er die Gelegenheit dazu bekam. Aber vorher wollte er ihn leiden lassen...
Ein leises Klopfen ließ ihn hochschrecken.
"Ja?"
Doch die Tür blieb geschlossen. Es klopfte erneut und diesmal hörte er, dass es vom Fenster kam. Harry fuhr herum und sah eine große dunkle Eule auf dem Sims hocken. Als er das Fenster öffnete, kam sie nicht herein, sondern streckte ihm nur brüsk das Bein mit dem Pergament entgegen. Sobald er es gelöst hatte, breitete sie ihre Flügel aus und war lautlos in der Nacht verschwunden. Misstrauisch betrachtete Harry den Brief. Die Eule war ihm irgendwie unheimlich vorgekommen. Doch das Schreiben war eindeutig an ihn gerichtet und es stand sogar die Adresse des Hauptquartiers darauf. Die konnte nur ein Ordensmitglied kennen. Vielleicht kam der Brief von Hagrid? Schließlich pflegte der Freundschaft mit vielen verdächtigen Kreaturen. Harry erbrach das Siegel und begann zu lesen.


Harry Potter,

Sie werden wahrscheinlich mehr als überrascht sein, einen Brief von mir zu erhalten. Auch wenn mir klar ist, dass Sie mir nicht vertrauen können, muss ich Sie bitten, niemandem von meinem Schreiben zu erzählen. Es würde uns beide in höchste Gefahr bringen.
Ich bitte Sie, mich heute nacht um 2:00 Uhr im Londoner Hyde Park, Speakers Corner, zu treffen. Dort werden Sie die Antwort auf all Ihre Fragen erhalten. Kommen Sie allein und stellen Sie sicher, dass niemand Ihnen folgt.
Ich gebe Ihnen mein Wort darauf, dass Ihnen nichts geschehen wird.

Severus Snape.



Betäubt ließ Harry das Schreiben sinken.
Snape schickte ihm einen Brief? Er forderte ihn allen Ernstes auf, sich ohne Begleitung nachts mit ihm in einem finsteren Stadtpark zu treffen? Snape musste verrückt geworden sein. Er konnte doch nicht wirklich erwarten, dass Harry dermaßen dumm war, in eine so offensichtliche Falle zu rennen.
Aber was, wenn es gar keine Falle war? Wenn Snape ihm wirklich etwas Entscheidendes zu sagen hatte? Vielleicht hatte Hermine ja doch Recht und er war immer noch auf ihrer Seite?
‚Unwahrscheinlich. Sehr unwahrscheinlich,' dachte Harry grimmig. Aber wie sollte er die Wahrheit herausfinden, wenn er sich nicht mit Snape traf? Und außerdem: Hatte er nicht eben noch nach einer Gelegenheit zur Rache gegiert? Hier war sie, auf dem Silbertablett präsentiert. Entschlossen sprang er vom Sofa auf und stopfte den Brief in die Tasche. Er hatte sich entschieden: Er würde um zwei im Hyde Park sein.
Leise schlich Harry zur Treppe und bemühte sich, den am schlimmsten knarrenden Stufen auszuweichen. An der Garderobe griff er sich seinen Muggelmantel und schlüpfte hinein. Er tastete nach seiner Hosentasche: Ja, der Tarnumhang, dünn wie Seide und winzig klein zusammengefaltet, war noch da. Kurz überlegte er, ob er nicht doch wenigstens Ron und Hermine einweihen sollte. Aber das hätte nur zu endlosen Diskussionen geführt. Sie wären nie bereit gewesen, ihn alleine gehen zu lassen. Und wenn sie mitkamen, würde Snape sich sicher nicht zeigen, oder, noch schlimmer, Harry würde seine Freunde unnötig in Gefahr bringen.
Die Haustür quietschte unangenehm laut, als er sie vorsichtig öffnete. Harry erstarrte und lauschte zur Küche hinüber. Aber niemand kam. Er hörte die gedämpften Stimmen von Lupin und Tonks, dann das herzhafte Lachen von Mr Weasley. Leise schloss er die Tür hinter sich und glitt hinaus in die Nacht.

***


Mit einem lauten ‚Krach!' apparierte Harry am Rand des Hyde Parks. Hastig zerrte er den Tarnumhang aus der Tasche und zog ihn über. Im Dunkeln wirkte der Park irgendwie bedrohlich. Mit klopfendem Herzen machte Harry sich auf den Weg in Richtung Speakers Corner. Er hatte ein flaues Gefühl in der Magengegend und blickte sich immer wieder nervös nach allen Seiten um. Vielleicht war es doch ein Fehler gewesen, hierher zu kommen.
‚Ach, was', schalt er sich. ‚Ich habe ja den Tarnumhang. Im schlimmsten Fall bleibe ich einfach unsichtbar und disappariere schnell zurück zum Grimmauldplatz.'
Als er Speakers Corner erreichte, sah er sofort die dunkle Gestalt im Schatten eines Gebüsches stehen. Unbeweglich und lauernd schien sie auf etwas zu warten. Auf ihn zu warten. Er wandte sich um, um zu sehen, ob noch andere Personen in der Nähe versteckt waren, konnte jedoch niemanden entdecken. Langsam und extrem vorsichtig näherte er sich der dunklen Gestalt.
Snape, kein Zweifel. Es war das erste Mal, dass Harry den Lehrer in Muggelkleidung sah. Er trug einen langen schwarzen Mantel, darunter Jeans und Hemd in der gleichen Farbe. ‚Wie kreativ!', dachte Harry mit einem flüchtigen Grinsen. Im nächsten Moment zerbrach knackend ein Zweig unter seinen Füßen.
Snape zuckte zusammen. "Wer ist da? Potter, sind Sie das?", zischte er leise.
Harry zögerte kurz. "Ja", antwortete er dann grimmig.
"Versteckt unter Ihrem Tarnumhang? Wie mutig von Ihnen, Potter. Ganz der Vater." Snapes Stimme triefte vor Sarkasmus und Harrys Faust ballte sich unwillkürlich um seinen Zauberstab. ‚Ich könnte ihn töten', dachte er zornig. ‚Jederzeit! Und wenn er mich weiter provoziert, dann werde ich es auch tun!' Laut sagte er: "Was wollen Sie von mir, Snape? Wollten Sie mich nur treffen, um mich wieder mal zu beleidigen? Ein bisschen armselig, finden Sie nicht? Und wenn Sie schon von Mut sprechen, meinen Sie, es gehört sehr viel Mut dazu, einen unbewaffneten und kranken alten Mann mit einem Fluch zu ermorden? Eine feine Art, Dumbledore all die Unterstützung zurückzuzahlen, die er Ihnen über Jahre gewährt hat! Ohne ihn säßen Sie seit fünfzehn Jahren in Askaban! Wahrscheinlich wären Sie längst tot oder zumindest verrückt geworden unter dem Einfluss der Dementoren! Obwohl, viele gute Gefühle hätten die ja nicht aus Ihnen raussaugen können, wo es doch Ihre einzige Freude ist, andere Menschen zu erniedrigen und zu quälen und -"
"Stupor!" Der Fluch traf Harry komplett unvorbereitet. Sein Körper war von einer Sekunde auf die andere völlig gelähmt und er fiel um wie ein Brett.
Harry hörte rasche Schritte. Mit einem spöttischen Grinsen beugte Snape sich über ihn. "Nun, Potter, ich bin beeindruckt." Er tastete nach Harrys Körper, erwischte sein rechtes Bein und zog ihm mit einem Ruck den Tarnumhang herunter. "Beeindruckt von Ihrer Dummheit , Potter. Haben Sie wirklich nicht daran gedacht, dass ich Ihren Standpunkt anhand Ihrer Stimme feststellen würde? Vor allem, wenn Sie so schreien? Nein, offensichtlich nicht." Snape nahm Harrys Zauberstab an sich, steckte ihn in seinen Umhang und hob erneut seinen eigenen Zauberstab.
Harry, unfähig sich zu rühren oder auch nur einen Laut von sich zu geben, starrte gebannt auf Snapes blasses Gesicht. Todesangst stieg in ihm auf und ließ sein Herz zu Eis gefrieren. Snape hatte recht: Wie hatte er nur so dumm sein können! Wieder einmal war er von seiner Wut überwältigt worden - und diesmal war es sein letzter Fehler gewesen. Snape würde ihn töten. Er konnte nur hoffen, dass es schnell gehen und nicht allzu schmerzhaft sein würde. Krampfhaft versuchte er, sich die Gesichter und die Stimmen seiner Eltern in Erinnerung zu rufen - und Sirius, Professor Dumbledore... Er würde sie gleich wiedersehen...
"Enervate!"
Ein heftiges Kribbeln fuhr Harry durch alle Glieder - die Lähmung war von ihm genommen. Verblüfft richtete er sich auf und starrte Snape ungläubig an.
"Was haben Sie erwartet, Potter? Den Avada-Kedavra-Fluch?" Das spöttische Grinsen verschwand von Snapes Gesicht, als er in Harrys Augen las, dass der genau damit gerechnet hatte. Brüsk streckte er seinem ehemaligen Schüler die Hand entgegen und zog ihn auf die Füße. "Ich habe nicht vor, Sie zu töten, Potter. Aber ich habe auch nicht vor, mich von Ihnen beleidigen zu lassen, für Dinge, von denen Sie nichts verstehen. - Und Sie sollten froh sein, dass Sie davon nichts verstehen", setzte er düster hinzu. Dann packte er Harry, der immer noch etwas wacklig auf den Beinen war, an einem Arm und führte ihn energisch zu einer Parkbank hinüber. Harry ließ sich erleichtert fallen und Snape setzte sich neben ihn.
Nach kurzem Schweigen fing Snape langsam und zögernd zu sprechen an. "Sie haben mich immer gehasst, Potter, seit der ersten Unterrichtsstunde bei mir... Und ich muss zugeben, dass diese ausgesprochene Abneigung auf Gegenseitigkeit beruhte. Vielleicht habe ich es Ihnen auch sehr einfach gemacht, mich zu hassen - ich muss gestehen, dass ich Ihnen gegenüber als Lehrer nicht immer ganz fair war."
Harry sah ihn ungläubig an. Hatte er da gerade richtig gehört?
"Wie Sie wissen, beruhte meine Abneigung Ihnen gegenüber vor allem auf meiner Feindschaft mit Ihrem Vater, und dass diese Feindschaft meinerseits wohl begründet war, haben Sie selbst gesehen, als Sie unerlaubt in meine Erinnerungen eingedrungen sind. Sie wissen, dass Ihr Pate Black mich fast getötet hätte mit einem ausgesprochen dummen Schülerstreich und Ihr Vater hat mir das Leben gerettet - nun ja, ich denke, es hätte auch sein Leben zerstört, wenn Lupin in seiner Werwolfsgestalt mich damals zu fassen bekommen hätte... Sie haben mich immer verdammt an James Potter erinnert und ich fürchte, dass ist ein wunder Punkt in meiner Vergangenheit, bei dem ich mich nicht ganz unter Kontrolle habe."
Harry blinzelte benommen. Er konnte kaum glauben, was er da hörte. Snape gab Fehler zu? Und das ihm gegenüber?
"Nach der Schule habe ich mich aus ... verschiedenen Gründen dem Dunklen Lord und den Todessern angeschlossen und ihm viele Jahre gedient. Doch noch vor seinem Fall habe ich das aufrichtig bereut und bin zu Dumbledore übergelaufen - und auf seiner Seite geblieben. Vor allem deshalb, weil..." Snape stockte und starrte in die Nacht hinaus. Dann fuhr er leiser fort: "Nun, ich denke, Dumbledore wird es Ihnen ohnehin erzählt haben, also: Ich habe... zufällig mit angehört, wie Trewlaney Dumbledore gegenüber die Prophezeiung über den Dunklen Lord und den Jungen, der ihn besiegen könnte, gemacht hat - und ich habe den Dunklen Lord darüber unterrichtet. Das heißt, dass ich eine erhebliche Mitschuld am Tod Ihrer Eltern trage, Potter, und... ach, verdammt, ich war nun mal Ihrem Vater irgendwie verpflichtet... Wenn ein Zauberer einem anderen Zauberer das Leben rettet, dann entsteht dadurch ein magisches Band, das die beiden ihr Leben lang miteinander verknüpft - ob sie es wollen oder nicht. So sehr ich Ihren Vater auch gehasst habe - und er hat mich genauso gehasst, das kann ich ihnen versichern -, war ich daher ziemlich... schockiert, als ich erfuhr, dass er und Lily getötet wurden. Was Ihre Mutter betrifft... In gewisser Weise mochte ich Lily Evans... Wenn sie nur nicht ausgerechnet Ihren Vater geheiratet hätte..."
"Sie haben sie ‚Schlammblut' genannt!", warf Harry erregt ein.
Snape verzog unangenehm berührt das Gesicht. "Ich war wütend . Was Sie da im Denkarium gesehen haben, war eines der demütigendsten Erlebnisse, die ich je hatte!" Er sah Harry gerade in die Augen. "Wie hätten Sie sich wohl an meiner Stelle gefühlt, Potter?"
Harry schluckte mühsam. Er wusste genau, wie Snape sich gefühlt hatte, dass Erste, was ihm zu dieser Erinnerung seines Lehrers eingefallen war, war seine eigene Qual und Erniedrigung im Kreis einer Horde höhnischer Todesser gewesen.
Ob Snape Legilimentik betrieben und Harrys Erinnerung ebenfalls wahrgenommen oder nur von seinem Gesichtsausdruck geschlossen hatte, dass Harry dieses Gefühl der Demütigung sehr wohl kannte, er wandte den Blick ab und nickte befriedigt. "Sehen Sie. Ihre Mutter wollte mir vielleicht helfen, aber ich kann Mitleid nunmal nur schwer ertragen." Er stockte einen Moment, als ob er zuviel gesagt hätte. "Nun, zurück zum Tod ihrer Eltern. Mir war plötzlich klar geworden, dass ich den falschen Weg gewählt hatte. Der Dunkle Lord war besiegt, fürs Erste zumindest. Ich wendete mich an Albus Dumbledore, er verbürgte sich vor Gericht für mich und besorgte mir sogar eine Stelle als Lehrer in Hogwarts. Dennoch stand ich in all den Jahren unter konstanter Beobachtung durch das Zaubereiministerium und seine Auroren. Auch das Lehrerkollegium hat stets ein... mehr als wachsames Auge auf mich geworfen. Und zwar bis zuletzt. - Nach Jahren nahm Dumbledore mich schließlich in den Phönixorden auf. Er glaubte nicht an die endgültige Vernichtung des Dunklen Lords, ebenso wenig wie ich selbst. Und als der Dunkle Lord vor zwei Jahren seine körperliche Wiederauferstehung initiierte, kehrte ich zu ihm zurück, um für Dumbledore gegen die Todesser zu spionieren. Und bis heute bin ich auf Dumbledores Seite geblieben."
"Aber Sie haben ihn getötet !", rief Harry empört.
"Ja, das habe ich."
Harry wurde es plötzlich eiskalt.
"Aber du musst eines verstehen, Harry", Snape blickte ihm wieder direkt in die Augen und zwang ihn förmlich, den Blick zu erwidern, "jedes Ordensmitglied hat sich bereit erklärt, sein Leben für die Sache einzusetzen. Und das galt ganz besonders für zwei Personen: für Albus Dumbledore - und für mich. Wir waren beide in besonderem Maße dazu bereit, unser Leben zu riskieren, und mehr als nur unser Leben: auch das Leben anderer, wenn es sein musste. Ich habe nach der Rückkehr des Dunklen Lords für ihn getötet und gefoltert - und das nicht nur einmal. Du kannst mir glauben, wenn ich dir sage, dass die letzten zwei Jahre mit Abstand die schlimmsten meines Lebens waren. Ich habe mir oft gewünscht, dein Vater hätte mich damals nicht gerettet", setzte er kaum hörbar hinzu. "Aber ich habe getan, was Albus von mir verlangte, in der Hoffnung, dadurch einen Weg zur endgültigen Vernichtung des Dunklen Lords zu ebnen. Und als es letzte Woche zu dieser unseligen Konfrontation auf dem Astronomieturm kam, da hatte ich keine Wahl. Ich durfte meine Tarnung unter keinen Umständen gefährden, nach all den Opfern, die es gekostet hatte, sie aufzubauen. Ich konnte Albus nicht retten. Letztlich hat mein... Mord an Dumbledore den Dunklen Lord endgültig davon überzeugt, dass ich auf seiner, auf der Dunklen Seite bin."
"Nicht nur den Dunklen Lord", sagte Harry leise. "Es hat ausnahmslos alle überzeugt." Er stockte. "Außer, vielleicht, Hermine."
"Hermine Granger?" Snape sah ihn überrascht an.
Harry nickte. "Sie ist ziemlich fair, wissen...", er zögerte kurz, und es fiel ihm sichtlich schwer, die folgenden zwei Worte hervor zu würgen, "...weißt du." Er hatte gerade Snape geduzt. Au weia! Aber da sein ehemaliger Lehrer damit angefangen hatte... Entweder duzten sie sich gegenseitig oder gar nicht.
Ein kleines Lächeln stahl sich auf Snapes Lippen und seine Augen funkelten amüsiert. "Severus, angenehm", bemerkte er spöttisch und streckte Harry die Hand hin, der so verblüfft war, dass er sie reflexartig ergriff und schüttelte. Dann wurde Snape wieder ernst. Das Lächeln verschwand aus seinem Gesicht und machte einer tiefen Resignation Platz. "Mir war schon klar, was sie denken würden. Und - so muss es auch sein. Alle müssen davon überzeugt sein, dass ich für den Dunklen Lord arbeite. Ich selbst eingeschlossen, denn er ist ein verdammt guter Legilementiker."
"Aber warum haben Sie" - Snape hob eine Augenbraue - "Warum hast du mich dann eingeweiht?"
"Weil ich deine Hilfe brauche, Harry. Und du die meine. Ich kann nicht offen gegen den Dunklen Lord agieren, aber ich kann dir Tipps geben, die dir helfen können, ihn zu vernichten. Und du kannst mir helfen, in dem du dich damit beeilst", setzte er düster hinzu. "Ich weiß nicht, wie lange ich noch die Kraft habe, dieses Leben zu führen. Es könnte ihm gelingen, mich wieder auf seine Seite zu ziehen, wenn ich keine Unterstützung mehr von euch habe." Snape sah auf einmal furchtbar müde aus. Er tat Harry fast leid. Aber dann flammten wieder Zweifel in ihm auf. Und wenn das alles nun doch eine geschickt konstruierte Falle war? Dumbledore hatte auf ihn eigentlich nicht den Eindruck gemacht, als ob er bereit gewesen wäre, zu sterben...
"Aber Dumbledore... Er hat dich angefleht , ihn nicht zu töten!"
"Woher weißt du das?", fragte Snape überrascht.
"Ich war dabei! Unter dem Tarnumhang. Dumbledore hat mich mit einem Lähmzauber belegt, so dass ich nicht eingreifen konnte."
Snape sah ihn traurig an. "Das sieht ihm ähnlich."
"Er hat dich angefleht!"
"Ich weiß", sagte Snape leise.
"War das auch abgesprochen?"
Sein Ex-Lehrer schüttelte stumm den Kopf und vergrub das Gesicht in den Händen. "Er war so schwach... Ich weiß nicht, was er vorher mit dir erlebt hatte, denn so schwach habe ich ihn noch nie gesehen. Und er hatte Angst... Ich glaube, in diesen letzten Minuten seines Lebens hatte er das erste Mal Angst vor dem Tod." Snape hob den Kopf und sah Harry fast verzweifelt an.
Eine Weile schwiegen sie beide. Dann sagte Harry: "Und Draco? Ich habe ihn das ganze Jahr über ausspioniert, mir war klar, dass er irgendwas Übles plante, aber Dumbledore wollte nichts davon hören. Ich habe dich und Malfoy belauscht, du hast ihm Hilfe angeboten, damit er Dumbledore ermorden könnte! Du hast einen Unauflösbaren Eid geschworen..."
Snape schüttelte abwehrend den Kopf. Ein ärgerlicher Unterton war in seine Stimme getreten. "Du steckst deine Nase auch wirklich überall rein, Potter. - Wenn du es unbedingt wissen musst: Dumbledore hatte mich gebeten, ein Auge auf Draco zu haben. Er wusste genau, womit der Dunkle Lord ihn beauftragt hatte - denn ich selbst habe es Albus mitgeteilt. Er wollte, dass ich die Sache in die Hand nehme, um Schaden von Schülern und Lehrern fernzuhalten - du wirst dich sicher noch an Katie Bell erinnern. Sie hatte großes Glück, dass sie nach dem Kontakt mit dem verfluchten Schmuck nicht gestorben ist. Es wäre meine Aufgabe gewesen, solche stümperhaften Anschläge zu verhindern - wenn Mr Malfoy bereit gewesen wäre, mich ins Vertrauen zu ziehen. Natürlich hätte ich Albus so auch vor allen kommenden Mordversuchen Dracos warnen und gemeinsam hätten wir den Jungen und seine Eltern vorm Dunklen Lord schützen können." Snape sah Harry eindringlich an. Diesmal sah er wirklich verzweifelt aus. "Albus war der wichtigste Mensch in meinem Leben. Der einzige, der mir so etwas wie... Freundschaft entgegen gebracht hat. Und ich musste ihn töten... gegen seinen und gegen meinen Willen."
Wieder herrschte Schweigen. Schließlich sagte Harry leise: "Ich glaube dir."
Erleichterung huschte über Snapes Züge. Für einen Sekundenbruchteil glaubte Harry, noch etwas anderes zu sehen, Triumph vielleicht oder Freude, aber das konnte auch an den unruhigen Schatten liegen, die das bleiche Mondlicht auf Snapes Gesicht malte.
Harry zögerte kurz, unsicher, ob er es tatsächlich wagen sollte, doch dann hob er stockend an: "Es gibt da etwas... Etwas, was ich unbedingt wissen muss, um Voldemort besiegen zu können. Weißt du... Hast du zufällig schon mal was von Horcruxen gehört?" Überrascht nickte Snape, doch Harry fuhr fort: "Von Horcruxen... im Zusammenhang mit Voldemort." Snape starrte ihn gebannt an.
"Dumbledore... Er glaubt... Er hat geglaubt, dass Riddle Horcruxe geschaffen hat. Sechs, um genau zu sein."
"Sechs?!"
Es war das erste Mal, dass Harry Snape wirklich schockiert sah.
"Wie?", fragte Snape gepresst.
Harry begann zu erzählen. Zuletzt löste er das Medaillon, das er nach wie vor immer bei sich trug, von der Kette um seinen Hals und reichte es Snape. Der öffnete es vorsichtig und las mit angespanntem Gesicht die darin verschlossene Botschaft.
"Das da unten", Harry zeigte auf die letzte Zeile des Pergamentes, "müssen die Initialen von dem sein, der den wahren Horcrux an sich genommen und, hoffentlich, zerstört hat. R.A.B. - sagt dir das irgendwas?", fragte Harry erwartungsvoll.
Doch Snapes Gesicht war wieder zur undurchdringlichen Maske erstarrt, als er wortlos den Kopf schüttelte und ihm das Medaillon zurückgab.




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