Kapitel 17
Der unauflösbare Eid
Der Sturm tobte durch den Wald und bog die jungen Bäume bis auf den Boden nieder. Krachend stürzte ein großer Ast herab und verfehlte die schwarze Gestalt nur um wenige Zentimeter. Severus fluchte leise und stemmte sich gegen die nächste Windböe. Seine Stiefel sanken knöcheltief in den matschigen Waldboden ein und sein Umhang und seine Roben waren mittlerweile so vollgesogen, dass ihm die Nässe bis auf die Haut drang.
‚Wenigstens ist es nicht kalt...'
Er kämpfte sich um die nächste Wegbiegung und sah erleichtert ein schwaches Licht jenseits des Regenschleiers glühen.
‚Da ist es endlich.'
Keuchend arbeitete er sich die letzten Meter durch peitschendes, dorniges Brombeergestrüpp, dann stand er vor der niedrigen Tür einer kleinen, unscheinbaren Holzhütte. Severus hob die Hand und klopfte energisch. Zweimal kurz... dreimal lang... zweimal kurz. Er wartete. Dann hörte er Schritte, die Tür wurde einen Spalt breit geöffnet und ein dünner Streifen blassen Lichts fiel auf sein regennasses Gesicht. Durch den Türspalt sah er den schmalen Ausschnitt eines anderen Gesichts, bleich, angespannt... Eine Strähne weißblonden Haars fiel über das eine sichtbare graublaue Auge, das ihn fragend und misstrauisch ansah. Dann blitzte Erkennen im Gesicht der Frau auf.
"Severus! Endlich!" Sie riss die Tür auf.
"Narcissa."
Rasch trat er in die Hütte. Narcissa Malfoy schloss eilig die Tür hinter ihm, sperrte Regen, Sturm und Dunkelheit aus. Severus hängte seinen tropfnassen Umhang über einen alten, wackligen Stuhl, zog seinen Zauberstab und trocknete sich und seine Kleidung mit einem stummen Befehl. Er ließ seinen Blick über die einfache, fast schäbige Ausstattung des kleinen Raumes schweifen, ein Feldbett, ein kleiner Tisch, vier verschiedene Stühle, ein paar Koffer, ein alter Campingkocher, ein grob gezimmerter Schrank, ein verschlissener Fleckerlteppich... Sie hatten die alte Jagdhütte aus Sicherheitsgründen nicht mit Hilfe von Magie einrichten oder gar vergrößern können, das hätte nur die Auroren angezogen. Severus wandte sich mit ernstem Gesichtsausdruck zu Narcissa um, die immer noch besorgt und nervös vor der Tür stand.
"Setz dich lieber, Narcissa. Ich habe leider keine guten Nachrichten für dich."
Sie wurde noch blasser und ließ sich nervös auf einen Stuhl sinken. Severus ging zum Schrank hinüber, öffnete ihn und nahm eine große Flasche und zwei Gläser heraus. Er stellte die Gläser stumm auf den Tisch und füllte sie bis zum Rand mit Cognac.
"Trink!", sagte er bittend.
Sie sah ihn nervös an. "Wie schlimm kann es denn sein, dass ich mich schon betrinken soll, ehe du mir überhaupt gesagt hast, was passiert ist?"
Severus ließ sich auf einen der wackligen Stühle fallen, der ein verdächtiges Knirschen hören ließ. Er griff nach seinem Glas und nahm einen großen Schluck Cognac.
"Lucius ist tot", sagte er bitter.
Narcissa streckte die Hand nach ihrem Glas aus. Die Hand zitterte. Sie packte das Glas und trank es zur Hälfte leer, ehe sie es wieder auf den Tisch stellte.
"Ich hab's geahnt", sagte sie leise. "Wer...?"
"Eine Phönixkämpferin. Eine Vampirin, um genau zu sein."
Narcissa schauderte.
"Wie... War es... Ging es..." Sie verstummte hilflos.
Severus schüttelte müde den Kopf.
"Er wollte sich selbst töten - hat sich die Pulsadern aufgeschnitten. Dann kam dieser Vampir... Sie war nicht besonders nett zu ihm, aber es war... erträglich. Kein schlimmer Tod, nein." Was nach dem physischen Tod mit Lucius geschehen war, verschwieg er ihr wohlweislich. Es war so schon schlimm genug.
Narcissa legte eine Hand über die Augen und fuhr sich mit der anderen nervös durch die langen Haare. "Was ist mit Draco?", fragte sie schließlich. Ihre Stimme klang erstaunlich fest und als sie die Hände sinken ließ und ihn ansah, konnte er keine Tränen in ihren Augen entdecken.
"Er ist in Sicherheit. Potter ist bei ihm."
"Potter? Harry Potter?!"
Severus unterdrückte ein Lächeln. Sie betonte den Namen genauso, wie Harry ‚Lucius? Lucius Malfoy?' betont hatte.
"Genau der." Jetzt lächelte er doch, dünn, grimmig. "Draco hatte ein paar ziemlich raue Stunden in der Obhut einiger Phönixkrieger. Zufällig ist Potter genau in das Verhör hineingelaufen und..."
"Woher weißt du das?", fragte Narcissa erregt. "Hast du mit Draco gesprochen?"
"Ich habe ihn das letzte Mal gesehen, als er sich von Lucius verabschiedet und euren Landsitz verlassen hat. Ich habe keine Ahnung, wie sie Draco schließlich erwischt haben. Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass er jetzt aus dem gröbsten Ärger raus ist. Er wird wahrscheinlich straffrei ausgehen und die gute alte Minerva McGonagall hat ihm sogar angeboten, ihn wieder in Hogwarts aufzunehmen. Sie haben ihn ins Hauptquartier des Phönixordens gebracht. Ein Heiler kümmert sich um ihn."
"Woher weißt du das alles?"
Severus lächelte schwach. "Man könnte sagen, dass ich in permanenter Verbindung zu Harry Potter stehe."
"Aber..."
"Narcissa, bitte, ich habe nicht mehr viel Zeit. Ich bin hauptsächlich hier, um dich zu warnen. Das Ministerium veranstaltet eine regelrechte Treibjagd auf Todesser und alle, die sie dafür halten. Ich empfehle dir dringend, dich noch einige Monate hier versteckt zu halten."
Entsetzten malte sich auf Narcissas bleichem, angespannten Gesicht. "Einige Monate? Severus, das ist völlig unmöglich! Ich muss mich um meinen Sohn kümmern, um meine Schwester..."
"Bella ist tot", sagte er kalt. ‚Merlin sei Dank dafür!', dachte er gleichzeitig. "Rodolphus auch." ‚Merlin, ich kann gar nicht sagen, wie dankbar ich dafür bin!'
Narcissa schwieg und fuhr sich wieder nervös durchs Haar.
"Sie haben sich der Verhaftung wiedersetzt und noch drei Auroren getötet, ehe sie sich selbst in die Luft gejagt haben", setzte Severus hinzu.
"Wer noch?" Ihre Stimme klang heiser.
"Crabbe, Goyle, Thompson, Greyback, Amycus, Alecto, Julia Levebre... Das sind die Namen, die ich kenne. Angeblich haben sie bereits fünfzehn von uns ‚im Kampf' getötet. Sieben Selbstmorde, darunter einer in Haft: Jim Avery." Narcissa schloss kurz die Augen und atmete tief durch. "Rookwood und Amyntha Prowt sollen auch unter den Selbstmördern sein. Siebenunddreißig Inhaftierungen in Askaban, dazu zweiundsiebzig Personen in Untersuchungshaft." Severus nahm einen tiefen Zug aus seinem Cognacglas und schenkte ihnen beiden nach. "Und das alles kaum eine Woche nach dem Tod des Dunklen Lords." Er stockte. "Sie haben generell die Todesstrafe für die Mitgliedschaft im Dunklen Orden verhängt. Begnadigung und geringeres Strafmaß nur in Ausnahmefällen. Die ersten Hinrichtungstermine sollen schon feststehen. Das behauptet zumindest der Tagesprophet."
"Du hast Recht", sagte Narcissa leise und resigniert. "Ich kann hier wirklich nicht raus."
Severus sah sie ernst an. "Trotzdem glaube ich, dass du eine reelle Chance hast, ganz gut wegzukommen bei der Geschichte. Sie werden ihr eigenes Versagen vertuschen wollen, den Mord an Lucius, den Einsatz von Folter bei Dracos Verhör. Minerva wird nicht zulassen, dass das Ganze unter den Teppich gekehrt wird, es sei denn, das Ministerium bietet ihr eine angemessene Gegenleistung für ihr Schweigen. Sie fühlt sich persönlich verantwortlich für die Verfehlungen ihrer Leute und hat Draco deshalb unter ihre Fittiche genommen. Gut möglich, dass sie bereit ist, dich ebenfalls zu schützen. Warte, bis sich die ganze Aufregung etwas gelegt hat, der ‚Volkszorn' ein bisschen abgekühlt ist, und versuch dann, Kontakt mit ihr aufzunehmen. Vielleicht über Draco, besser über Potter oder Remus Lupin."
" Lupin? Was hat denn der damit zu tun?"
"Oh, ich versichere dir, dass unser guter Werwolf ein ganz besonderes Interesse an Dracos Wohlergehen entwickelt hat. Er wird ihm helfen, wo er nur kann."
Plötzlich klopfte es an der Tür. Zweimal kurz... Dreimal lang... Zweimal kurz.
Narcissa sprang in die Höhe. "Wer ist das? Wie hat er die Hütte gefunden? Wieso kennt er das Klopfzeichen?" Panik schwang in ihrer Stimme.
Severus lächelte leicht. " Ich habe es ihm verraten."
"Du? Wieso..? Wer..?"
"Du hast viele Fragen heute, Narcissa." Severus nickte ihr beruhigend zu, dann stand er auf und schwenkte seinen Zauberstab, die Tür schwang mit leisem Quietschen auf. Herein trat ein junger Mann, schlank und groß, mit krausen braunen Haaren und leuchtenden, ungewöhlich grünen Augen.
"Danny! Danny Pryde!" Narcissa sah erleichtert aus.
Danny grinste. Eine große, schmutzige Pfütze bildete sich um seine schlammbedeckten Stiefel.
"Hallo, Narcissa. Darf ich reinkommen?"
"Sicher, selbstverständlich. Aber was machst du hier?" Sie sah ihn verwirrt an.
Danny schloss sorgfältig die Tür hinter sich, trocknete und säuberte magisch Kleidung und Schuhe. Severus sah Narcissa derweil drängend an. "Du brauchst einen neuen Geheimniswahrer, Narcissa. Ich werde gesucht, mehr noch als die meisten anderen Todesser. Die Gefahr ist einfach zu groß, dass ich die Auroren auf deine Spur führe. Danny hier dagegen werden sie nie verdächtigen - er ist schließlich ein respektables Mitglied des Phönixordens."
Narcissa riss die Augen auf. "Du, Danny? Im Phönixorden?"
Danny grinste und nickte vergnügt. "Dank Albus Dumbledore. Hat sich besonders für mich eingesetzt."
"Heißt das etwa, du kümmerst dich um Draco?"
Danny nickte stumm, seine Augen funkelten triumphierend.
Da lachte Narcissa und alle Spannung und Traurigkeit schien plötzlich von ihr abzufallen. "Danny." Sie eilte auf ihn zu und umarmte ihn erleichtert. "Severus." Sie drehte sich zu ihm um, zögerte kurz und umarmte ihn dann ebenfalls. Erschauernd spürte er ihre weichen Lippen auf seiner Haut, als sie ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange drückte. "Ich danke dir, Severus", flüsterte sie ihm ins Ohr. "Ich danke dir und entbinde dich hiermit von deinem Eid."
"Danke." Severus fühlte sich, als sei gerade eine Zentnerlast von ihm genommen worden. Endlich. Aber er ließ sich nichts von seiner Erleichterung anmerken.
"Wie ist es gelaufen im Ministerium, Danny? Bei der Anhörung?", fragte er wie beiläufig.
Danny schnaubte verächtlich. "Die haben keine Ahnung, stochern bloß im Nebel rum und hoffen, dabei einen Treffer zu landen." Er bemerkte Narcissas fragenden Blick. "Ich hatte heute eine Ladung vor den Untersuchungsausschuss. Nicht etwa, dass sie mich oder meine Eltern verdächtigen würden. Von uns ist ja auch niemand im Dunklen Orden gewesen - trotz unserer verwandt- und freundschaftlichen Verbindungen zu zahlreichen Todesserfamilien. Aber sie sind meinem Bruder auf die Schliche gekommen." Er schüttelte frustriert den Kopf. "Der Witz dabei ist, dass er nur auf Anregung Dumbledores in den Orden eingetreten war. Albus brauchte noch weitere zuverlässige Spione."
Narcissa sah ihn überrascht an. "Spione? Dumbledore?!"
Severus bedachte sie mit seinem dünnsten und gezwungensten Lächeln. "Nicht so wichtig jetzt."
Danny seufzte und fuhr leise fort: "Leider ist der Dunkle Lord wohl schneller hinter seine wahren Absichten gekommen als das Ministerium. Die Phönixkrieger, die euer Hauptquartier gestürmt haben, haben dabei auch meinen Bruder gefunden. Genauer gesagt - seine Leiche. Marcus ist tot."
Dannys Worte sandten einen glühenden Schauer durch Severus' Körper. Er fühlte, wie eine heiße Welle von Scham und Reue durch seinen Körper wogte. Fast hatte er das Gefühl, seine Beine würden ein bisschen nachgeben. Verwirrt sah er in Dannys strahlend grüne Augen, die ihn so sehr an ein anderes Paar ebenso grüner Augen erinnerten.
"Severus, ist alles in Ordnung mit dir?" Dannys Stimme klang irgendwie undeutlich, gedämpft. Das ganze Zimmer schien in grauem Nebel zu versinken. Severus schwankte leicht und fühlte, wie er am Arm gepackt und auf einen Stuhl gedrückt wurde. Jemand drückte ihm ein Glas in die Hand, keinen Alkohol, sondern Wasser, und er leerte es gierig.
"Was ist los mit dir?" Narcissa starrte ihm besorgt ins Gesicht. Der Nebel lichtete sich langsam und er sah und hörte sie wieder deutlich.
"Nichts weiter. Hab vielleicht ein bisschen wenig geschlafen und gegessen in den letzten Tagen. Dazu der Alkohol...", murmelte er vage.
Danny beugte sich über ihn und sah ihn durchdringend an. "Red keinen Quatsch. Du magst vielleicht müde und erschöpft sein, betrunken bist du sicher nicht." Die grünen Augen flackerten nervös. "Severus, gibt es da etwas, das ich wissen sollte? Über dich - oder über Draco?"
Severus schloss resigniert die Augen. Offensichtlich war er nicht länger in der Lage, seinen Geist und seinen Körper so zu kontrollieren, wie er es sich gewünscht hätte. "Danny, hör zu, es tut mir wirklich sehr leid..." Erstaunt registrierte er, dass das sogar stimmte. "Schau, ich konnte es nicht verhindern, und wenn du einen Verantwortlichen suchst, dann bin sicher ich das."
Dannys Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen und er funkelte Severus zornig an. "Was soll das heißen? Willst du damit sagen, du hast Marcus getötet?"
"Nicht eigenhändig, nein, aber ich war... beteiligt. Sicher mehr als die Person, die den Mord letztlich ausgeführt hat."
Plötzlich blitzte Erkenntnis in den grünen Augen auf. "Draco!", hauchte Danny überrascht. Severus hörte Narcissa erschrocken nach Luft schnappen. Er nickte zur Bestätigung. Danny schien ihn mit Blicken erdolchen zu wollen. "Und du erwartest allen Ernstes, dass ich mich weiter um ihn kümmere? Dass ich Narcissas Geheimniswahrer werde? Obwohl Draco meinen Bruder getötet hat?!"
"Danny, bitte... Es war nicht Dracos Entscheidung, du weißt, dass das Wort des Dunklen Lords Gesetz war für uns alle. Und Marcus wusste, worauf er sich einließ, als er zu Dumbledores Spion wurde. Dennoch, wenn du einen Schuldigen suchst - hier bin ich", sagte er bitter.
Danny musterte ihn durchdringend. Dann sagte er kalt: "Kannst du mir zeigen, wie mein Bruder starb?"
Severus stöhnte innerlich. Langsam hatte er genug davon, unerwünschte Besucher durch seinen Geist spazieren zu sehen.
"Wenn mich deine Erinnerung davon überzeugt, dass Draco nicht in böser Absicht gehandelt hat, werde ich mich weiter um ihn kümmern und Marcus - zumindest vorläufig - ihm gegenüber nicht erwähnen. Auch für Narcissas Sicherheit werde ich sorgen. Vorausgesetzt, du bist bereit, die Verantwortung für Marcus' Tod zu übernehmen."
Müde erwiderte Severus Dannys kalten Blick. "Wie du willst", sagte er leise.
Danny hob den Zaubertstab. Aus den Augenwinkeln sah Severus eine ziemlich verstörte Narcissa, die sich verzweifelt an ihrem Cognacglas festhielt. "Legilemens!"
Es war nicht halb so unangenehm, wie Sirius Black in seinem Kopf zu haben. Danny verlangte es nur nach dieser einen Erinnerung, alles andere ließ er unangetastet. Severus zeigte ihm bereitwillig nicht nur Marcus' Tod, sondern auch einen Teil der vorangegangenen Verhöre. Schließlich zog Danny sich zurück und blickte ihn nachdenklich an.
"Ich bin bereit, mich weiter um Draco und Narcissa zu kümmern." Ein Stoßseufzer der Erleichterung erklang aus Narcissas Ecke. "Aber ich will einen Ausgleich für den Tod meines Bruders. Ich weiß, dass du es warst, der ihn an den Dunklen Lord verraten hat, auch wenn du mir das nicht gezeigt hast."
Severus nickte wortlos.
"Du bist bereit, diesen Ausgleich zu leisten?"
Severus neigte in einer stummen Geste des Einverständnisses den Kopf.
"Gut. Dann sollten wir jetzt den Geheimniswahrer tauschen und uns dann auf den Weg machen."
***
Severus und Danny gingen schweigend durch den nächtlichen Wald. Der Sturm war abgeflaut und es fiel ein gleichmäßiger, starker Sommerregen, der dumpf auf die Blättern der Bäume prasselte. Der Weg führte sie auf eine Lichtung, ein Windbruch voll gestürzter Fichten, Farnkraut und Fingerhut. Im Osten zeigte sich bereits ein heller Streifen am Horizont, doch der Rest des Himmels war von mächtigen, in der Dunkelheit schwarzblauen Wolken bedeckt. Severus stoppte und ließ sich auf einen Baumstamm sinken. Danny setzte sich neben ihn. Schweigend zog Severus ein kleines Fläschchen aus seinem Umhang und hielt es Danny hin. Der schüttelte abwehrend den Kopf. "Du hast mir dein Wort gegeben. Ich vertraue dir."
Severus lachte leise und bitter. Dann entkorkte er das Fläschchen, setzte es an die Lippen und leerte es in einem Zug. Er schüttelte sich und zog eine angewiderte Grimasse. "An dem Geschmack muss noch gearbeitet werden", sagte er mit einem ironischen Lächeln zu Danny. Doch der blieb stumm und erwiderte das Lächeln nicht. Achselzuckend ließ Severus seinen Blick über die Waldlichtung schweifen. Roter Fingerhut, Wasserschierling, Mädesüß... Adlerfarn, Schwefelporling, Pestwurz... Hier gab es so viel, das er unter anderen Umständen gut hätte gebrauchen können. Aber so wie die Dinge eben lagen, war es auch ganz schön, das alles unter rein ästhetischen Gesichtspunkten zu betrachten.
Kälte kroch durch seinen vom Regen durchweichten Körper, seine Finger und Füße wurden allmählich taub. Nun, nichts was ihn beunruhigen sollte. Eine Eule schrie. Ein kleines Tier huschte raschelnd durchs Unterholz. Severus lauschte in die Nacht hinaus und hörte den hastigen, nervösen Atem seines Begleiters. "Kein Grund zur Beunruhigung, Danny", wollte er sagen, doch seine Zunge gehorchte ihm nicht mehr. Nun, auch das war im Rahmen des Üblichen. Er spürte immer weniger von seinem Körper und plötzlich glitt er von dem Baumstamm hinunter ins feuchte Farnkraut. Er sah, wie sich ein Schatten über ihn beugte und hörte Worte, aber sie ergaben keinen Sinn mehr. Sein Blick verengte sich immer weiter, bis er schließlich nur noch einen winzigen dämmrigen Punkt erkennen konnte. Das erste Mal fühlte er Schmerz und Angst, als er seine Lungen füllen wollte und auch sie ihm nicht mehr gehorchten. Er kämpfte kurz gegen Panik und Schmerz an, dann ergab er sich ihnen und stürzte in die Schwärze hinab.
***
Es war dunkel. Dunkel und warm. Wohlige Geborgenheit. Hier wollte er bleiben, immer...
Doch etwas trieb ihn weiter, drängte ihn behutsam voran. Von unsichtbaren Händen getragen, schwebte er willenlos durch die Dunkelheit. Er wusste, da war noch etwas... Etwas, das ihn unwiderstehlich anzog...
Und da, in weiter Ferne: Ein winziges Licht. Unglaubliche Helligkeit. Oh ja, das war es. Da wollte er hin. Sehnsüchtig näherte er sich dem leuchtenden Punkt, der größer und größer wurde, ein blendend helles Strahlen, er streckte sich, gleich würde er es erreichen...
Da verschwand das Licht. Mit einem Schlag war es wieder völlig finster. Doch es war nicht die wohlig warme Dunkelheit, in der er sich eben noch so sicher gefühlt hatte. Diese Schwärze war eisig kalt. Grenzenlose Enttäuschung durchflutete ihn, riss ihn mit sich fort.
Und plötzlich sah er sich von zahllosen blauen Flämmchen umringt, Flammen aus Eis, Flammen aus Todeskälte.
Die Angst packte ihn wie ein böses Tier, würgte und verschlang ihn, bis er selbst nur noch aus Angst bestand. Todesangst.
Und dann hörte er sie. Kleine, kalte, mitleidlose Stimmen, die um ihn her wogten und wehten, ein Netz webten aus Angst und aus Hass.
Hass. Er wusste, wer sie waren. Er wusste, woher die Angst kam.
Er selbst hatte sie wachsen lassen, diese Blumen der Angst und des Hasses, und nun reckten sie ihre tödlichen Schlingpflanzenranken aus, um ihn damit zu erwürgen, so wie er sie gewürgt hatte.
Würgengel. Würgteufel. Teufel.
Er wusste, er würde den Rest der Ewigkeit an diesem Ort verbringen, eine zeitlose Zeit in diesem Meer der Verzweiflung, dem Meer, das er selbst erschaffen hatte. Hier zählte nicht, warum er es getan hatte, nur dass er es getan hatte, war von Bedeutung. Und er begann, haltlos zu weinen, als er sich bereit machte für die Unendlichkeit der Verzweiflung, die ihn erwartete.
Doch da war plötzlich etwas anderes, ein Hauch von Wärme und Licht in der eisigen Finsternis. Es war nicht so hell und strahlend wie das weiße Licht, das er zu Anfang gesehen hatte, es war nur klein und schwach, aber es war ein Licht.
Hastig tastete er danach, blind in seiner Angst versuchte er, den winzigen Funken festzuhalten.
"Severus." Er kannte die Stimme... Die Stimme bedeutete Halt, die Stimme bedeutete Schutz und Geborgenheit...
"Sie lassen mich nicht hinein!", schrie er angstvoll und verzweifelt.
"Ich weiß, Severus, ich weiß...", sagte die Stimme kummervoll. ‚Noch kannst du nicht hinein. Noch lange nicht... Aber du kannst mit mir kommen. Ich habe einen Weg für dich gefunden. Vertrau mir.'
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