Jenseits von Hogwarts

 

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Kapitel 14

Der Traum


Zwei Stunden später lag Harry in seinem Zimmer bei den Dursleys auf einer alten Matratze vom Dachboden ausgestreckt. Eingerollt in eine löchrige Wolldecke, schlief er tief und fest. Es war ein lauer Sommerabend, das Fenster stand weit offen und eben versank die Sonne hinter dem hässlichen Reihenhaus der Nachbarn.
Draco lag mit offenen Augen auf Harrys Bett und starrte an die Decke. Er hatte in den letzten Tagen eine Menge Stoff zum Nachdenken bekommen, außerdem hielten die Schmerzen in seinem gebrochenen Knöchel ihn wach, wie erschöpft er auch war. Sie hatten den Bruch nicht behandeln lassen, weil Draco fürchtete, das Zaubereiministerium könnte auch die Muggelkrankenhäuser überwachen, um verletzte Todesser sofort abzufangen. Draco ertrug lieber die Schmerzen, die er im Moment hatte, als sie gegen noch mehr Schmerzen aus den Händen irgendeiner Auroren-Foltertruppe einzutauschen. Jedes Mal, wenn er kurz eingenickt war, hatte er sich in dem weißen Raum wiedergefunden, war erneut angebrüllt und gequält worden. So blieb er lieber wach und dachte nach.
Wie würde seine Zukunft aussehen? Hatte er überhaupt eine Zukunft? Er konnte wohl kaum nach Hogwarts zurückgehen. Auch die Besitztümer seiner Familie würden eingezogen werden, jetzt, wo sie endgültig als Todesser enttarnt waren. Sein Vater war auf der Flucht, seine Mutter versteckte sich an einem ihm unbekannten Ort... Snape würde sich ebenso verbergen müssen. Und alle Freunde und Verwandte Dracos waren Todesser oder hatten zumindest welche in der Familie. Nach dem, was er selbst im Ministerium erlebt hatte, konnte er sich ungefähr vorstellen, was sie jetzt durchmachen würden.
Er dagegen, er hatte Glück gehabt. Aus einem ihm unverständlichen Grund heraus hatte Potter ihn gerettet . Na ja, das schien wohl so eine Marotte von Potter zu sein, Menschen zu retten. Wirklich, ein würdiger Schüler Dumbledores. Beim Gedanken an Dumbledore krampfte sich Dracos Magen schmerzhaft zusammen. Wäre er doch nur auf das Angebot eingegangen, das der Direktor ihm auf dem Turm gemacht hatte: ihn, Draco, und seine Eltern zu schützen. Hätte er rechtzeitig reagiert, dann könnte Dumbledore jetzt noch am Leben sein. Doch er war tot, und so war niemand mehr da, an den Draco sich schutzsuchend hätte wenden können, weder auf Seiten der Todesser, noch auf Seiten ihrer Gegner. Denn was er von den anderen Mitgliedern des Phönixordens zu erwarten hatte, war ihm ja nur allzu schmerzlich klar gemacht worden.

***


Harry träumte irgendein zusammenhangloses Zeug, in dem Argus Filch, Onkel Vernon und ein rosa Balettröckchen vorkamen - da machte sich eine andere geistige Präsenz in seinem Kopf bemerkbar.
Es war Lucius Malfoy, dessen Gegenwart er gerade gespürt hatte. Und irgend etwas schien nicht in Ordnung zu sein mit ihm. Behutsam tastete Harry nach Lucius, er war sich nicht sicher, ob er wirklich gerufen worden war. Außerdem hatte er kein großes Verlangen, den Todesser so rasch wiederzusehen. Er war ihm zwar dankbar, dass er geholfen hatte, Sirius zurückzuholen, aber Freunde würden sie wohl trotzdem nie werden. Dazu hatte Lucius einfach zu viele schreckliche Dinge getan.
An einem anderen Ort konzentrierte sich nun auch Sirius auf das geistige Band und gleich wurde es einfacher, ihm zu folgen. Erst langsam, dann immer schneller reiste ihr Bewusstsein durch den Raum. Harry wurde von dem schwarzen Strom förmlich mitgerissen und wieder stieg in ihm Panik auf, er könnte sein Selbst verlieren, in dieser schwarzen Unendlickeit für immer verschwinden. Doch da war Sirius an seiner Seite und sofort verblasste die Angst. Und ebenso plötzlich, wie sie in den Strudel hineingerissen worden waren, gab er sie wieder frei.
Verblüfft starrte Harry auf Wasser. Wasser in einem fein verzierten silbernen Becken. Wasser, in dem merkwürdige rote Schlieren trieben.
Er fühlte einen brennenden Schmerz an seinen Handgelenken, das Blut sauste in seinen Ohren, ihm war übel und schwindelig. Mit einem Schlag wurde Harry klar, dass er sich in Lucius' Körper befand, mit seinen Augen sah, mit seinen Ohren hörte. Und er war nicht der einzige Gast in Lucius Bewusstsein. Da war auch Sirius, ebenso präsent wie er selbst, und auch Snape war da, allerdings kaum spürbar, da er als geschickter Okklumentor seinen Geist offenbar gegen sie verschlossen hatte. Dennoch, vollständig konnte auch er sich ihrer Verbindung wohl nicht entziehen.
Lucius bemerkte ihre Anwesenheit sofort.
"Oh, hallo, Besuch? Was macht ihr denn hier?"
Er hatte laut gesprochen, doch seine Stimme hatte nicht den üblichen überlegenen und ironischen Klang, sie war unsicher und rau. Auch seine Emotionen und Gedanken waren widersprüchlich und wirr: Harry spürte Angst, Scham, Wut, Triumph... In schneller und chaotischer Folge wechselten zusammenhanglose Bilder vor seinem inneren Auge. Harry erkannte Draco... Voldemort... Eine zusammengekrümmte Gestalt, die am Boden kniete und um ihr Leben flehte... Ein prasselndes Feuer im Kamin... Eine düstere Kerkerzelle...
Was war los mit Lucius?
‚Lucius, was ist passiert? Stimmt was nicht? Können wir dir irgendwie helfen?', fragte Harry unsicher.
Als Antwort auf seine Frage hob Lucius langsam die Hände, so dass die Besucher in seinem Kopf durch seine Augen sehen konnten, was mit ihm nicht stimmte. Harry schnappte entsetzt nach Luft: Zwei hässliche tiefe Schnitte zogen sich längs die Handgelenke hinauf, und in rhythmischen Stößen quoll Blut aus den Wunden. Eine Menge Blut. Lucius ließ die Hände wieder in das Becken gleiten und stöhnte leise.
Harry fragte sich nervös, was er tun sollte. Bleiben? Verschwinden? Eingreifen, falls das überhaupt möglich war?
‚Es wäre möglich. Du hast mir das Leben gerettet, als der Dunkle Lord mich töten wollte. Das heißt, mein Leben liegt in deiner Hand, bis ich meine Schuld auf gleiche Weise abtragen kann. Du könntest mir verbieten, mich zu töten.' Die Stimme in Harrys Kopf klang müde und resigniert.
‚Aber... Du hast geholfen, Sirius zu retten. Zählt das denn gar nicht?', fragte Harry verunsichert. Sollte er eingreifen und Lucius Selbstmord verhindern? Einerseits stieß der Todesser ihn ab, andererseits tat er ihm irgendwie auch leid.
‚Ich war Severus noch was schuldig. Er hat sehr viel geopfert, um Draco zu helfen. Als er mich um Hilfe gebeten hat, konnte ich mich nicht verweigern. Aber das hat nichts mit meiner Schuld dir gegenüber zu tun. Mein Leben liegt in deiner Hand', wiederholte er stumm.
Harrys Gedanken rasten. ‚Und... Warum willst du sterben?'
Lucius lachte freudlos. Diesmal sprach er laut und Harry sah, wie sein hohlwangiges Gesicht sich verschwommen in dem blassroten Wasser spiegelte."Über kurz oder lang würden die Auroren mich kriegen. Ich habe kein Verlangen danach, mein Leben lang auf der Flucht zu sein. Frag Black, wie es sich anfühlt, wenn sämtliche Auroren Großbritaniens hinter einem her sind. Oder wie es in Askaban ist. Es ist auch ohne Dementoren noch schrecklich genug." Harry spürte, wie sein Pate neben ihm erschauerte. "Falls sie mich nicht ohnehin gleich hinrichten würden. In solch aufgeregten Zeiten verzichtet das Ministerium gerne mal auf ein ordentliches Gerichtsverfahren. Das dürfte auch dir schon aufgefallen sein. Und selbst mit einem fairen Gerichtsverfahren: Das, was ich getan habe, würde reichen für fünfzigmal lebenslänglich in Askaban."
Harry überlief ein eisiger Schauder. Für einen Moment hatte er fast vergessen gehabt, mit wem er da sprach, hatte fast so etwas wie Mitleid für Lucius Malfoy empfunden.
‚Wenn du sterben willst, steht dir das frei. Ich werde dich nicht aufhalten', sagte Harry leise.
"Danke." Eine Spur des alten spöttischen Tonfalls war in Lucius' Stimme zurückgekehrt.
Sirius sagte leise: ‚Vielleicht sollten wir besser gehen, Harry...'
Eine Welle von Panik überflutete Harry, kaum dass Sirius den Satz beendet hatte. Doch es war nicht seine eigene Angst, die ihm den Atem nahm, es war Lucius' Angst. Angst, alleine sterben zu müssen. Todesangst. Und das entschied die Sache für Harry: Mochte Sirius tun, was er für richtig hielt, er selbst würde bleiben. Zu vertraut war ihm die Angst, die Lucius in der Kehle würgte, zu oft hatte er selbst voller Angst dem Tod ins Auge geblickt, als dass er einen anderen Menschen in dieser Situation alleine lassen würde, gleich, wer es war.
Mit einem Anflug von Bitterkeit dachte Harry daran, dass die zahlreichen Opfer Lucius' in ihrer Todesangst niemanden gehabt hatten, der ihnen beistand, dass Malfoy bei entsprechender Gelegenheit auch ihn mitleidlos gefoltert und getötet hätte. Dennoch hätte Harry es sich nicht verziehen, den Todesser jetzt alleine zu lassen.
‚Ich bleibe', sagte er entschlossen.
Eine Welle der Erleichterung durchflutete ihn. Lucius' Erleichterung.

***


Ein Schatten beugte sich über Lucius und sagte mit klirrend kalter Stimme: "Was für eine Verschwendung."
Lucius fuhr herum und Harry und Sirius teilten sein überraschtes Entsetzen, als er in die harten schwarzen Augen der Vampirin Eugenie Manley starrte.
"Was für eine Verschwendung", wiederholte sie spöttisch. "Das gute Blut!"
Harry spürte entsetzt, wie sie grob Lucius' rechtes Handgelenk packte und es an ihre Lippen hob. Doch sie biss nicht zu, leckte nur das hervorquellende Blut genüsslich ab. Dann griff sie mit der freien Hand in Lucius' langes Haar und zwang seinen Kopf zurück. Sie ließ seine Hand los und zog ihm mit erstaunlicher Kraft das schwere silberne Bassin von den Knien. Einhändig stellte sie es auf den Tisch, ohne den Griff ihrer anderen Hand in seinem Haar zu lockern. Mit einem triumphierenden Lächeln entblößte sie ihre scharfen Eckzähne und blickte ihm spöttisch ins Gesicht.
"Du weißt, warum ich das tue, ja? Warum es mir ein Vergnügen sein wird, dich zu töten? Dir das Leben bis zum letzten Tropfen auszupressen?"
Da sie seinen Kopf nach wie vor festhielt, konnte Lucius ein Nicken nur andeuten.
"Albus", sagte er rau.
Eugenie lächelte zufrieden. "Gut. Und findest du nicht auch, dass es nur fair wäre, wenn du dich nicht einfach so davonstehlen darfst, nach allem, was du angerichtet hast?"
Wieder deutete Lucius ein Nicken an.
"Ah! Gut, dass wird die Sache wesentlich einfacher machen für uns beide. Aber du bist dir hoffentlich auch darüber im Klaren, dass eine Menge Leute Wiedergutmachung von dir zu fordern haben und das auch tun werden, sobald du in ihre Reichweite gelangst, ja? Sie werden es dir nicht erlauben, dich vor ihnen in den Tod zu retten. Der Tod", setzte sie mit schneidender Stimme hinzu, "wird für dich keinen Frieden bedeuten. Ganz im Gegenteil." Harry begegnete ihrem kalten und mitleidlosen Blick durch Lucius' Augen. Sie fixierte ihr Gegenüber wie eine Schlange die Maus, die sie sich zum Opfer auserkoren hat.
Lucius' Geist wurde vollkommen ruhig und klar, als er seinem Tod in die Augen blickte. Er wehrte sich nicht, als Eugenie überraschend plötzlich auf ihn herabstieß und ihre Zähne seine Halsschlagader aufrissen. Der Schmerz war heftig, verebbte aber rasch und wurde von einem fast angenehmen Gefühl abgelöst, als das Leben aus Lucius Malfoy rann, viel schneller noch, als er es durch eigene Kraft hatte fließen machen. Harry spürte ein starkes Schwindelgefühl und leichte Übelkeit, begleitet von einer eigenartigen Euphorie. Sein Herzschlag verlangsamte sich, seine Gedanken schienen irgendwie zähflüssig geworden... Er hatte nur noch den Wunsch, alles loszulassen, sich fallen zu lassen, hinein in die willkommene Dunkelheit...
Doch dann hielt die Vampirin irritiert inne. Harry spürte, dass sie ihn und Sirius bemerkt hatte. Sie tastete durch Lucius' verglimmendes Bewusstsein und erspürte das geistige Band, dass ihn mit Severus, Harry und Sirius verknüpfte. Harry fühlte sich ziemlich unbehaglich. Was würde sie aus seiner Anwesenheit in Lucius' Geist für Schlüsse ziehen?
Doch er wurde seiner Sorgen enthoben, als ihn ein plötzlicher Schlag in den Rücken traf und er unversehens durch den schwarzen Strom an die Oberfläche tauchte.

***


Ein leises Klackern unterbrach Dracos trübe Gedankengänge. Er wandte den Kopf und sah Potters weiße Eule im Fenster sitzen.
"Hey, Potter! Post für dich!"
Seine Stimme klang noch nicht so scharf und sicher, wie er es sich gewünscht hätte, aber in den letzten Stunden war es eindeutig besser geworden. Missmutig grunzend wühlte Harry sich tiefer in seine Decke.
"Potter! Wach auf!"
Draco tastete auf dem Nachttisch nach einem passenden Wurfgeschoss, fand die Tafel Schokolade und ließ sie mit Nachdruck in Harrys Rücken sausen.
"Au!"
Harry fuhr hoch und blinzelte Draco verwirrt und verschlafen an.
"Was'n los?"
Draco deutete mit einem Kopfnicken zum Fenster.
"Hedwig!", rief Harry erfreut. "Aber, wer hat dich geschickt?"
Er sprang auf und eilte zu der Schneeeule hinüber, die ihn mit sanftem Schnabelklackern begrüßte. Vorsichtig löste Harry das Pergament von ihrem ausgestreckten Bein, erbrach das Siegel und begann zu lesen.

***


Harry, wir machen uns große Sorgen um dich.
Wir haben dich überall gesucht, niemand wusste, wo du nach deinem Besuch im Zaubereiministerium hin bist. Hermine hat Eulen an alle in Frage kommenden Adressen geschickt und wenn du diesen Brief liest, hat sie offenbar mal wieder richtig gedacht. Bitte melde dich bei uns! Niemand wollte uns sagen, was im Ministerium los war, dass du so plötzlich verschwunden bist. Wir werden dir helfen, was auch immer es ist.

Ron & Hermine.



Harry ließ den Brief sinken.
"Was ist?", wollte Draco wissen.
"Der Brief ist von Ron und Hermine. Sie wollen wissen, wo ich bin, und warum ich niemandem gesagt habe, wohin ich gehe, Sie wissen nicht, was im Ministerium los ist", setzte er nach einer Pause hinzu.
Er zögerte noch einen Moment, dann ließ er sich neben Draco auf das Bett sinken.
"Hör mal", begann er langsam, "ich muss dir was sagen. Ich hatte da gerade einen... einen merkwürdigen Traum... Nein, keinen Traum", setzte er stockend hinzu. "Eine Vision. Von deinem Vater, Draco."
Harrys Stimme war immer leiser geworden.
Draco sah ihn nicht an, sondern starrte seltsam abwesend aus dem Fenster. Dann fragte er ebenso leise wie Harry: "Ist er tot?"
Harry schluckte.
"Ich... glaub schon."
"Wie ist er gestorben?" Als Harry einen Moment lang schwieg, fast schockiert ob der Gefasstheit seines Gastes, drängte Draco heiser: "Ich wusste, dass er den Tod gewählt hatte. Er wollte auf keinen Fall den Leuten vom Ministerium in die Hände geraten. Er wollte nicht zurück nach Askaban. Und ich", setzte Draco zornig hinzu, "ich hätte genau das Gleiche gemacht, wenn er es mir nicht verboten hätte!" Als sein Gegenüber immer noch schwieg, diesmal wirklich schockiert, fauchte Draco wütend: "Ich hab ein Recht, es zu erfahren! Er war mein Vater!"
Zögernd begann Harry seinen Bericht. Er ließ nichts aus und als er fertig war, murmelte Draco bitter, das Gesicht in den Händen vergraben: "Nicht einmal in Frieden sterben lassen konnten sie ihn."

Noch in derselben Nacht schickte Harry Hedwig zurück zu Ron und Hermine, mit der Bitte, so rasch wie möglich nach Little Whinging in den Ligusterweg 4 zu kommen.










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