Kapitel 13
Weiß und Schwarz
Harry apparierte vor der Telefonzelle zum Zaubereiministerium. Als er die große Empfangshalle betrat, wimmelte es darin nur so von Hexen und Zauberern. Unglücklicherweise wurde er sofort erkannt und ein Dutzend Leute stürzten auf ihn zu, um ihm zu gratulieren.
"Harry Potter, großartig, Sie zu treffen! Die ganze Zaubererwelt ist Ihnen zu Dank verpflichtet..."
"Ich hab ja immer gewusst, dass Sie Du-weißt-schon-wen eines Tages besiegen würden, Harry!"
"Mr Potter, ich habe nie diesen himmelschreienden Verleumdungen geglaubt, die die Boulevardpresse über Sie verbreitet hat..."
Verzweifelt sah sich Harry nach Hilfe um, doch immer mehr Leute stürmten auf ihn zu. Da erscholl plötzlich eine dröhnende Stimme und eine riesige Gestalt bahnte sich ihren Weg durch die schnatternde Menge. "Harry, hallo! Macht doch ma' Platz hier, Leute, lasst mich doch ma' durch hier!"
"Hagrid!", rief Harry erleichtert.
Der Halbriese bahnte sich einen Weg durch das Gedränge und schob besonders aufdringliche Zauberer und Hexen einfach sanft mit seinen mächtigen Pranken beiseite. "Mensch, Harry, das is' ja einfach großartig, toll, was du da geschafft hast! Du-weißt-schon-wen einfach so'n Luft aufzulösen....Remus und Tonks ha'm mir alles erzählt!"
Endlich hatte er Harry erreicht und da sich die wogende Menge schon wieder um sie geschlossen hatte, hob er ihn kurzerhand auf seine breiten Schultern. "Ich muss zu Professor McGonagall, Hagrid! Oder zu Arthur Weasley!", brüllte Harry über den Lärm hinweg in Hagrids Ohr.
"Je nun, die sind schon wieder unterwegs, die beiden. Todesser fangen, du weißt schon. Es gibt so'n Gerücht, dass sie die Lestranges erwischt haben sollen... Aber Professor McGonagall hat gesagt, ich soll dich zu Remus Lupin bringen, wenn du hier auftauchst." Er stapfte mit Harry auf den Schultern durch die Halle und bog dann mit einem Schwanz von Leuten in einen langen Korridor ein. "Hier is' kein Durchgang für die Öffentlichkeit, nur für Auroren und Ministeriums-Angestellte!" Enttäuscht blieb die Menge hinter der magischen Barriere zurück und Harry seufzte erleichtert auf. "So, Harry", Hagrid stellte ihn behutsam zurück auf den Boden, "ich muss wieder an die Arbeit, Eulenpost. Viele Briefe unterwegs jetzt... Da hinten geht's 'ne Treppe runter, dann rechts in'n Gang und da muss 'ne Zahl dranstehen an der Tür, zehn oder elf oder so, irgendwas mit eins auf je'n Fall. Also, Harry, dann mach's mal gut!" Und mit einem letzten freundschaftlichen Prankenhieb auf Harrys Schulter drehte Hagrid sich um und verschwand den Gang hinunter.
Harry machte sich unbekümmert auf den Weg zu Lupin und fand tatsächlich auch die entsprechende Tür am Ende eines der üblichen düsteren und staubigen Ministeriumskorridore. Es war die achtzehn, der einzige Raum, an dem überhaupt eine Zahl stand.
***
Harry öffnete die Tür - und hielt entsetzt den Atem an. Er stand in einem kleinen fensterlosen Raum, Wände, Decke und Fußboden waren vollkommen weiß, so dass er das merkwürdige Gefühl hatte, mitten in einem Nebelfeld zu schweben. Grellweißes Licht löschte jeden Schatten aus. Es gab keine Möbel, auch keine anderen Einrichtungsgegenstände, nichts außer vier Gestalten, deren Konturen sich vor dem unnatürlich hellen Hintergrund scharf wie Schattenrisse abzeichneten.
Drei der Gestalten standen und blickten drohend auf eine vierte Person herab, ein zusammengekrümmtes Bündel Mensch in schwarzen Roben, das zuckend und würgend vor ihnen am Boden lag. Wie in Zeitlupe sah Harry die drei Stehenden sich umdrehen und zu ihm hinüber blicken. Er spürte die Angst wie eine dürre Hand mit eisigen Fingern seinen Rücken hochkriechen und blieb wie festgefroren in der Tür stehen.
Und dann erkannte er die Drei: Es waren Shacklebolt, Lupin und Tonks. "Ihr!" Harrys Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.
Lupin und Tonks sahen beide erschrocken und irgendwie schuldbewusst aus, als sie das Entsetzen und den Abscheu in seinem Gesicht lasen. Doch Shacklebolt erwiderte seinen Blick unbeeindruckt, fast überheblich. "Komm nur rein, Harry. Wird Zeit, dass du lernst, wie die Wirklichkeit aussieht!"
Harry schloss wie in Trance die Tür hinter sich. Dann machte er zögernd zwei Schritte auf die am Boden liegende Gestalt zu, stoppte und fragte leise, ohne die anderen anzusehen: "Wer ist das?" Doch beim Klang seiner Stimme hob der Gefangene langsam den Kopf und Harry blickte in das blutverschmierte und schmerzverzerrte Gesicht Draco Malfoys. "Nein!"
Sechs Jahre Feindschaft und Hass zerstoben bei diesem Anblick zu nichts. Schock und Mitleid würgten Harry in der Kehle und unwillkürlich ließ er sich neben seinem Schulfeind auf die Knie sinken. Draco starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an, Harry war sich nicht sicher, ob der andere ihn überhaupt erkannte. Doch als er reflexartig die Hand nach Draco ausstreckte, um ihn zu berühren, zu beruhigen, zu trösten, fuhr dieser mit einem panischen Aufschrei zurück. Harry hörte ein hässliches Knirschen, als Draco bei der heftigen Bewegung einen offenbar gebrochenen Knochen belastete. Ein zweiter gellender Schrei begleitete das widerliche Geräusch.
Einen Moment lang war Harry wie gelähmt, doch dann stieg eine brodelnde Wut in ihm auf, wie er sie nur selten verspürt hatte. Er sprang auf die Füße und wirbelte zu den drei Ordensmitgliedern herum. "SEID IHR WAHNSINNIG GEWORDEN? WIE KÖNNT IHR SOWAS MACHEN?"
Die erste Antwort auf sein zornerfülltes Gebrüll war ein furchtsames Wimmern Dracos, der offenbar glaubte, Harrys Wut gelte ihm. Sofort dämpfte Harry seine Stimme und zwang sich, ihr einen beherrschten Klang zu verleihen. "Was hat er getan, um diese... diese Folter zu verdienen?"
"Er ist ein Todesser", antwortete Shacklebolt gelassen. "Abschaum."
Harry schnappte empört nach Luft.
"Harry, bitte", ertönte leise die besorgte Stimme Remus Lupins. Harry drehte sich langsam zu ihm um. Der Werwolf sah ihn gequält an, er war ebenso blass wie der Gefangene und in seinen Augen mischten sich Furcht, Schuldbewusstsein und Mitleid. "Versuch doch, zu verstehen. Wir brauchen unbedingt Informationen. Es sind noch Dutzende von Todessern unerkannt unterwegs und wer weiß, was sie anrichten in ihrem Zorn und in ihrer Verzweiflung über Voldemorts Tod. Denk doch daran, was damals mit den Longbottoms geschehen ist: Von Voldemorts Anhängern gefoltert bis zum Wahnsinn, obwohl die davon ausgehen mussten, dass ihr Herr auf immer vernichtet war."
Harry starrte ihn ungläubig an. "Und du glaubst, dass es irgendeinen Unterschied macht, dass jetzt ihr es seid, die einen Menschen bis zum Wahnsinn foltern?", fragte er dann kalt.
Erregt warf Tonks ein: "Allerdings macht es einen Unterschied! Die da" - und sie deutete anklagend auf die zusammengekauerte Gestalt Dracos - "morden und quälen zu ihrem Vergnügen. Wir dagegen -". Tonks stockte, brachte das Wort "foltern" nicht über die Lippen. "Wir dagegen verhören den da, um unschuldige Menschenleben zu retten. Leute wie die Longbottoms... Oder wie deine Eltern, Harry."
Falls sie gehofft hatte, Harry mit dem Hinweis auf seine Eltern zum Schweigen zu bringen, hatte Tonks sich getäuscht: Er wurde nur noch wütender. Gleichzeitig breitete sich eine unheimliche Ruhe in ihm aus. Die lodernde Flamme des Zorns erstarrte zu Eis und er fühlte, dass etwas in ihm gestorben war. "Ich glaube kaum, dass Draco euch Informationen geben kann. Ich bin sicher, dass weder sein Vater noch Lord Voldemort ihn über die Pläne der Todesser informiert haben. Er ist ja noch nicht mal im Dunklen Orden gewesen!" Seine Worte hatten einen eisigen Klang und er fühlte sich fast ein bisschen wie Snape. Vielleicht war es tatsächlich der Meister der Zaubertränke, der sich durch seinen Mund Gehör verschaffen wollte, oder Lucius Malfoy. Falls ja, dann waren sie ausnahmsweise alle drei einer Meinung.
"Er ist nicht im Orden gewesen?" Shacklebolt lächelte unheildrohend. Er griff Harry am Arm und zog ihn zu Draco hinüber, der keuchend vor ihnen zurückzuweichen versuchte. Der Auror ließ Harry abrupt los, packte Dracos linken Arm und riss ihn grob in die Höhe. "Und was ist das da ?"
Harry stockte der Atem. Auf Dracos bloßem Unterarm prangte, zwar schon verblassend, aber immer noch deutlich sichtbar, das hässliche Brandmal der Todesser.
"Er ist der Sohn eines der mächtigsten Todesser überhaupt", drang die tiefe, ruhige Stimme Shacklebolts wie durch dichten Nebel zu ihm. "Natürlich kennt er Namen, Orte, Pläne... Sicher nicht alle, aber wenn wir mit seinem Wissen auch nur einen Mord verhindern können..."
Harry hatte sich wieder gefasst. So leicht würde er nicht klein beigeben! "Dann seid ihr bereit, ihn zu Tode zu quälen, ja?", schnaubte er angeekelt. "Du hältst Lucius für mächtig, ja? Er hat schon vor über einem Jahr die Gunst des Dunklen Lords verloren! Voldemort hat ihn sogar foltern lassen, um ihn für die verpatzte Aktion im Ministerium zu bestrafen, er hat ihn foltern lassen von seinem eigenen Sohn." Harry war nicht ganz klar, woher er das plötzlich wusste, war sich aber sicher, dass die Information stimmte. Vielleicht war Lucius tatsächlich immer noch in seinem Kopf, sah durch seine Augen und versuchte, Draco zu helfen.
Eine Minute war es still im Raum. Dann fauchte Tonks trotzig: "Das zeigt doch nur, zu was dieses Pack fähig ist! Die kennen weder Freundschaft noch Familienbande, weder Ehre noch,"
Harry konnte sich nicht länger beherrschen: "ZWEI VON DIESEM ‚PACK' HABEN MIR HEUTE ZUFÄLLIG GEHOLFEN, SIRIUS ZURÜCKZUHOLEN!"
Die Drei starrten ihn verblüfft an. Lupin fragte ungläubig: "Sirius zurückzuholen? Wer? Wie?"
"Ja, du hast richtig gehört! Wir konnten seine Seele befreien von einem schrecklichen Ort, an dem sie gefangen war, und er ist mit uns zurückgekehrt in unsere Welt. Zwar als Geist, aber er ist wieder da. Severus und Lucius haben ihr Leben riskiert, um ihn zu retten."
"Verstehe ich dich richtig", hob Shacklebolt gefährlich leise an, "dass du von Severus Snape und Lucius Malfoy sprichst? Seit wann seid ihr denn per du ?"
Harry erwiderte den drohenden Blick, ohne mit der Wimper zu zucken. "Seit die beiden mir bewiesen haben, dass sie mehr Ehre und Mut besitzen, als so mancher, der sich für einen Lichtkrieger hält", sagte er kalt.
Shacklebolt fluchte zornig, Tonks starrte Harry ungläubig an.
"Harry, was ist mit Sirius ?" Lupin wirkte verwirrt und verletzt, doch das war Harry im Moment egal. Er beschloss, die Frage zu ignorieren.
"Ich nehme mal an, dass ihr nicht nur Draco foltert, um an eure so überaus wichtigen Informationen zu kommen. Wie viele noch? Und wie weit werdet ihr gehen? Bis sie alle unter euren Händen verreckt sind?!"
"Verdammt, Harry", rief Tonks frustriert, "wir sind im Krieg! Wir wenden nur deren eigene Methoden gegen sie an! Die Todesser bekommen von uns genau das zurück, was sie anderen angetan haben. Eine andere Sprache als Gewalt verstehen die doch gar nicht!"
"Hast du denn schon mal versucht, anders mit ihnen zu reden? Nein, offenbar nicht", bemerkte Harry sarkastisch. "Wenn ihr so weitermacht, dann werden wir keinen neuen Dunklen Lord mehr brauchen. Ihr fülllt dann ja beide Rollen prächtig aus: die der Guten und die der Bösen ." Harry schwieg einen Moment. Dann holte er tief Luft und sagte entschlossen: "Ich werde Draco jetzt mitnehmen und ihr werdet mich verdammt noch mal nicht daran hindern. Ich bin mit Voldemort fertig geworden, ich werde auch mit euch fertig, wenn ihr euch unbedingt zu seinen Nachfolgern aufschwingen wollt."
Sprachlos vor Staunen starrten Lupin, Tonks und Shacklebolt ihn an. Doch Harry wandte sich brüsk ab, zog seinen Zauberstab und belegte den immer noch am Boden zusammengerollten Draco schweigend mit einem Schwebezauber. Ebenso wortlos ließ er die verkrümmte Gestalt an den Ordenskämpfern vorbeischweben und verließ hinter ihr den Raum.
Knallend fiel die Tür ins Schloss.
Niemand hielt ihn auf.
***
Im Flur warf er rasch den Tarnumhang über Draco, ohne seinen ehemaligen Feind genauer anzusehen. Erst einmal mussten sie beide sicher das Ministerium verlassen, danach würde er sich um ihn kümmern. Aber wohin sollte er Draco bringen? Der Grimmauldplatz schied aus, auch wenn er gerne Sirius' Unterstützung gehabt hätte. Zum Landsitz der Malfoys? Da wimmelte es jetzt wahrscheinlich von Auroren.
Harry grübelte angestrengt, während er rasch durch die leeren Korridore zu den Aufzügen schritt. Behutsam tastete er nach Dracos unsichtbarem Körper, um ihn sicher in den Lift zu manövrieren. Ein leises Stöhnen war die Folge seiner vorsichtigen Berührung.
"Pst!", zischte Harry leise. "Ruhig jetzt! Ich bring dich in Sicherheit, aber niemand darf dich hören!" Harry lauschte angestrengt. Hatte Draco begriffen? "Hast du mich verstanden?", drängte er besorgt.
"Ja", antwortete eine schwache und zittrige Stimme aus dem Nichts. Es schnürte Harry das Herz zusammen, wenn er sich vorstellte, dass Shacklebolt, Tonks und Lupin für dieses Elend verantwortlich waren.
Auch die Eingangshalle war inzwischen so gut wie leer, dennoch zog er sich vorm Verlassen des Aufzugs die Kapuze tief ins Gesicht. Wenn er erkannt wurde, würde er sicher aufgehalten und über Voldemorts Tod ausgefragt werden... Mit einem bitteren Lächeln schoss es ihm durch den Kopf, dass er in seinem schwarzen Umhang und unter der Kapuze wohl selbst fast wie ein Anhänger des Dunklen Lords wirkte. Doch er verließ ungehindert das Ministerium und stand nach einer weiteren Aufzugsfahrt in der roten Telefonzelle mitten auf der schäbigen Muggelstraße, unter der das Zaubereiministerium verborgen lag.
Muggel! Natürlich! Er würde Draco zu den Dursleys bringen! Die waren zu Beginn der Ferien für eine Woche an die Nordsee gefahren, was die anderen Ordensmitglieder sicher nicht wussten, und würden erst in zwei oder drei Tagen zurück sein. Und niemand würde ihn für so verrückt halten, einen verletzten Todesser bei seiner schrecklichen Familie zu verstecken.
Harry grinste zufrieden, als er wieder nach Draco tastete. "Wir müssen disapparieren!", raunte er ihm leise zu. "Du musst nichts machen, ich nehme dich mit." Er hatte Dracos rechten Arm gefunden und warnte ihn: "Ich werde dich ziemlich fest anpacken müssen, damit du unterwegs nicht verloren gehst. Ist dein Arm okay?"
"Ja", erklang die schwache, körperlose Stimme.
"Gut, dann bei drei. Eins, zwei, drei ..."
Das vertraut unangenehme Gefühl, durch einen engen schwarzen Schlauch gepresst zu werden, zu ersticken... Doch es dauerte nur Sekunden, ehe Harry sich im Ligusterweg wiederfand, im Garten von Onkel Vernon, Tante Petunia und ihrem reizenden Sohn Dudley. Sie waren zwischen Geräteschuppen und Garage aufgetaucht, denn Harry wollte erst einmal die Lage prüfen, bevor er mit Draco das Haus betrat.
"Sieht gut aus, scheint tatsächlich keiner da zu sein", flüsterte er, seinen Schützling immer noch mit der einen Hand am Arm haltend, während die andere den Zauberstab umklammerte und, auf den unsichtbaren Draco gerichtet, den Schwebezauber weiter aufrecht erhielt. Jetzt senkte er den Zauberstab langsam und ließ Draco vorsichtig zu Boden gleiten. Schließlich musste er irgendwie die Hintertür öffnen. "Alohomora!"
Der Weg war frei. Harry ließ Draco durch die Tür schweben und verschloss sie sorgfältig hinter sich. Gut, dass das Zaubereiministerium nach Dumbledores Tod die ‚Vorschriften zur vernunftgemäßen Beschränkung der Zauberei Minderjähriger' etwas gelockert hatte, sonst hätte er in Kürze ein Verfahren am Hals gehabt. Oder er hätte Draco tragen müssen und er war sich nicht sicher, ob er das geschafft hätte. Sein Mitschüler war zwar schlank, aber fast einen Kopf größer als Harry. Kurz erwog er, Draco weiterhin unter dem Tarnumhang zu lassen, doch dann hätte er schlecht verhindern können, dass er ihn irgendwo gegen prallen ließ, da er die Position seines Körpers ja nur erahnen konnte. Außerdem waren alle Gardinen im Haus zugezogen; so gerne Tante Petunia auch die Nachbarn bespitzelte, so ungern wollte sie selbst beobachtet werden. Also angelte Harry nach dem seidigen Stoff des Umhangs, bekam ihn zu fassen und zog ihn vorsichtig von dem schwebenden Draco herunter.
Der Anblick versetzte ihm erneut einen Schock. Im Verhörzimmer hatte so eine surreale Atmosphäre geherrscht, auch hatte er sich nach dem ersten Blick in Dracos Gesicht wohl unbewusst bemüht, ihn nicht mehr genau anzusehen. Zwar hatte sich der vor ihm schwebende Körper inzwischen etwas entspannt, er war nicht mehr so verkrümmt, nur noch angstvoll zusammengekauert. Aber sein Gesicht und, vor allem, die Augen!
Es war nicht das viele Blut, dass offenbar von einer großen Platzwunde an der Stirn stammte, vielleicht war er unter dem Cruciatus-Fluch gegen die Wand oder auf den Fußboden geschleudert worden. Es waren die Augen, die Harry wirklich erschreckten. In Dracos Blick lag soviel Angst und Qual, wie er es noch bei keinem Lebewesen gesehen hatte. Nicht einmal Neville hatte solche Augen gehabt, als Bellatrix Lestrange ihn mit dem Cruciatus folterte. Nicht einmal Peter Pettigrew, als er sich in Qualen mit einer abgeschlagenen Hand vor Voldemort am Boden wand... Oder als er Sirius und Lupin verzweifelt um sein Leben anflehte. Das war nicht nur Angst, nicht einmal ‚nur' Todesangst in Dracos Augen, es war mehr: Die Abwesenheit jeglicher Hoffnung. Harry schauderte und wandte den Blick ab. "Ich bring dich hoch in mein Zimmer", murmelte er unsicher. Keine Antwort.
Vorsichtig dirigierte er Draco die Treppe hinauf und über den Korridor zu seinem alten Zimmer. Die Tür war nur angelehnt und drinnen sah alles unverändert trostlos aus. Nur das Saubermachen hatte Tante Petunia sich wohl nicht verkneifen können, sogar das Bett war frisch bezogen. Nun ja, schließlich war sein Besuch für die nächsten Tage angekündigt gewesen. Harry schlug rasch die Decken zurück und ließ Draco behutsam auf das Bett sinken. Was jetzt? "Hast du Durst?"
Draco starrte ihn stumm aus weit aufgerissenen Augen an.
Harry seufzte leise und sagte dann in einem, wie er hoffte, beruhigenden Ton: "Ich hol uns rasch was zu trinken, bin gleich wieder da." Eilig sprang er die Treppe hinab, packte eine Flasche Wasser und zwei Gläser auf ein Tablett und durchsuchte die Küche nach etwas Geeignetem zum Essen. Im Küchenschrank stieß er auf eine Tafel Nougat-Schokolade. Schokolade half nach Dementoren-Angriffen, wohl kaum nach Folter. Er nahm sie trotzdem mit. Aus dem Badezimmer im ersten Stock holte er noch eine Schüssel mit warmem Wasser, einen Waschlappen, Mullbinden, Pflaster und Jod.
Vorsichtig balancierte Harry das vollbeladene Tablett in sein Zimmer und stellte es auf dem Schreibtisch ab. Er füllte ein Glas und beugte sich damit zu Draco hinunter, der furchtsam vor ihm zurückwich. Du liebe Güte, das konnte ja heiter werden. Beruhigend sagte er: "Das ist nur Wasser, das wird dir gut tun. Komm, ich helf dir."
Er schob eine Hand unter Dracos Rücken und half ihm, sich aufzurichten. Sein unfreiwilliger Gast bedachte das Glas mit einem misstrauischen Blick und trank sehr vorsichtig. ‚Ob sie ihn wohl mit Veritaserum traktiert haben?', dachte Harry unbehaglich. Aber wenn sie Veritaserum hatten, wozu hätten sie Draco dann foltern sollen? ‚Vielleicht haben sie ja langsam Geschmack daran gefunden, andere zu quälen', dachte er bitter.
Mit Harrys Hilfe leerte Draco das ganze Glas, ehe er sich erschöpft in die Kissen zurücksinken ließ. Harry nahm die Wasserschüssel und den Lappen zur Hand. "Ich muss dein Gesicht ein bisschen sauber machen, ja?", fragte er zaghaft. "Damit ich die Wunde versorgen kann."
Müde nickte Draco und ließ es widerstandslos zu, dass Harry ihm ungeschickt das Gesicht wusch. Nur als er an die Wunde kam, zuckte er kurz zusammen, gab aber keinen Laut von sich, nicht einmal, als Harry eine ziemliche Menge Jod auf seiner Stirn verteilte.
"Bist du sonst noch irgendwo verletzt?"
"Der linke Fuß", entgegnete Draco gepresst. "Ich hab mir den Knöchel gebrochen."
In Harrys Kopf erklang erneut das widerliche Knirschen und er schluckte heftig. "Ich glaub nicht, dass ich da viel machen kann. Wahrscheinlich muss ich zusehen, dass ich dich irgendwie in ein Muggelkrankenhaus kriege, zum Eingipsen. Den Knochenheilzauber probier ich lieber nicht aus, nach dem, was mir mit Lockhart passiert ist..."
Ein schwaches Grinsen wanderte über Dracos Gesicht, und Harry atmete erleichtert auf. Das war doch schon mal ein gutes Zeichen. Dennoch machte der Bruch ihm große Sorgen, er konnte da nicht rangehen, sonst endete Draco tatsächlich noch ganz ohne Beinknochen, ähnlich wie es Harry dank Professor Lockhart nach einem Armbruch im zweiten Hogwarts-Jahr ergangen war. Aber ansehen musste er sich den Knöchel wohl schon, und die Schuhe mussten auch aus... "Äh, ich guck's mir trotzdem mal an, ja?"
"Nur zu", murmelte Draco matt.
Harry schob vorsichtig das Hosenbein hoch. So konnte er schon mal nichts sehen. Draco trug halbhohe schwarze Stiefel und die mussten irgenwie runter. Die Dinger sahen verdammt teuer aus, aber... "Ich fürchte, ich muss den Schuh runterschneiden, Draco..."
"Dann mach halt."
Harry zog seinen Zauberstab, murmelte leise "Diffindo!" und trennte die Nähte im Leder auf, so dass er den Stiefel behutsam abheben konnte. Draco stöhnte leise und als Harry die Socke ebenfalls heruntergezaubert und zu einem schwarzen Wollknäuel aufgeribbelt hatte, verstand er ihn gut: Der Knöchel war furchtbar dick angeschwollen und die Haut ringsum hatte sich blau und grün verfärbt. "Au weia, na ja, wenigstens ist es kein offener Bruch." Harry versuchte vergeblich, seiner Stimme einen tröstenden und optimistischen Klang zu verleihen. Ein leicht grünlicher Ton war in Dracos blasses Gesicht gestiegen, als sein verletzter Fuß bewegt wurde, sonst blieb er ruhig. Harry wunderte sich im Stillen über diese untypische Selbstbeherrschung. Wenn er daran dachte, was Draco für ein Theater veranstaltet hatte, als er von dem Hippogreif Seidenschabel verletzt worden war... ‚Aber da ging es ihm ja auch darum, Hagrid zu schaden', dachte Harry mit einem Anflug von Zorn, den er aber schuldbewusst gleich wieder unterdrückte. Das hier war etwas völlig anderes.
Da er gerade dabei war, zog er Draco auch noch den anderen Stiefel aus. "Sonst noch irgendwo verletzt?", fragte er dann.
"Nur ein paar Prellungen, nichts von Bedeutung", kam die leise Antwort. Doch nur Sekunden später fing Draco plötzlich heftig zu zittern an.
"Was ist denn das?", fragte Harry erschrocken.
"Cruciatus-Nachwirkungen", presste Draco zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Das Zittern wurde noch stärker, dann ging es in ein heftiges krampfartiges Zucken über, wie bei einem epileptischen Anfall. Draco stieß dumpfe Schreie aus und seine Glieder zuckten so heftig, dass Harry Angst bekam, er könnte sich verletzten. Kurzentschlossen packte er ihn an den Schultern und hielt ihn fest, und als das nicht reichte, legte er sich mit seinem ganzen Gewicht auf ihn und versuchte, irgendwie Arme und Beine zu fixieren. Langsam ebbte der Anfall ab und Draco rang keuchend nach Luft. "Du kannst jetzt wieder von mir runtergehen, Potter."
Hastig sprang Harry auf und wurde knallrot im Gesicht.
Draco sah ihn nicht an, als er im gleichen gepressten Tonfall sagte: "Und da wir schon bei peinlichen Dingen sind... Ich müsste dringend mal die Kleidung wechseln... Insbesondere...", er stockte und wurde leiser, "... die Unterwäsche."
Er drehte plötzlich den Kopf und sah Harry direkt in die Augen, als ob er feststellen wollte, ob dieser das vielleicht amüsant fand. Aber Harry war nur noch eine Spur röter geworden und versuchte, sich rasch abzuwenden. Doch Draco ließ es nicht zu, hielt seinen Blick gefangen. "Cruciatus-Fluch, Potter. Ich weiß, du hast den auch schon erlebt, aber wahrscheinlich nicht so lange und nicht so oft hintereinander. Man verliert einfach die Kontrolle über seinen Körper, klar?" Er hatte versucht, einen sachlichen und selbstsicheren Ton anzuschlagen, doch der Versuch war kläglich misslungen und zum Schluss wurde seine Stimme immer leiser und unsicherer.
Harry nickte nur, drehte sich dann abrupt um und machte sich an seinem Schrank zu schaffen. Er suchte Jeans, einen blauen Pullover und einen Satz Unterwäsche hervor, die er schweigend neben Draco aufs Bett legte. "Ich fürchte", sagte er leise, "mit dem Fuß wirst du es nur ins Bad schaffen, wenn ich dich wieder schweben lasse. Ist das okay?"
Draco schloss kurz die Augen und nickte knapp. Er griff nach der Kleidung und Harry ließ ihn mitsamt den Sachen wieder in die Höhe steigen. Vorsichtig lenkte er Draco zum Badezimmer, ließ ihn dort auf einen Hocker sinken und legte ihm Handtücher und Waschzeug bereit. Dann sagte er leise: "Ruf mich, wenn du Hilfe brauchst, ja?"
Draco nickte nur und Harry schloss behutsam die Tür hinter sich.
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