In einem anderen Leben

 

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Kapitel 2

 


Hinter schwarzen Vorhängen


"Das wäre dann alles, Madame D'Attali. Kann ich Ihnen noch irgendwie behilflich sein?"

"Nein, ich danke Ihnen, Gregoire."

"Dann wünsche ich Ihnen noch einen wunderschönen Nachmittag, Madame. Adieu."

"Adieu."

Die Ladentür der kleinen Buchhandlung fiel scheppernd ins Schloss und eine gutgekleidete Frau unbestimmten Alters trat auf die belebte Straße im Pariser Viertel Montmartre hinaus. Es war ein heißer Augustmorgen und die flimmernde Luft machte den Aufenthalt in der Stadt nicht gerade angenehmer, zumal die Boulevards und Gässchen von Menschen, insbesondere Touristen aus aller Herren Ländern vollgestopft zu sein schienen. Florence D'Attali drängelte sich durch eine Reisegruppe, offensichtlich Japaner hindurch und hastete auf den nächsten U-Bahnschacht zu. Ihre Einkäufe hatten mehr Zeit in Anspruch genommen, als sie erwartet hatte, besonders in Gregoire Matthieus Buchhandlung hatte sie einmal mehr vergessen, dass sie eigentlich geplant hatte, zuhause zu Mittag zu essen.

Es kam nur sehr selten vor, dass sie an dem kleinen Lädchen des alten Mannes vorbeikam, ohne einen Blick hineinzuwerfen, und sei es auch nur, um einige Minuten mit dem Besitzer zu plaudern.

An diesem Tag jedoch hatte sie gleich drei Bücher erstanden, von denen zwei einen ganz normalen Eindruck machten, das dritte jedoch schon durch seine Einband Aufsehen erregt hätte. Unter der Überschrift "Hinter schwarzen Vorhängen" prangte ein Foto von etwas, das entfernt an eine Gerichtsverhandlung erinnerte und das vor allem durch die Tatsache aus dem Rahmen fiel, dass sich die abgebildeten Personen zu bewegen schienen. Man konnte sogar sehen, wie der Richter, sofern es sich um einen handelte, immer wieder mit dem Hammer auf das Pult vor ihm schlug. So ungewöhnlich dies auf den ersten Blick auch erscheinen mochte, so alltäglich war es doch für Menschen wie Gregoire Matthieu und Florence D'Attali, die im Grunde gar keine normalen Menschen sondern Zauberer waren. Die Buchhandlung auf dem Montmartre führte eine gutsortierte Abteilung mit magischen Büchern aller Art, die allerdings in einem Raum im Hinterhaus versteckt lag, zu dem Muggel, also nichtmagische Menschen, keinen Zutritt hatten, da er durch mehrere Schutzzauber gesichert war.

"Was wollen Sie denn mit noch so einem Buch?", hatte der alte Ladenbesitzer erstaunt gefragt, als sie das Buch über die Todesserprozesse der letzten 20 Jahre aus dem Regal gezogen hatte.

"Ich war der Meinung, mich darüber informieren zu müssen... Sehen Sie, ich bin in England aufgewachsen und irgendwie fällt es mir auch heute noch schwer, einfach zu ignorieren, was dort vor sich geht."

"Glauben Sie, dass Er, dessen Name nicht genannt werden darf, immer noch Macht besitzt, obwohl er nun doch schon seit so vielen Jahren tot ist?"

"Natürlich nicht, Gregoire. Aber ich denke, wir sollten nicht vergessen..."

Für einen Moment sah es so aus, als wolle er noch etwas hinzufügen, entschied sich dann aber anders und bedachte sie stattdessen mit einem wissenden Lächeln.

Manchmal fragte sich Florence, wie viel Gregoire wirklich über ihre Beweggründe wusste. Es war nicht das erste Buch, das sie über Lord Voldemort und seine Gefolgsleute kaufte und sie war sich ziemlich sicher, dass es auch nicht das Letzte sein würde. Schon seit Jahren stürzte sie sich beinahe schon versessen auf jede Neuerscheinung zu diesem Thema, nur um dann, sobald sie nach Hause kam, das Inhaltsverzeichnis nach zwei Namen durchzusehen. Einen von beiden, den Namen ihres Bruders, fand sie in beinahe jeder Ausgabe, den anderen nur in sehr wenigen, detailverliebten Werken. Jedes Mal versetzte es ihr aufs Neue einen Stich ins Herz, wenn sie die zugehörigen Artikel durchging:

Sirius Black, angeklagt und verurteilt 1981 aufgrund mehrfachen Mordes an Muggeln und Zauberern...

Nur sehr selten wichen die Beschreibungen voneinander ab und noch seltener brachte ein Autor etwas wirklich Neues. Trotzdem kam sie nicht umhin, die Bücher zu kaufen und aufs Akribischste zu studieren, immer auf der Suche nach - ja, nach was eigentlich?

'Unschuld...', dachte sie, während sie eingeklemmt zwischen zwei kaugummikauenden Jugendlichen in der U-Bahn stand, 'glaube ich noch immer, dass er unschuldig ist?' Nach so vielen Jahren hatte der Gedanke schon beinahe etwas Lächerliches. Die Beweise waren erdrückend, die Tatumstände allzu offensichtlich. Sirius Black, ihr Zwillingsbruder Sirius hatte im Auftrag Lord Voldemorts zuerst seinen besten Freund James Potter verraten und anschließend einen ganzen Straßenzug in die Luft gesprengt, wobei unter anderem sein Freund Peter Pettigrew ums Leben gekommen war. Sie wusste nicht, wie es dazu gekommen war, hatte niemals Gelegenheit dazu gehabt, sich seinen Standpunkt anzuhören, da sie damals bereits keinen Kontakt mehr zueinander gehabt hatten. Das letzte Mal hatte sie ihn kurz nach ihrem Schulabschluss in Beauxbatons gesehen, danach war sie nicht mehr nach Hause zurückgekehrt. Begründet allerdings lag diese gegenseitige Entfremdung in einem Ereignis, das sich bereits zwei Jahre zuvor zugetragen hatte, als sie noch zusammen die Hogwarts-Schule für Hexerei und Zauberei besucht hatten. Der zweite Name....

Severus Snape, angeklagt wegen Todesserei im Sommer 1980 und unter undurchsichtigen Umständen freigesprochen...

Die U-Bahn hielt und Florence drängelte sich unter Zuhilfenahme ihrer Ellenbogen bis zum Ausgang durch. In Augenblicken wie diesem bedauerte sie es aufrichtig, dass es innerhalb des Innenstadtrings von Paris ausdrücklich verboten war, zu apparieren oder per Flohnetzwerk zu reisen. Die Begründung des französischen Zaubereiministeriums lautete, dass die Gefahr, von Muggeln bemerkt zu werden ungleich größer war, wenn, wie es bei einer Metropole wie Paris der Fall war, so viele Menschen auf so engem Raum zusammenlebten. Dem hatte selbst Florence nichts entgegenzusetzen. Zwar war die U-Bahn keine wirkliche Alternative, aber im Vergleich zu anderen Verkehrsmitteln der Muggel war sie bequem und schnell.

Schon als sie von der breiten Haupt- in die ruhige Nebenstraße einbog, wo sie zusammen mit ihrem Mann Pierre eine Villa im Stil des Fin du Siècle bewohnte, wurde ihr klar, dass irgendetwas nicht in Ordnung sein konnte. Es waren mehr Menschen als gewöhnlich auf der Straße und weiter hinten konnte sie das Blinken mehrerer Blaulichter erkennen. Unwillkürlich begann sie schneller zu gehen. Die "Flics", wie man die französische Polizei im Allgemeinen nannte, waren gerade dabei, eine Absperrung zu errichten. Zwei uniformierte Beamte waren soeben dabei, ein rot-weißes Plastikband von einer Straßenseite zur anderen zu spannen, als einer von beiden Florence zu entdecken schien, sofort alles stehen und liegen ließ und auf sie zueilte. "Madame, Sie können hier nicht durch."

"Aber Monsieur, ich wohne hier..."

"Dürfte ich Sie um Ihren Namen bitten?"

"D'Attali. Florence D'Attali."

Das Gesicht des noch jungen Polizisten schien auf einmal jegliche Farbe zu verlieren und sie konnte deutlich sehen, wie er um Selbstbeherrschung rang. Auf einmal wurde ihr übel. Sie versucht einen Blick auf ihr Haus zu erhaschen, konnte aber aufgrund der Menschenmenge und der geparkten Autos nichts erkennen.

"Was... was ist hier los?"

"Madame...", brachte er schließlich hervor, "ich muss Sie bitten, mitzukommen."
Das durfte nicht wahr sein. Nein, alles war nur ein böser Traum. So etwas passierte nicht im wirklichen Leben, allerhöchstens in schlechten Romanen oder in diesen Muggelfilmen, aber ganz sicher nicht in der Realität.

"Madame D'Attali, ich weiß, dass Ihnen das jetzt sehr schwer fallen muss, trotzdem muss ich Sie bitten, mir einige Fragen zu beantworten." Jean Mellier, der mit den Ermittlungen betraute Polizeiinspektor legte ihr vorsichtig eine Hand auf die Schulter. Er konnte spüren, wie sie unter ihm zusammenzuckte. Sie tat ihm leid. Selbst nach jahrzehntelanger Erfahrung im Polizeidienst konnte er Bilder, wie jenes, das sich ihm heute im Haus der D'Attalis geboten hatte, nicht zur Routine zählen. Ein Mord war immer eine grausame Sache, aber das hier, das war nicht einfach nur ein simples Tötungsdelikt, das war ein regelrechtes Abschlachten gewesen. Man hatte Pierre D'Attali nach dem derzeitigen Stand der Ermittlungen zunächst gewaltsam überwältigt, anschließend auf einem seiner teuren, halbantiken Wohnzimmersessel festgebunden und letztendlich vergiftet. Das war die offizielle Version. Mellier glaubte es besser zu wissen, aber um seinen Verdacht bestätigt zu finden, musste er zuerst mit der Ehefrau des Opfers sprechen.

Überraschenderweise war Florence D'Attali trotz des unvorstellbaren Schocks, den der grausame Mord an ihrem Mann für sie bedeutet haben musste, bemerkenswert gefasst. Sie weinte nicht, sie schrie nicht, sie weigerte sich sogar, die Beruhigungsmittel, die ihr der Polizeipsychologe anbot einzunehmen... Diese Ruhe war gefährlich - es war nur eine Frage der Zeit, bis sie in einen totalen Zusammenbruch münden würde. Mellier, der mit diesem Phänomen nur allzu vertraut war, wusste, dass ihm nicht mehr viel Zeit blieb...

"Bitte folgen Sie mir..." Er nahm sie vorsichtig am Ärmel und zog sie in einen der Polizeibusse. Er warf einen Blick die Straße hinunter. Die ersten Presseleute waren bereits vor Ort. Sie würden sie nicht mehr lange zurückhalten können. Im Stillen betete er bereits, dass alles so ablaufen würde, wie sie es für einen Fall wie diesen geplant hatten.

Das Innere des Busses war schall- und kugelsicher abgedichtet und mit einem kleinen Tisch zwischen den zwei gegenüberliegenden Sitzbänken versehen. Etwas umständlich kramte der Inspektor ein Diktiergerät hervor und legte es eingeschaltet auf den Tisch. Als er Florences kritischen Blick bemerkte, berührte er kurz ihre Hand und sagte mit beruhigender Stimme: "Nur fürs Protokoll... nichts Offizielles... keine Angst." Sie sah ihn mit ihren durchdringenden dunklen Augen an, dann beugte sie sich zu ihm hinüber und flüsterte: "Warum?"

Mellier schluckte schwer. "Offengestanden... wir wissen es nicht. Aber wir werden es herausfinden. Dazu brauchen wir Ihre Hilfe. Zuallererst möchte ich, dass Sie mir etwas bestätigen, das für die weiteren Ermittlungen von elementarer Wichtigkeit sein könnte."

"Ich werde Ihnen jede Frage beantworten..."

"Madame D'Attali, gehe ich richtig in der Annahme, dass es sich bei Ihnen und Ihrem verstorbenem Ehemann um Zauberer handelt?"

 

 Kapitel 1

 

 

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