Kapitel 9: Vor dem Abgrund
Sie standen hoch oben am Hang eines Berges. Ein eisiger Wind wehte durch die bizarr zerklüftete Felsenlandschaft, und schwarze Sturmwolken jagten über den Himmel.
Severus kniete auf dem felsigen Untergrund, er hatte sich gegen die Kälte in seinen viel zu dünnen Umhang fest eingewickelt, doch er vermochte ihn nicht gegen den schneidenden Wind zu schützen.
Voldemort stand vor ihm, in einen dicken schwarzen Pelz gehüllt, flankiert von zwei vermummten Todessern. Seine große schlanke Gestalt schien sich perfekt in die unwirkliche Landschaft einzufügen. Eine Aura der Macht umgab ihn, wie Severus sie damals auf dem Höhepunkt von Voldemorts Herrschaft bereits gespürt hatte.
Verzweifelt bemühte sich Severus, seine Gefühle von Haß, Abscheu und Angst vor dem Dunklen Lord abzuschirmen und harrte ruhig auf dem Boden aus, Demut demonstrierend, die er nicht mehr empfand.
“Severus....” Voldemorts Stimme war kälter als der schärfste Wind.
Severus blickte auf in Voldemorts rote Schlangenaugen und bemühte sich, dem Blick standzuhalten. Der Dunkle Lord schätzte keine Feigheit.
“Es ist eine Weile her, daß wir uns zuletzt gesehen haben. .ich denke, du hast unsere letzte.. Begegnung.. noch gut in Erinnerung?” Die Todesser lachten, und Severus erkannte die Stimmen von Wurmschwanz und Macnair.
Er schluckte und antwortete: “Ja, mein Lord.”
“Nun, niemand entgeht der Strafe des Dunklen Lords. Ich hätte dich töten sollen, so wie es dir gebührt... doch ich habe aus Hogwarts interessante Neuigkeiten gehört....”
Voldemort lachte leise, bevor er fortfuhr: “Dumbledore hat einen neuen Wachhund für Potter angeheuert.. jemand, mit dem nicht einmal ich gerechnet hätte. Eine schlammblütige Quidditch-Spielerin, was für eine ausgefallene Idee! Sie kam nach Hogwarts, ohne daß ich etwas dagegen tun konnte, und nun ist sie nicht abzuschütteln.. nicht mal ein Skandal-Artikel in der Hexenwoche hat seine Wirkung getan!”
Severus erschrak. Natürlich, wer sonst als Voldemort hätte Patricia von der Schule entfernen wollen?
Voldemort sah Severus durchdringend an.
“Nun, auch dich hat es nicht erwischt. Eigentlich wollte ich auch dich aus Hogwarts forthaben, denn ich bin von deinen Qualitäten nicht mehr so überzeugt wie damals, wie du sicher verstehen kannst...”
“Mein Lord, ich..”
“Schweig! Ich habe eine Aufgabe für dich, die du erfüllen wirst. Wenn du dies nicht tust, wird das deinen Tod bedeuten. Sieh es also als deine letzte Chance, mir deine absolute Loyalität zu beweisen.
Ich will, daß du das Schlammblut, dieses Weib Knight-Haversham, aus dem Weg schaffst.
Entweder wirst du dafür sorgen, daß sie stirbt, oder du wirst sie mir bringen.”
Severus spürte, wie sich eine kalte Hand um sein Herz schloß.
Er brachte nicht sofort eine Antwort zustande, woraufhin Voldemort ihn mit dem Cruciatus-Fluch belegte.
Doch nicht einmal der Schmerz war stärker als die Klaue um sein Herz.
Als es vorbei war, und Severus sich langsam zitternd vom Boden erhob, flüsterte Voldemort:
“Ah.. ich verstehe... du willst deine letzte Chance einem dreckigen Schlammblut opfern? Wie tief bist du gesunken, Severus... und seit wann interessierst du dich für eine Frau? Sie muß blind sein, oder voller Mitleid für dich.. oder vielleicht spielt sie auch ein Spiel mit dir? Mir ist es egal. Ich will, daß du sie zur Strecke bringst. Vielleicht hilft dir das... Imperio!”
Sofort waren Angst und Schmerz verschwunden, und Severus hatte das Gefühl, daß sein gesamter Verstand von weicher Watte umhüllt war.
Eine Stimme in seinem Kopf flüsterte in sanftem Ton: “Bring deinem Lord ein Opfer und töte sie. Zeige deine Treue und töte sie. Sie ist es nicht wert, deine Gefährtin zu sein. Töte sie......!”
Voldemort lachte und richtete seine Zauberstab auf Severus.
Als er wieder erwachte, befand er sich auf dem gleichen Geröllfeld außerhalb von Hogsmeade, auf dem Patricia ihn damals gefunden und zum Schloß gebracht hatte.
Das Wattegefühl noch immer im Kopf, begann Severus, mit aller Macht gegen den Imperius-Fluch anzukämpfen. Er hatte es gelernt, er hatte es immer geschafft.... noch niemals war er eine willenlose Marionette gewesen. Alles hatte er nach seinem eigenen freien Willen getan, und so war es auch diesmal.
Schweißgebadet stand Severus schließlich auf. Er hatte den Fluch abgeschüttelt, doch ihm war etwas klargeworden. Patricia schwebte in allerhöchster Gefahr. Er mußte sie warnen.. und er mußte sie schützen.
Es war viel mehr als eine Zaubererschuld. Sie war die Sonne und der Mond, Himmel und Erde.. er liebte sie, wie er niemals vorher einen Menschen geliebt hatte. Sie mußte weiterleben, sie war unschuldig...
Er hatte sein Leben jedoch bereits verwirkt, als er damals ein Todesser geworden war.
Und ihm wurde bewußt, daß er in ihrer Nähe eine tödliche Gefahr darstellte. Voldemort würde andere Wege finden, wenn er erst bemerkt hatte, daß der Imperius-Fluch nicht wirkte und Severus nicht die Absicht hatte, Patricia umzubringen.
Wo in Hogwarts war die undichte Stelle? Von wem ging Gefahr aus? Er mußte mit Dumbledore sprechen..
Aber vorher würde er zu Patricia gehen und sich von ihr trennen. Dieser Gedanke schmerzte ihn mehr als alles andere. Doch vielleicht würde sie dann seine Nähe komplett meiden, und damit außer Gefahr sein.. und er würde natürlich immer auf sie aufpassen, aus der Ferne zumindest, solange er konnte.
Und ihre Trauer würde nicht allzu groß sein, wenn er tot wäre, denn sie würde ihn hassen, nach dem, was er ihr gleich antun würde.
***
“Wo ist Professor Snape?”, fragte eine Erstklässlerin aus Slytherin, als Patricia den Kerker betrat.
“Er hat die Grippe. Solange werde ich ihn vertreten.”
Diese Antwort hatte Patricia an diesem Tag schon fünfmal geben müssen. Es fiel ihr unendlich schwer, sich auf den Unterricht zu konzentrieren. Ihre Gedanken waren fast ständig bei Severus. Sie betete und hoffte, ihn wiederzusehen. Ständig erschienen die schlimmsten Bilder vor ihrem inneren Auge: Visionen von Folterungen, Qualen, Schmerzen und Blut..
Patricia hatte ihren Geist auf die Reise geschickt, um eine Spur von Severus zu erspüren. Doch es war vergebens.
Sie wünschte, ihre Freundin Willow wäre jetzt hier. Sie hatte eine große seherische Gabe.. doch vielleicht hatte Voldemort sein Umfeld gegen diese Kräfte abgeschirmt..
Patricia fühlte sich völlig allein. Es gab niemanden an dieser Schule, dem sie ihre Ängste und Sorgen anvertrauen konnte. Blaß und leicht verwirrt kämpfte sie sich durch den Tag.
Professor McGonagall sah Dumbledore beim Mittagessen besorgt an und flüsterte: “Die Arme ist ja völlig mitgenommen. Ich wußte ja nicht, daß sie sich solche Sorgen um Severus machen würde..”
Dumbledore nickte und sah Patricia, die auf ihren Teller starrte, das Essen jedoch nicht anrührte, lange an.
'Sie wird noch viel mehr leiden als jetzt', dachte er. Er wünschte, er könnte es ihr ersparen. Doch er war sich ziemlich sicher, daß Severus seine Verbindung zu ihr nicht aufrechterhalten würde.. und das ist auch Liebe, wenn man den anderen schützen will.
Bei Lupin hat sie das gleiche durchgemacht.. doch diesmal würde es sie härter treffen.
***
Patricia saß auf dem Boden in ihrem Zimmer und starrte das Muster des Teppichs an.
Wie lange schon, konnte sie nicht genau sagen. Und was bedeutete es schon?
Nichts hatte mehr irgendeine Bedeutung, denn Severus war fort.
Er war durch diese Tür gegangen, und er würde nie zurückkommen.
Es war wie Sterben, dachte Patricia.
Sie war überglücklich gewesen, als Severus am späten Abend unversehrt vor der Tür ihres Quartiers gestanden hatte. Sie war ihm um den Hals gefallen und hätte ihn am liebsten gar nicht mehr losgelassen.
Doch Severus hatte sich losgemacht, und hatte angefangen zu erzählen: Von Voldemorts Plänen, vom Imperius-Fluch und seiner Entscheidung, sie nicht länger in Gefahr zu bringen.
“Der und mich umbringen? Das soll er mal versuchen! Und dich wird er auch nicht kriegen! Ich hasse ihn! Ich hasse ihn...”
Severus hatte versucht, sie in ihrer Hysterie zu beruhigen, doch sie konnte kein Wort davon verstehen, was er sagte.
Nur das eine schrillte in ihrem Kopf und hallte wie ein Glockenschlag: Severus geht! Er verläßt mich!
Ich tue es für deine Sicherheit! Patricia schien es, als wäre sie in einer grotesken Wiederholungssequenz gefangen. Severus` Gesicht nahm die Züge von Remus an, und seine Stimme veränderte sich, und Patricia hörte Remus wieder sagen: “Ich kann nicht bei dir bleiben. Es ist zu gefährlich für dich! Ich könnte dich töten!” Und Remus´ Stimme wurde wieder zu der von Severus.
Gefangen in den Erinnerungen an den Alptraum, den sie vor wenigen Stunden wieder durchlitten hatte, ballte Patricia ihre Hände zu Fäusten und drückte sie so fest zu, wie sie nur konnte. Sie hoffte, daß der Schmerz sie wieder zur Besinnung bringen würde.
Und so war es schließlich auch. Als am Morgen Frank´n´ Furter von seiner Jagd zurückkam und Patricia sein obligatorisches Geschenk für sie auf den Schreibtisch legte (heute war es eine Wühlmaus), fand er sie bereits geduscht und angezogen vor.
Die Spuren der durchwachten Nacht hatte sie mit Make Up so gut wie nur irgend möglich zu überdecken versucht, doch sie erschien immer noch sehr blass, als sie zum Frühstück ging.
Es tat schrecklich weh, Severus zu sehen. Auch er sah nicht gerade fit aus.
Sie sparte sich ihren Morgengruß für ihn und setzte sich ans entgegengesetzte Ende des Tisches neben Professor Sprout.
„Magst du nichts essen?”, fragte diese munter, während sie den vierten Marmeladentoast verspeiste.
„Ach nein, danke, mir ist heute nicht gut..”, antwortete Patricia und schob ihre üblichen Cornflakes von sich.
Auch die nächsten Tage brachte Patricia keinen Bissen herunter, egal, welche Köstlichkeiten vor ihr auf dem Tisch standen. Sie huschte nur wie ein Schatten ihrer Selbst durch das Schloß und war mittlerweile beinahe so bleich wie der Fast Kopflose Nick. Für die Pausenaufsicht ließ sie sich meist von Professor Flitwick vertreten, was ihre Fans sehr enttäuschte.
Im Unterricht und während des Quidditch-Trainings mußte sie all ihre Kraft zusammennehmen, um sich auf den Stoff und die Schüler zu konzentrieren. Doch krankmelden wollte sie sich nicht. In ihrem Quartier oder im Krankenflügel den ganzen Tag untätig herumliegen zu müssen, hätte bedeutet, den Gedanken und Gefühlen freien Lauf zu lassen.
Und das vermied sie, wo sie nur konnte. Der Schmerz war oft unerträglich, und ließ sie nachts nicht schlafen. Schließlich braute sie sich selbst einen Schlaftrank, der ihr über die langen Nächte hinweghelfen sollte.
Doch all ihre Selbstbeherrschung half nicht zu verbergen, daß etwas mit ihr geschehen war.
Ihre Fröhlichkeit, die die Schüler und Kollegen so an ihr mochten und die so ansteckend sein konnte, war verschwunden. Ihr Lachen war nicht mehr in Hogwarts zu hören.
Severus sah, wie sie litt, und haßte sich dafür.
Sein eigenes Leiden versuchte er dadurch zu kompensieren, daß er die Schüler schlimmer als jemals zuvor behandelte (das wirkte zumindest tagsüber). Er vernachlässigte sein Äußeres.
Sein Haar hing wieder fettig herab, und er war wieder der fiese, gemeine Snape, vor dem sich alle Schüler fürchteten und der wie ein großer schwarzer Todesvogel durch die Kellerverliese von Hogwarts flatterte.
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