Gefangen

 

 

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Kapitel 6: Der Traum

 


Beim Mittagessen schnatterten und schwätzten die Schüler so fröhlich wie immer. Den Zwischenfall vom Frühstück hatten sie so gut wie vergessen. Dies traf allerdings nicht auf die Lehrer zu. Der Direktor sah älter aus als jemals zuvor, und McGonagalls Augen waren rot gerändert, so als ob sie geweint hätte. Hagrid hatte eindeutig geweint und schnäuzte sich noch immer ausgiebig in sein übergroßes Taschentuch. Snapes Stuhl blieb leer. Nur Trelawney und Professor Smith unterhielten sich angeregt, scheinbar unbeeindruckt von der düsteren Stimmung um sie herum.

"Irgend etwas stimmt hier nicht", flüsterte Ginny Weasley ihren Freunden am Gryffindor Tisch zu. "Seht euch die Lehrer an. Und Snape kam heute morgen nicht zu Zaubertränke. Er hat bisher noch nie auch nur eine einzige Stunde verpasst."

"Er war auch nicht da, um Zaubertränke für Fortgeschrittene zu unterrichten", sagte Neville und seufzte glücklich. Es war nicht seine Idee gewesen, diesen Kurs zu belegen.

"Ich habe euch doch gesagt, dass Snape etwas vor hat!", zischte Harry. "Der hat doch noch nie auch nur eine Gelegenheit verpasst, um Schüler zu quälen, besonders nicht die Gryffindors."

"Aber er hat in den letzten Wochen wirklich noch blasser und dünner ausgesehen als gewöhnlich", gab Hermine zu bedenken. "Vielleicht ist er wirklich krank."

"Oder tot?", fragte Ron hoffnungsvoll.

"So wie die Lehrer dreinschauen, könnte man das tatsächlich annehmen", sagte Ginny. "Manche von ihnen machen Gesichter, als ob sie auf einer Beerdigung wären."

"Der Direktor und Professor McGonagall schienen sehr besorgt zu sein, als sie Snape nicht in den Kerkern antrafen", meinte Hermine nachdenklich.

"Er ist zurück zu Voldemort, deshalb", beharrte Harry. "Und jetzt machen sie sich Sorgen wegen der ganzen Ordensgeheimnisse, die der schleimige Mistkerl seinem Herrn verraten wird."

"Harry, du ..."Aber Hermine wurde vom Direktor unterbrochen, der sich langsam von seinem Stuhl erhoben hatte und sich räusperte.

"Ich habe eine Ankündigung zu machen", begann er mit ernstem Gesicht. Einen Moment lang zögerte er, so als ob er noch einmal überlegte, was er sagen sollte. "Der Zaubertränke-Unterricht fällt bis auf weiteres aus", sagte er schließlich, drehte sich um und verschwand durch den Seiteneingang, einen unberührten Teller und einige hundert verblüffte Schüler zurück lassend.

***



Draco Malfoy fühlte sich trotz des arroganten Grinsens, das er immer aufsetzte, wenn er seine wahren Emotionen verstecken wollte, unwohl in seiner Haut. Etwas stimmte nicht mit Professor Snape, und er hatte das beunruhigende Gefühl, dass er etwas damit zu tun hatte. Aber es war ein Traum gewesen, nichts als ein schrecklicher Traum, sagte er sich immer und immer wieder. Er würde nie im Leben seinem Hauslehrer so etwas antun, Verräter oder nicht. Er hatte zu viel Respekt vor dem Mann. Er würde ja nicht einmal einen der Unverzeihlichen Flüche auf Potter oder dieses nervtötende Schlammblut anwenden. Oder das Wiesel. Aber was war Snape dann zugestoßen? Vielleicht könnte er etwas erfahren, wenn er dem Direktor von seinem Traum erzählte? Aber wo war das Büro des Direktors überhaupt? Er war bisher nie dort gewesen. Er könnte natürlich seinem Vater eine Eule schicken. Lucius war sicherlich öfter in Dumbledores Büro gewesen als es diesem lieb war. Aber seinen Vater zu benachrichtigen barg immer die Gefahr, dass jemand sein Versteck finden könnte. Deshalb hatte er versprochen, dass er es nur in Notfällen tun würde. Sein Vater würde außerdem darauf bestehen zu erfahren, was er vom Direktor wollte, und irgendwie scheute Draco sich, seinem Vater von diesem speziellen Traum zu erzählen. Nein, er würde wohl einen der Lehrer fragen müssen, vorzugsweise einen, der nicht zu viele Fragen stellen würde. Dann kam wohl nur McGonagall in Betracht. Draco schluckte schwer. Er hatte es nie für möglich gehalten, jemals in eine Situation zu kommen, in der er sich freiwillig der gestrengen Hauslehrerin von Gryffindor anvertrauen würde, aber jetzt, wo Snape nicht da war ... Der Slytherin nahm all seinen Mut zusammen und ging hinüber zum Lehrertisch.

"Professor McGonagall", redete Draco seine Lehrerin für Verwandlung an, "ich muss mit dem Direktor sprechen. Es geht um Professor Snape."

"Folgen Sie mir, Mr. Malfoy", sagte die Hexe, erhob sich von ihrem Stuhl und verließ die Große Halle, den blonden Slytherin dicht auf ihren Fersen. Das war ja viel einfacher als er gedacht hatte, keine einzige Frage, nicht einmal ein strenger, forschender Blick. Merkwürdig. Nahm man die rot geränderten Augen hinzu, könnte man fast denken, dass McGonagall ehrlich besorgt um Professor Snape war, trotz der notorischen Hausrivalitäten, dachte Draco, während er der flott voraus gehenden Hexe folgte.

Als sie vor der Statue ankamen, die Dumbledores Reich bewachte, sprach McGonagall das Passwort: "Marzipanbrot." Die Statue sprang auf die Seite, und sie betraten die sich drehende Wendeltreppe. Sie fanden Dumbledore vor dem Fenster stehend und in den trüben Novemberhimmel blickend. McGonagall räusperte sich.

"Direktor, Mr. Malfoy möchte mit Ihnen sprechen." Dumbledore drehte sich langsam um, seufzte, und bedeutete seinem Besucher Platz zu nehmen.

"Wie kann ich Ihnen behilflich sein, Mr. Malfoy?" Draco schluckte nervös, dann schaute er entschlossen auf und blickte in die über die halbmondförmige Brille hervor lugenden Augen des Direktors.

"Vor ein paar Nächten hatte ich einen Traum von Professor Snape, Sir. Es war schrecklich." Er schauderte, dann erzählte er die ganze Geschichte, wie er in der Gestalt von Harry Potter den Professor in den Verbotenen Wald gelockt und ihn mit dem Cruciatus gequält hatte, von Pettigrew, der Snapes Kniescheiben zerschmetterte, und von Umbridge und den Schlangen und wie er schreiend und schwitzend und sich total elend fühlend aufgewacht war. Er hatte es gerade noch rechtzeitig ins Badezimmer geschafft, bevor er sich erbrechen musste.

"Ich weiss, das klingt alles ziemlich verdreht", schloss er seine Erzählung, "und in meiner Erinnerung ist alles eher vage, und vielleicht sollte ich das ganze einfach vergessen, aber - Sir, was ist mit Professor Snape passiert?", platzte er schließlich heraus.

"Wir wissen es nicht, Draco. Und obwohl ich glauben möchte, dass, was Sie mir gerade erzählt haben, nur ein schrecklicher Alptraum war, so habe ich doch ein ungutes Gefühl dabei." Dumbledore seufzte. "Mr. Malfoy, würden Sie mir bitte Ihren Zauberstab geben. Sie bekommen ihn umgehend wieder zurück", fügte er hinzu, als er den abwehrenden Ausdruck in Dracos Augen sah. Zögerlich reichte der blonde Junge seinen eleganten, schlanken Zauberstab herüber. Dumbledore zog seinen eigenen hervor und tippte damit sachte gegen Dracos. "Priori Incantatem."

Dracos Augen weiteten sich, als er die Bilder sah, die aus seinem Zauberstab hervor schwebten, Bilder, die seine schlimmsten Befürchtungen bestätigten. Jemand hatte den Cruciatus damit ausgeführt. An Professor Snape.

"Direktor", stotterte er, "ich war das nicht! Ich würde niemals ... Sie müssen mir glauben, ich habe das nicht getan, ich schwöre!" Tränen glitzerten in Dracos Augen. "Ich würde Professor Snape niemals so etwas antun ... es kann nicht ich gewesen sei, bitte", schluchzte er fast.

"Ich glaube Ihnen, Draco", sagte Dumbledore ruhig, "aber dies ist eine sehr ernste Angelegenheit. Natürlich ist es nicht ganz ausgeschlossen, dass jemand Ihren Zauberstab gestohlen haben könnte, um dies Verbrechen zu begehen. Aber wie ist dann Ihr Traum, oder eher Ihre Vision, zu erklären?" Der Direktor beugte sich vor und kramte in einer der Schreibtischschubladen. Dann hielt er Draco ein kleines Glasfläschchen mit einer schmutzig-grünen Flüssigkeit entgegen. "Bitte trinken Sie das, die ganze Phiole. Es dient dazu, die Restspuren jeglicher Magie, die während der letzten Tage auf Sie angewendet wurde, zu verstärken. Und mit diesem kleinen Gerät", er griff nach dem Schwarzmagie-Ticker, "können wir genau bestimmen, welche Zauber oder Flüche benutzt wurden."

Draco schluckte die Flüssigkeit und verzog das Gesicht. Es schmeckte ekelhaft. Das metronomartige Instrument, das Dumbledore ihm gezeigt hatte, tickte zuerst langsam und regelmäßig, aber dann nahm das Geräusch an Geschwindigkeit zu, bis schließlich der Zeiger wie verrückt hin und her schnellte. Plötzlich stand er vollständig still.

"Wie ich befürchtet hatte", murmelte der Direktor. Draco schaute sich den Ticker näher an und sah in seinem Sockel eine kleine Skala, die mit winzigen goldenen Buchstaben beschriftet war. Das kürzere Ende des Zeigers wies auf eines der Wörter: Imperio.

"Es war kein Traum, Draco. Sie haben unter dem Einfluss des Imperio-Fluches gehandelt", sagte Dumbledore traurig. "Was Professor Snape zugestoßen ist, war nicht Ihre Schuld, denken Sie daran. Sie dürfen sich keine Vorwürfe machen. Aber bitte behalten Sie immer im Kopf, was es wirklich bedeutet, ein ergebener Todesser zu sein. Diese brauchen nicht unter den Imperio-Fluch gestellt zu werden, um zu foltern und zu töten."

"Aber Albus!", unterbrach McGonagall. "Wie ist das möglich? Es würde bedeuten, dass Todesser in der Schule waren, oder wenigstens ein Todesser, der den Fluch auf Mr. Malfoy geworfen hat!"

"Nicht unbedingt, Minerva. Es gibt eine weitere Möglichkeit. Imperio-Trank. Süßigkeiten oder Kuchen können damit versetzt werden. Sie bekommen doch häufig Süßigkeiten von zu Hause geschickt, Draco, nicht wahr? "Der Junge nickte und dachte dabei an den köstlichen Mandelkuchen, der im letzten Paket gewesen war. Sein absoluter Lieblingskuchen. Er hatte ihn nicht einmal mit Crabbe und Goyle geteilt, wie er es sonst immer tat.

"Severus hat den Trank erfunden", erzählte der Direktor weiter, "als eine Art Eintrittskarte zurück in die Todesserriege, ein Geschenk für Voldemort, um seine Treue zu beweisen. Tom hatte schon immer einen ziemlich verdrehten Sinn für Ironie." Erneut seufzte er. "Sie sind in Zukunft besser vorsichtig mit allem Eßbaren, das Sie per Eule geschickt bekommen, Draco. Am besten bringen Sie es hierher und lassen es mich auf Dunkle Magie untersuchen."

"Aber Professor Dumbledore, warum hat der Dunkle Lord mich so über den grünen Klee gelobt, wenn er doch wusste, dass ich nicht aus freien Stücken gehandelt habe?", fragte Draco, der sich schließlich wieder gesammelt hatte. "Das ergibt keinen Sinn!"

"Nein, nicht wirklich. Aber man kann nie wissen, was für dunkle Pläne hinter Voldemorts Machenschaften stecken", gab Dumbledore zu bedenken. "Wie auch immer, wir werden dieses Problem jetzt wohl kaum lösen. Es war richtig von Ihnen zu mir zu kommen, Draco. Aber jetzt sollten Sie eigentlich im Unterricht sein, nicht wahr?"

Draco nickte düster. Wie sollte er sich auf Geschichte der Zauberei konzentrieren, wenn alles, woran er denken konnte, Professor Snape war und was er ihm angetan hatte, Imperio hin oder her. Er wischte zornig die Tränen weg, die erneut in seine Augen getreten waren. Sie würden Professor Snape nie wiedersehen, dafür würde der Dunkle Lord zweifellos sorgen. Es war nicht richtig. Er hatte das nicht verdient. Niemand verdiente so etwas.

"Professor Dumbledore, können Sie Professor Snape nicht retten? Bitte!", schluchzte er plötzlich auf, während Tränen in seine Augen schossen und seine Sicht verschwimmen ließen.

"Wir werden alles tun, was in unserer Macht steht, um Professor Snape ausfindig zu machen, das verspreche ich. Aber es wird nicht einfach sein." Dumbledores Blick schweifte zum Fenster zurück. Nein, es würde nicht einfach werden. Sie mussten umgehend ein Ordenstreffen einberufen, um alle Mitglieder zu warnen. Wenn es Voldemort gelang, Severus zu brechen und ihn zum Reden zu bringen, würden sie alle in großer Gefahr schweben. Und mit Umbridge als neuer Todesserin ... Alle ihre Aktivitäten im Ministerium mussten unbedingt eingehend beobachtet werden, außerdem mussten die bereits bekannten Todesser weiterhin beschattet werden, die Bemühungen um die Zusammenarbeit mit den Riesen und Werwölfen mussten intensiviert und internationale Bündnisse geschmiedet werden, sie mussten sich selbst und die Schule schützen, und natürlich besonders Harry Potter, den einzigen, der Voldemort besiegen konnte. Es gab so viel zu tun, und nun, wo sie ihren Spion verloren hatten, würden all diese Aufgaben noch schwieriger und gefährlicher werden. Und sie waren so wenige, viel zu wenige. Wie sollten sie jetzt auch noch nach Severus suchen? Sie hatten einfach nicht die Mittel und Kräfte dafür. Ohne eine glückliche Wendung des Schicksals würden sie nicht viel für ihn tun können, obgleich der Gedanke sein Herz bluten ließ.

"Kommen Sie, Draco." McGonagall reichte dem Slytherin ein Taschentuch. "Wir lassen den Direktor jetzt besser alleine. Es wird sich ein Weg finden, wie wir Professor Snape helfen können. Wir werden alle unser Bestes tun, das kann ich Ihnen versichern. Soll ich Sie zum Unterricht begleiten?"


 

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