Fern der Heimat

 

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Kapitel 3: Der erste Schultag

 


Obwohl er sein Zimmer nicht verlassen hatte, waren die letzten Wochen für Harry wie im Fluge vergangen. Er hatte seit Hermines Besuch seine Tage und einen Großteil der Nächte damit verbracht das Zaubern ohne Zauberstab zu üben. Doch obwohl er sich die aller größte Mühe gegeben hatte, hatte er es bis jetzt noch nicht geschafft.
Seufzend legte er das Buch zur Seite. Irgendwann, da war er sich ganz sicher, würde er es lernen. Er musste es einfach schaffen.
Harry erhob sich von seinem Bett und streckte seine steifen Knochen. Die vergangenen Stunden hatte er völlig reglos auf seinem Bett gelegen und intensiv gelesen. Nun musste er sich allerdings beeilen. Tante Petunia hatte bereits vor gut einer halben Stunde an seine Tür getrommelt und ihm gesagt, er solle gefälligst seine Koffer packen.
Morgen war der erste Schultag, und Onkel Vernon hatte beschlossen Harry schon heute Nachmittag nach ‚St. Brutus' zu bringen.
Harry hatte keine Vorstellung davon, was ihn in dieser Schule erwarten würde, aber er hatte ein ziemlich flaues Gefühl in der Magengegend. Wenn nur die Hälfte von dem wahr war, was Onkel Vernon in den letzten Jahren über ‚St. Brutus' gesagt hatte, dann musste es die Hölle auf Erden sein.
Missmutig begann Harry seine wenigen Habseligkeiten in einen Rucksack zu packen. Kleidung musste er nicht mit nach ‚St. Brutus' nehmen. Das Sicherheitszentrum stellte den Schülern nach ihrer Ankunft alle nötigen Sachen zur Verfügung. Bereits nach wenigen Minuten war er fertig. Es gab nicht viel, was er mitnehmen wollte.
Hedwig hüpfte währenddessen ungeduldig in ihrem Käfig auf und ab und spannte die Flügel. Harry ging zum Käfig seiner Eule und öffnete die Tür.
"Nein, Hedwig, wir fahren nicht nach Hogwarts. Aber du wirst jetzt einen kleinen Ausflug machen. Flieg zu Ron und bleib bei ihm. Er wird sich um dich kümmern."
Hedwig legte den Kopf schief und blickte Harry fragend an. Harry versuchte den Vorwurf im Blick seiner Eule zu ignorieren und griff nach einem Brief, der neben dem Käfig des Vogels lag.
Wortlos band er den Brief an das Bein der Eule. Hedwig schuhute pikiert. Harry strich seiner Eule liebevoll über das weiche Gefieder.
"Es tut mir leid, Hedwig", sagte er leise, "Bei Ron wird es dir gut gehen. Bring ihm einfach diesen Brief, darin habe ich ihm alles erklärt."
Hedwig fiepte leise.
"Ich weiß nicht, wann wir uns wiedersehen", sagte Harry noch leiser. "Jetzt mach, dass du wegkommst."
Hedwig betrachtete Harry noch einen Moment prüfend, dann breitete sie ihre Flügel aus, erhob sich in die Luft und flog durch das geöffnete Fenster. Harry blickte ihr nach, bis sie am Horizont verschwunden war.
Dann wandte er sich niedergeschlagen wieder seinen Sachen zu. Nachdenklich nahm er das Buch von Hermine in die Hand und drehte es in den Händen. Konnte er es wagen dieses Buch mitzunehmen?
‚Nein!', entschied er nach kurzem Überlegen. Er wollte auf alle Fälle vermeiden, dass irgendjemand herausfand, was er war. Traurig legte er das Buch in das Geheimfach unter dem losen Dielenbrett. Nun würde er erst in den nächsten Sommerferien die Chance haben endlich das Zaubern ohne Zauberstab zu lernen.
In diesem Moment wurde Harrys Tür aufgerissen und Onkel Vernon betrat den Raum. Harry rückte schnell das lose Brett zurecht und sprang auf.
"Bist du soweit?", knurrte Onkel Vernon. Harry nickte stumm.
"Dann nimm deinen Kram und komm endlich", sagte Onkel Vernon.
Ein leichtes Lächeln machte sich auf seinem Gesicht breit.
Harry schulterte seinen Rucksack und folgte seinem Onkel die Treppe hinunter. An der Tür stand Tante Petunia. "Jetzt werden sie dir endlich Disziplin beibringen", sagte sie spitz, als Harry an ihr vorbeiging.
Sie hielt es scheinbar nicht für nötig ihm ‚Auf Wiedersehen' zu sagen.
Harry antwortete nicht, sondern folgte Onkel Vernon zum Auto, ohne sich noch einmal umzudrehen. Er ließ hier nichts zurück, dem er nachtrauern würde, außer vielleicht seinen Zauberbüchern, die sicher in seinem Zimmer versteckt waren.
Während der zweistündigen Fahrt sprachen weder Harry noch Onkel Vernon ein Wort.
Als sie schließlich vor dem großen Metalltor von ‚St. Brutus' standen, sagte Onkel Vernon vergnügt: "So, da wären wir."
Harry antwortete nicht. Schweigend blickte er aus dem Fenster. Vor ihnen war ein riesiges Eisentor, daneben befand sich ein Pförtnerhäuschen. An der hohen Backsteinmauer, die das gesamte Gelände umgab, war ein kupfernes Schild angebracht, worauf in großen Lettern zu lesen war:

St. Brutus Sicherheitszentrum für unheilbar kriminelle Jungen
Unser Motto:
Disziplin durch Härte'



Onkel Vernon fuhr bis an das Pförtnerhäuschen und sprach mit dem Wachmann, der dort stand. Kurz darauf öffnete dieser das Tor und sie fuhren hindurch, auf das Gelände von ‚St. Brutus'.
Erst jetzt konnte Harry das Schulgebäude selbst sehen. Es war ein riesiger, steriler Betonklotz. Die Fenster waren allesamt vergittert. Der Hof vor dem Gebäude war komplett gepflastert. Es gab nirgendwo auch nur einen grünen Grashalm, geschweige denn einen Busch oder Baum.
So hatte Harry sich immer ein Muggel-Gefängnis vorgestellt. Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken.
Onkel Vernon fuhr auf dem Parkplatz neben dem Eingang und parkte den Wagen. "So, dann lass uns mal reingehen", sagte er und verließ fröhlich pfeifend das Auto.
Harry nahm seinen Rucksack und folgte seinem Onkel. Er hatte das Gefühl, als wären seine Beine aus Blei. Jeder Schritt war ihm eine Qual.
Am Eingang der Schule stand ein uniformierter Wachmann. "Kann ich Ihnen helfen?", fragte er Onkel Vernon freundlich. Dann wandte er seinen Blick zu Harry und seine Gesichtszüge verhärteten sich. Finster musterte er den Jungen.
"Guten Tag", begrüßte Onkel Vernon den Wachmann. "Wir wollen zu Mr. Lektor, dem Direktor. Mein Neffe hier ist ein neuer Schüler."
"Folgen Sie mir bitte", sagte der Wachmann geschäftsmäßig und führte Onkel Vernon und Harry in das Gebäude.
Harry blickte sich neugierig um, als sie durch die sterilen, kalten Gänge gingen. Nach etwa fünfzig Metern hielt der Wachmann an und wandte sich zu den Besuchern um.
"Gib mir deine Tasche", blaffte er Harry an.
"Was? Warum?", fragte Harry verwirrt.
"Das ist hier Vorschrift", knurrte der Wachmann, "Jede Tasche wird aus Sicherheitsgründen durchsucht. Außerdem hat niemand gesagt, dass du reden darfst."
Bei diesen Worten zog er seinen Schlagstock aus dem Gürtel und ließ ihn drohend vor Harrys Gesicht kreisen.
"Sehr vernünftig", sagte Onkel Vernon fröhlich und strahlte den Wachmann an. Harry starrte den Wachmann ungläubig an und setzte langsam seinen Rucksack ab.
Sobald er den Rucksack abgesetzt hatte, riss der Wachmann ihn Harry aus den Händen und warf ihn achtlos in eine Art Asservatenkammer. Dann gingen sie weiter.
Einige Minuten später kamen sie durch einen lagen Korridor mit unzähligen, gleichen Türen. In der Mitte der Türen waren vergitterte Fenster, durch die man in die Räume blicken konnte.
Der Wachmann führte Onkel Vernon und Harry zu einer der Türen und öffnete sie. In dem langgezogenen Raum standen etwa fünfzehn Eisenbetten an den Wänden, dazwischen war jeweils ein niedriger Schrank.
Am Ende des Raums stand auf einem Podest ein großer Schreibtisch mit einem Stuhl. "Das ist einer der Schlafräume", erklärte der Wachmann Onkel Vernon. "Nachts hält immer einer von uns Wache, denn in den Schlafräumen herrscht absolutes Redeverbot, und glauben Sie mir, wir sorgen schon dafür, dass das auch eingehalten wird."
Bei diesen Worten grinste er selbstgefällig.
"Das gefällt mir", sagte Onkel Vernon erfreut. Seine Laune schien von Minute zu Minute zu steigen. Harry fragte sich allmählich, wo er hier eigentlich gelandet war. War das hier ein Hochsicherheitsgefängnis?
Sie gingen weiter, bis sie schließlich eine Tür mit der Aufschrift ‚Hannibal Lektor, Direktor' erreichten.
"Warten Sie einen Moment", sagte der Wachmann und öffnete die Tür. Er ging durch das leere Vorzimmer und klopfte an die Tür, die sich dahinter befand.
Kurz darauf öffnete sich die Tür einen Spalt breit und der Wachmann sprach mit einem Mann, den Harry nicht sehen konnte.
Dann kam der Wachmann zurück und sagte zu Onkel Vernon: "Folgen Sie mir bitte. Sie müssen entschuldigen, aber da der Unterricht erst morgen beginnt, ist unsere Sekretärin noch im Urlaub."
Der Wachmann führte Onkel Vernon durch das Vorzimmer in das Büro von Mr. Lektor. Harry folgte ihnen. Als er ebenfalls das Büro betreten wollte drehte der Wachmann sich blitzschnell um und packte Harry am Kragen.
"Oh nein, Freundchen, du wirst schön hier warten", blaffte er ihn an. Dann zog er Harry mit sich und stieß ihn auf einen Stuhl, der an der Wand des Vorzimmers stand.
Harry starrte den Wachmann ärgerlich an, war aber klug genug nichts zu sagen. Als der Wachmann merkte, dass Harry sich nicht zur Wehr setzte, drehte er sich enttäuscht um und verließ das Vorzimmer.
Zu Harrys großer Freude hatte der Mann jedoch vergessen die Tür zum Büro des Direktors zu schließen, und so konnte Harry hören, was dort gesprochen wurde.
"Wie sagten Sie, war Ihr Name?", fragte der Direktor Onkel Vernon gerade. Er hatte eine schnarrende, unfreundliche Stimme. Harry beugte sich auf seinem Stuhl nach vorne, um den Mann im Nachbarbüro sehen zu können.
Mr. Lektor war Mitte Fünfzig, hatte kurzes, straff zurückgekämmtes, graues Haar und einen stählernen Blick. Er stand wie ein Soldat beim Appell hinter seinem Schreibtisch. An der Wand neben ihm hingen zu Harrys Entsetzen mehrere Rohrstöcke.
"Mein Name ist Vernon Dursley", antwortete Onkel Vernon dem Direktor, "Ich bringe meinen Neffen Harry Potter. Ich habe Ihnen vor einigen Wochen eine Anmeldung gefaxt."
"Potter?", fragte der Direktor in militärischem Befehlston, "An diesen Namen kann ich mich nicht erinnern. Warten Sie einen Moment, ich werde zur Sicherheit nachsehen."
Mit diesen Worten verschwand er für einen Moment aus Harrys Blickfeld.
Kurz darauf stand er wieder hinter seinem Schreibtisch und sagte: "Es tut mir leid, Mr. Dursley, aber mir liegt keine Anmeldung vor."
"Aber das ist unmöglich", empörte Onkel Vernon sich, "Ich habe Ihnen die Anmeldung persönlich zugefaxt."
"Ich bedaure Mr. Dursley, aber bei mir ist nichts angekommen", beharrte der Direktor.
"Na ja", sagte Onkel Vernon schulterzuckend, "dann werde ich meinen Neffen einfach jetzt anmelden."
"Es tut mir leid, Mr. Dursley, aber all unsere Klassen sind voll, wir können für das kommende Schuljahr keine Schüler mehr aufnehmen", antwortete der Direktor.
Harrys Herz machte einen kleinen Sprung. Diese Worte des Direktors waren Musik in seinen Ohren.
"Aber was soll ich denn jetzt mit dem Jungen machen?", fragte Onkel Vernon entsetzt.
"Sie werden ihn wieder mitnehmen müssen", sagte der Direktor ungerührt, "aber wenn Sie möchten, kann ich ihn schon jetzt für das nächste Schuljahr vormerken."
"Und ob ich das möchte", knurrte Onkel Vernon säuerlich.
Kurz darauf kam Onkel Vernon wieder aus dem Büro. Er funkelte Harry wütend an, als ob dieser die Schuld dafür trug, dass sein Fax das ‚St. Brutus Sicherheitszentrum' nicht erreicht hatte.
Bevor er jedoch etwas zu Harry sagen konnte wurde die Tür zum Korridor geöffnet und der Wachmann kam wieder herein.
"Folgen Sie mir bitte", sagte er, "Ich werde Sie zum Ausgang begleiten."
"Komm mit", knurrte Onkel Vernon Harry an.
Gemeinsam folgten sie dem Wachmann durch die kalten Korridore zum Ausgang.
Als sie an der Asservatenkammer vorbei kamen, in die der Wachmann zuvor Harrys Rucksack geworfen hatte, blieb Harry stehen.
"Ich hätte gerne meinen Rucksack wieder", sagte er.
Der Wachmann, der bereits an der Kammer vorbei war, drehte sich überrascht um und starrte Harry an, als wäre er ein abscheuliches Insekt.
Er schien einen Moment zu überlegen, dann ging er jedoch in den kleinen Raum und kam kurz darauf mit Harrys Rucksack wieder heraus. Harry streckte die Hand nach seiner Tasche aus, doch bevor er sie entgegen nehmen konnte, warf der Wachmann ihm den Rucksack achtlos vor die Füße.
Ohne Harry weiter zu beachten drehte er sich um und ging weiter. Im Laufen murmelte er: "Der vorlaute Bengel hätte uns gerade noch gefehlt."
Als sie schließlich wieder an der frischen Luft waren, atmete Harry tief durch. Er konnte sein Glück noch gar nicht richtig fassen, so schnell wieder aus diesem bedrückenden Gebäude herausgekommen zu sein.
Onkel Vernon, dem Harrys Erleichterung nicht entgangen war, machte einen bedrohlichen Schritt auf ihn zu. Er packte ihn an seinem Shirt und zog ihn unsanft zu sich heran.
Als sein Gesicht ganz dicht vor Harrys war zischte er: "Freu dich nur nicht zu früh, Nichtsnutz, es braucht nicht unbedingt so ein Institut, um dir Manieren beizubringen."
Dann ließ er Harry wieder los und ging zu seinem Wagen. Auf der gesamten Heimfahrt sagte er kein einziges Wort.
Als sie wieder im Ligusterweg ankamen, war das Entsetzen bei Tante Petunia groß. Sie starrte Harry ungläubig an, als wäre er ein Geist, als er hinter Onkel Vernon das Haus betrat.
"Und was sollen wir jetzt mit ihm machen?", fragte sie Onkel Vernon, als wäre Harry überhaupt nicht da.
"Reg dich nicht auf, Liebes", versuchte Onkel Vernon seine Frau zu beruhigen, "dann geht er eben dieses Schuljahr auf die öffentliche Schule hier in der Stadt. Ich werde heute Nachmittag dort hingehen und alles klären."
"Und wenn sie ihn auch nicht nehmen?", fragte sie schrill.
Onkel Vernon zuckte mit den Achseln. "Das müssen sie, in Großbritannien herrscht Schulpflicht und das ist schließlich eine staatliche Schule."
"Dein Wort in Gottes Ohr", sagte Tante Petunia spitz, "dann werde ich jetzt ein paar alte Sachen von Dudley raussuchen und sie für diesen Schmarotzer hier färben. Bis morgen ist nicht mehr viel Zeit."
Dann drehte sie sich um und verschwand wieder in der Küche. "Nichts als Ärger mit diesem Bengel", murrte sie im Gehen leise vor sich hin.

***



Am nächsten Morgen betrat Severus die Muggel-Schule. Er hatte sehr schlechte Laune und machte sich nicht die Mühe dies zu verbergen. Er hatte sich schweren Herzens von seinem Umhang getrennt und trug eine schwarze Hose, ein schwarzes Hemd und seinen altmodischen, langen schwarzen Gehrock.
Er folgte der Beschilderung mit der Aufschrift Lehrerzimmer. Es wäre ihm lieber gewesen direkt in seinen zukünftigen Klassenraum zu gehen, aber Direktor Connery hatte darauf bestanden, Severus vor Unterrichtsbeginn seine neuen Kollegen vorzustellen.
Als er schließlich das Lehrerzimmer erreicht hatte, hielt er kurz inne und atmete einmal tief durch. Dann öffnete er mit einem Ruck die Tür. Augenblicklich verstummten die Gespräche in dem Raum. Alle Blicke waren auf Severus gerichtet.
"Ah, mein lieber Professor Snape", unterbrach Newton Connery die angespannte Stille und kam lächelnd auf Severus zu. "Schön, dass Sie da sind. Ich möchte Ihnen nun mein Lehrerkollegium vorstellen."
Nach und nach machte Direktor Connery Severus mit den anderen Lehrern vertraut, wobei Severus in den meisten Fällen auf eine Begrüßung seinerseits verzichtete, sondern nur kurz brummte, wenn ihm ein neuer Lehrer vorgestellt wurde.
"Das", stellte Newton Connery gerade den nächsten Lehrer vor, "ist unser Englischlehrer Mr. Joseph Waters."
Severus knurrte ein kurzes Hallo.
"Hallo Sev, Kumpel, ich darf Sie doch Sev nennen?", sprudelte Joseph Waters los, "nennen Sie mich einfach Joe, das machen alle."
"Ich ziehe Professor Snape vor, Mr. Waters", knurrte Severus ärgerlich.
"Ach, nur nicht so schüchtern, Sev", plapperte Joe unbekümmert weiter, "Sie werden sich schon bald bei uns einleben."
Zu Severus' Erleichterung wandte Direktor Connery sich bereits der nächsten Lehrerin zu.
"Das ist unsere Handarbeitslehrerin Miss Emily Singer."
Miss Singer war eine sehr korpulente, kleine Frau Ende Vierzig. Sie hatte kurze, dauergewellte Haare und ein rundes, rotes Gesicht.
"Hallo Professor", sagte sie schüchtern und streckte Severus lächelnd die Hand entgegen. In ihrem Blick war etwas, das Severus ganz und gar nicht gefiel.
"Wir hatten lange nicht mehr einen so attraktiven Mann unter uns", fügte Miss Singer mit adrettem Augenaufschlag hinzu. Severus verdrehte angewidert die Augen.
"Und das hier, Professor Snape", beendete Connery endlich die Vorstellungsrunde, "ist unsere Sport und Kunstlehrerin Miss Penny Tevion."
Miss Tevion war eine junge Frau ende Zwanzig, mit langen, seidigen blonden Haaren und einem zarten, mädchenhaften Gesicht.
Sie streckte Severus ihre Hand entgegen und sagte: "Herzlich Willkommen, Professor."
Severus konnte es nicht verhindern, dass er ebenfalls leicht lächelte. Er ergriff ihre Hand. "Sehr erfreut, Miss Tevion."
"So, nun aber genug der Vorstellung, die Schüler warten", sagte Newton Connery fröhlich.
"Darf ich Sie zu Ihrem neuen Klassenzimmer führen?", fragte Penny Tevion Severus lächelnd.
"Gerne", erwiderte dieser zu seiner eigenen Überraschung sofort.
Als sie gemeinsam das Lehrerzimmer verließen bemerkte Severus, dass Miss Singer ihrer jungen Kollegin ärgerlich hinterher starrte.

***



Einhundertfünfundfünzig. Hier war es also. Harry stand vor der geschlossenen Tür des Klassenraums und zögerte. Sehnsüchtig dachte er an Hogwarts. Was würde er dafür geben, in diesem Moment vor einem Klassenzimmer seiner alten Schule zu stehen. Selbst eine Zaubertrankstunde bei Snape würde er jetzt in Kauf nehmen, wenn er nur bei seinen Freunden sein konnte. Aber es nutzte nichts. Er war nun hier und musste das Beste daraus machen.
Ganz automatisch fuhr seine Hand an seinen Gürtel, die Stelle, an der er in Muggelkleidung meistens seinen Zauberstab versteckt hatte, aber seine Hand griff ins Leere. Warum hatte das Ministerium ihm seinen Zauberstab nicht gelassen? Ohne ihn fühlte er sich schutz- und wehrlos.
Harry öffnete vorsichtig die Tür. Augenblicklich verstummten die Gespräche der Schüler und alle Blicke wandten sich zu dem Neuankömmling. Neugierig musterten sie Harry, einige Mädchen kicherten, als sie Harry in seiner abgetragenen, ausgebeulten Schuluniform sahen.
"Schaut mal Jungs, ich glaub ich brech' ab, das ist ja der Lumpensammler, von dem ich euch letzten Sommer erzählt habe", hörte Harry eine Stimme aus dem Gewirr heraus.
Suchend blickte er sich um, und sein Blick fiel auf ein Gesicht, das ihm sehr bekannt vorkam.
Er brauchte einen Moment, bis ihm einfiel wer es war, doch dann fiel es ihm wie Schuppen von den Augen: es war Pierce Nolan. Dieser Junge war letzten Sommer zusammen mit Harry in der Sommerschule gewesen und war nicht gerade nett zu ihm gewesen. Wegen ihm hatte Harry einmal mehr Ärger mit dem Zaubereiministerium bekommen, weil Harry Pierce während eines Streits mit einem Juck-Fluch belegt hatte.
Pierces Freunde beäugten Harry belustigt und sagten etwas, das er aufgrund des Geräuschpegels nicht verstehen konnte. Harry fluchte innerlich. Warum in Merlins Namen hatte er von allen Schulen rund um Surrey ausgerechnet die erwischen müssen, auf die Pierce ging?
In diesem Moment öffnete sich erneut die Tür und ein Mann betrat den Raum. Er war Ende Dreißig, hatte halblanges, braunes Haar und einen Vollbart.
Als er Harry erblickte, lächelte er freundlich und sagte: "Ah, Sie müssen Harry Potter sein. Mein Name ist Hendrik Keating, ich bin Ihr Klassenlehrer. Herzlich Willkommen an unserer Schule." Harry begrüßte den Lehrer höflich.
"So, dann wollen wir mal anfangen", fuhr Mr. Keating fort, "Mr. Potter, dort in der zweiten Reihe neben Brenda ist noch ein Platz frei, setzen Sie sich doch erst einmal dort hin."
Harry nickte und setzte sich auf den angegebenen Platz. Das blonde Mädchen beäugte Harry abfällig. Harry versuchte sie so gut wie möglich zu ignorieren. Er war es gewohnt in der Welt der Muggel auf Ablehnung zu stoßen, so war es schon immer gewesen, auch wenn er sich nicht wirklich erklären konnte, woher diese Abneigung kam.
Mr. Keating ging zu seinem Tisch, stellte seine Tasche ab und begrüßte die Klasse. Dann verteilte er die Stundenpläne für das neue Schuljahr. Harry betrachtete seinen neuen Stundenplan gelangweilt. Die meisten Fächer kannte er nur vom Hörensagen, andere, so wie Englisch und Mathe hatte er zuletzt vor 5 Jahren gehabt, bevor er nach Hogwarts gegangen war.
Die Unterrichtsstunde von Mr. Keating verging schleppend langsam. Er unterrichtete Mathe, und Harry verstand nur Bahnhof, als der Lehrer von Gleichungen mit mehreren Unbekannten erzählte. Endlich klingelte es und die Stunde war beendet. Harry atmete erleichtert auf.
Er warf einen kurzen Blick auf seinen Stundenplan. Chemie war als nächstes dran, das konnte kaum schlimmer werden, als die vergangene Mathestunde, mit ihren unzähligen X-en und Ypsilons.
Niedergeschlagen folgte Harry seinen Mitschülern zum Chemie-Saal. Auf dem Weg dorthin beäugten die anderen Harry immer wieder neugierig.
Im Chemie-Saal war nur noch ein Platz neben einem dunkelhaarigen Mädchen in der dritten Reihe frei. Harry setzte sich und blickte gelangweilt auf den Tisch.
Nach ein paar Minuten sagte das dunkelhaarige Mädchen: "Hey, ich bin Sally, woher kommst du?"
Harry zögerte einen Moment, dann antwortete er: "Ich war früher auf einer Schule in Nordengland. Jetzt wohne ich bei meinem Onkel und meiner Tante."
"Was war das für eine Schule? Von Mathe hast du ja scheinbar gar keine Ahnung", fragte Sally weiter und grinste dabei schelmisch.
Harry überlegte einen Augenblick, dann sagte er: "Wir hatten auch nicht viel Mathe. Es war eher eine, nun, fachbezogene Schule."
Sally runzelte die Stirn. "Was für ein Fach?", fragte sie weiter.
Harry öffnete den Mund um etwas zu antworten, doch in diesem Moment wurde die Tür es Klassenraums abrupt aufgerissen und ein Mann, ganz in schwarz, betrat den Raum.
Sofort setzten sich alle Schüler auf ihre Plätze. Harry blickte nach vorne und erstarrte. Der Mann, der soeben den Raum betreten hatte, war kein geringerer als Professor Snape. Harry wurde augenblicklich übel. Was machte Snape hier in Surrey?
Severus baute sich drohend vor der Klasse auf und starrte die Schüler finster an. Harry versank fast unter seinem Tisch, um nicht von Snapes scharfen Augen entdeckt zu werden. Er hoffte inständig, dass der Lehrer ihn nicht bemerkte, auch wenn diese Hoffnung äußerst gering war.
"Mein Name ist Professor Snape", begann Severus ohne eine Begrüßung, "ich werde Sie die nächsten Wochen in Chemie unterrichten. Ich erwarte von Ihnen uneingeschränkte Mitarbeit."
Ein leises Murmeln ging durch die Klasse. Die meisten waren verwirrt von der ungewöhnlichen Erscheinung des neuen Lehrers.
"Ruhe!", zischte Snape drohend und das Murmeln erstarb abrupt.
Die Schüler blickten sich unsicher an. Solch einen Ton waren sie von ihren Lehrern nicht gewöhnt.
Pierce, der mit seinen Kumpanen in der letzten Reihe saß, stieß seinem Freund Alex in die Rippen und flüsterte: "Was ist das denn für ein Vogel?"
Alex blickte Pierce schulterzuckend an und flüsterte: "Da muss wohl heute irgendwo ein Nest sein."
Beide grinsten.
Während dieses kurzen Gespräches war Severus von den Beiden unbemerkt vor ihren Tisch getreten.
"Dürften wir wohl alle an Ihrem Gespräch teilhaben, Gentlemen?", fragte er leise.
Die beiden Jungen zuckten zusammen und starrten den Lehrer, der direkt vor ihnen stand, überrascht an.
"Nun?", fragte Snape provozierend.
"Äh, Entschuldigung, Sir", stammelte Alex eingeschüchtert.
Ein zufriedenes Lächeln umspielte Severus' Mund als er sich umdrehte und zu seinem Pult zurückkehrte. Pierce starrte seinen Freund ärgerlich an.
Als Severus das Pult erreicht hatte, setzte er sich, nahm das Klassenbuch zur Hand und begann die Anwesenheit der Schüler zu kontrollieren. Je weiter er mit dem Alphabet voran kam, desto kleiner wurde Harry auf seinem Platz. Sally warf ihm einen verwunderten Seitenblick zu.
"Nolan, Pierce", las Snape gerade vor.
"Hier", knurrte der Angesprochene kaum hörbar.
Snape blickte kurz von seinem Klassenbuch auf und sagte: "Ihren Namen werde ich mir merken, Mr. Nolan."
Dann kam er zum nächsten Namen und stockte. Sollte das etwa ein Zufall sein? Wenn ja, war er auf eine gewisse Weise sehr makaber.
"Potter, Harry", las er vor.
Niemand antwortete. Alle Blicke waren auf Harry gerichtet, der mittlerweile fast gänzlich unter seinem Tisch verschwunden war.
Snape folgte den Blicken der Schüler und sah sofort einen Haarschopf und eine Narbe, die er nur zu gut kannte. Das war einfach unmöglich! Es dauerte jedoch nur eine Sekunde, bis er sich wieder gefasst hatte.
Er stand auf und schritt langsam durch den Klassenraum, bis er vor Harrys Pult stand.
"Mr. Potter", sagte er in seinem gewohnt öligen Tonfall, "haben wir etwa unseren Namen vergessen?"
Die Mädchen begannen leise zu kichern.
"Nun", fuhr Snape fort und ignorierte die Geräusche rundum, "Ihre Klassenkameraden scheinen ihn besser zu kennen, als Sie."
Harry rappelte sich wieder auf, schwieg jedoch. Snape grinste breit. Er fixierte Harry einen Moment, dann drehte er sich um und ging nach vorne zur Tafel.
"Wie ich aus dem Klassenbuch entnommen habe, haben Sie sich im letzten Schuljahr mit der organischen Chemie befasst", begann Severus den Unterricht, "Wer von Ihnen kann mir sagen, wie Alkohol-Moleküle aufgebaut sind?"
Sofort waren fast alle Finger oben. Harry beobachtete seine neuen Mitschüler aus dem Augenwinkel. Sicher war das für sie eine leichte Frage, er jedoch hatte nicht die geringste Ahnung, was Snape genau wissen wollte.
Severus ließ seinen Blick einen Moment über die Klasse schweifen, dann sagte er: "Mr. Potter, geben Sie uns die Ehre und erklären uns den Aufbau eines Alkohols?"
Harry schluckte. Irgendwie hatte er das Gefühl eines leichten Déjà-vus. Hatte er nicht exakt diese Situation vor 5 Jahren in Hogwarts erlebt?
"Wir warten, Mr. Potter", riss Snape ihn in diesem Moment aus seinen Gedanken.
"Ich weiß es nicht, Sir", antwortete Harry leise. Severus grinste breit.
"Dann, Mr. Potter, können Sie uns vielleicht wenigstens sagen, wo genau der Siedepunkt von Ethanol liegt."
"Nein, Sir", antwortete Harry noch leiser.
Snape setzte ein triumphierendes Gesicht auf. Er genoss diesen Moment offensichtlich sehr.
Nach einer kurzen Pause antwortete er: "Damit Sie nicht dumm sterben, Potter: Alkohole enthalten in ihrem Molekül eine oder mehrere Sauerstoffverbindungen, sogenannte Hydroxyl-Gruppen und Ethanol hat einen Siedepunkt von exakt 78 Grad Celsius."
Snape machte erneut eine kurze Pause, dann fuhr er mit öliger Stimme fort: "Dies, Mr. Potter, gehört zu den primitivsten Grundlagen der Organik. Jeder Fünftklässer hätte diese Fragen beantworten können. Ich weigere mich zu glauben, dass Sie tatsächlich so dumm sind, wie Sie uns hier versuchen weis zu machen."
Wieder kicherten einige Schüler, Snape ignorierte sie jedoch. Er hatte sein Opfer gefunden.
"Sie werden nach der Stunde noch einen Moment hier bleiben, Potter", fuhr er lächelnd fort, "Immerhin ist Ihnen nach einigem Überlegen sogar Ihr Name wieder eingefallen, vielleicht können wir auch dem Rest Ihres Gedächtnisses auf die Sprünge helfen."
Harry schluckte. Er ahnte nichts Gutes. Der Rest der Stunde verging ähnlich langsam wie die Mathe-Stunde zuvor, aber wenigstens ließ Snape ihn jetzt in Ruhe. Als es schließlich klingelte packten alle Schüler rasch ihre Taschen und verließen eilig den Raum. Severus Snape hatte sie die ganze Stunde mit Fragen bombardiert, und alle wollten so schnell wie möglich aus seinem Einflussbereich.
Auch Harry packte seine Tasche. Vielleicht hatte Snape ihn ja schon wieder vergessen. Doch genau in dem Moment, als Harry aufstehen wollte sagte der Lehrer laut: "Mr. Potter, ich hoffe Sie denken noch an unser kleines Date?"
Harry seufzte. Wie hatte er allen Ernstes annehmen können, dass Snape vergessen könnte ihn fertig zu machen?
Als alle Schüler endlich den Raum verlassen hatten baute Severus sich drohend vor Harry auf. "Darf ich Fragen, Potter, was zum Teufel Sie hier machen?", fragte er den Jungen gereizt.
"Das gleiche könnte ich Sie fragen", antwortete Harry erregt.
Severus Snape starrte Harry einen Moment hasserfüllt an, dann fauchte er: "Zehn Punkt Abzug für Gryffindor, Potter."
Harry grinste breit. "Das können Sie hier wohl vergessen, Professor", sagte er triumphierend.
Severus fixierte Harry ärgerlich, dann wiederholte er seine Frage: "Also, Potter was machen Sie hier?"
Harry senkte betroffen den Blick.
"Das Zaubereiministerium hat angeordnet, dass ich zukünftig bei meinen Verwandten hier in Surrey wohnen soll", antwortete er leise, "jeglicher Kontakt zu Zauberern ist mir untersagt."
Ein selbstgefälliges Lächeln breitete sich über Snapes Gesicht aus.
"Ich für meinen Teil werde in wenigen Wochen nach Hogwarts zurückkehren. Und machen Sie sich keine Sorgen um Ihre Kontaktsperre. Sobald ich Surrey verlassen habe werde ich Sie nicht mehr behelligen. Ich wünsche Ihnen viel Vergnügen in der Muggelwelt, Potter."
Harry starrte Severus ärgerlich an und öffnete den Mund um ihm die Meinung zu sagen, doch Severus kam ihm zuvor.
"Sie können gehen, Potter", sagte er mit öliger Stimme und lächelte Harry kalt an.
Harry drehte sich um, nahm seine Tasche und verließ den Raum.
Der Rest des Schultages verlief ähnlich schleppend wie die ersten beiden Stunden. Als endlich die Glocke den Schulschluss verkündete, atmete Harry erleichtert auf. Wie sollte das nur weitergehen, wenn dies erst der erste Tag gewesen war?

 

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