Warnung: Für den Fall, daß Sie eher zu den sensiblen Gemütern gehören, sollte ich wohl an dieser Stelle eine gerechtfertigte Warnung anbringen. Dies wird kein schönes Kapitel werden. Es wird keine schneidenden Bemerkungen geben, keine witzigen, geistreichen Kommentare, keine intelligenten Erklärungen. Statt dessen wird es eine Menge an Grausamkeiten enthalten, Gewalt, Blutvergießen und Tod werden eine große Rolle spielen. Wenn Sie also nicht darauf vorbereitet sein sollten, dann sollten sie den folgenden Text besser nicht lesen.
Kapitel 4: Blaue Augen
Harry zwang seine Augen, sich von dem schmerzerfüllten Gesicht seines Lehrers abzuwenden und er richtete seine Aufmerksamkeit, wie die anderen auch, der Blase zu. Die unbeständigen Visionen flackerten von der dritten Dimension zurück zur zweiten, verloren an Farbe und Fokus und überlagerten sich. Dumbledore legte noch mehr Kraft in seinen Zauber, sein Hände hielt er zu Fäusten geballt, sein Gesicht aber war nach wie vor entspannt und ruhig. Harry hatte keinen Zweifel daran, dass der Direktor bereits zuvor die Gelegenheit gehabt hatte, den Spruch zu üben.
Ein leises Stöhnen entfuhr Snapes Lippen und plötzlich setzte der gewünschte Effekt ein. Fast wie im Kino. - Klarer Ton, klare Bilder, realistische Dimensionen. - Harry fühlte sich gegen seinen Willen gefangen genommen von der Szene, die sich jetzt vor seinen Augen abspielte.
Ein schwach beleuchteter Raum erschien vor ihnen. Tausende von Büchern in hohen Regalen reihten sich an den Wänden entlang auf und in der Mitte saßen zwei Figuren an einem Tisch.. Die größere ragte über der kleineren auf, die leise vor sich hin wimmerte. Harry versuchte sich auf die zwei Personen zu konzentrieren, versuchte, sich vorwärts zu bewegen, wie er es in dem Denkarium getan hatte, aber hier war nicht er derjenige, der das alles unter Kontrolle hatte und somit die Szene bestimmte. Er würde sich gedulden müssen, bis Dumbledore sich dafür entschied, sich das Ganze näher anzusehen.
Das Quietschen einer Tür war zu hören und eine leise Stimme sagte: "Komm zurück in die Küche, Severus. Du weißt doch, daß dein Vater es nicht mag, wenn du da drin bist, während sie arbeiten."
Das Gesicht einer Frau rückte ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Ein eher schmales Gesicht mit großen, blauen Augen, hohen Wangenknochen, einer sehr spitzen Nase und blassen Lippen. Glänzende rotbraune Locken umrahmten das irgendwie gequält wirkende Lächeln und ließen ihr Gesicht noch grauer aussehen, als es eigentlich war.
"Aber Mum, sie weint!" protestierte eine zitternde kleine Stimme.
Endlich erweiterte sich die Szene und zeigte das Paar an der Tür. Eine große, zerbrechlich wirkende Frau und ein schmächtiger kleiner Junge mit kurzem, schwarzen Haar. Die Frau, augenscheinlich Snapes Mutter, versuchte ihren Sohn wieder durch die offene Tür zu ziehen, weg von den anderen Beiden und wieder in den verborgenen Gang hinter ihr.
"Nein!" brüllte der Mann in der Mitte des Raumes, der Snapes Vater sein mußte und schlug mit der Hand auf den Tisch, direkt vor einer kleinen Person, die neben ihm kauerte. Der kleine Junge entkam dem unsteten Griff der Mutter und tat ein paar unsichere Schritte in Richtung der anderen Personen, seine Augen vor Furcht geweitet, seine Unterlippe zitternd. Er konnte kaum älter sein als vier.
"Wir haben das doch schon tausend Mal geübt und noch immer vergeigst du es! Bist du wirklich so bescheuert, oder findest du es einfach nur toll, mich zur Weißglut zu bringen und machst das hier mit Absicht?"
"Es tut mir leid, Vater." Die Stimme gehörte eindeutig einem Mädchen. Ein Gesicht erschien aus dem Gewirr schwarzer Locken, vom Weinen ganz gerötet. Zitternde Hände wischten über die nassen Spuren, die die Tränen auf ihren Wangen hinterlassen hatten. Sie wäre hübsch gewesen, wäre ihre Nase nicht eine Spur zu markant gewesen und ihre blauen Augen waren, nur einen Hauch, zu eng beieinander.
"Ich versuche es wirklich genau so zu machen, wie du es mir gezeigt hast, aber diese Übungen sind einfach zu schwer für mich."
"Zu schwer?" Die Stimme des Mannes hallte durch den hohen Raum und der kleine Junge neben der Tür bedeckte seine Ohren mit seinen kleinen Händen. Weder er noch seine Mutter wagten es, sich zu rühren.
"Zu schwer? Ich habe diese Sprüche bereits beherrscht, da war ich gerade mal halb so alt wie du es jetzt bist, weil ICH - MICH - WIRKLICH - ANGESTRENGT - HABE!"
Jedem Wort verlieh er Nachdruck, indem er mit seiner offenen Hand in das Gesicht des Mädchens schlug. Sie versuchte nicht einmal, sich vor den Schlägen zu schützen oder ihnen auszuweichen. Sie mochte vielleicht zehn oder elf Jahre alt sein, aber sie hatte bereits die Augen einer alten, müden Frau, die zu viel gesehen und zu viel gelitten hatte. Nach jedem Hieb senkte sie die Augen wieder auf das Buch vor sich.
"Vielleicht bin ich wirklich zu dumm, um es zu lernen. Vielleicht solltest du mich einfach aufgeben." Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.
Ihr Vater ließ sich wieder in den Stuhl neben ihr fallen und seufzte frustriert. Er stützte seinen Kopf auf seine rechte Hand, sein Ellbogen ruhte auf dem Tisch und studierte das Gesicht seiner Tochter mit hochgezogenen Augenbrauen. Schulterlanges, schwarzes Haar fiel ihm ins Gesicht und zwang ihn wie durch einen Vorhang zu blicken. Es schien ihn nicht weiter zu stören, denn er machte sich nicht einmal die Mühe, es sich aus dem Gesicht zu streichen. Seine Augen glitzerten unheilverkündend, sahen an einer langen, aber geraden Nase herunter, die ihm ein aristokratisches Aussehen verliehen. Er war genauso bleich wie seine Frau.
Plötzlich bemerkte er die zwei Gestalten an der Tür und richtete sich auf. Er gönnte seiner Tochter einen weiteren gehässigen Blick und flüsterte: "Ja, vielleicht sollte ich dich wirklich aufgeben. Oder vielleicht sollte ich es ein wenig deutlicher machen, was dieser Spruch bewirken soll."
Ungeduldig winkte er seine Frau und seinen Sohn zu sich heran und fügte laut hinzu: "Kommt hier herüber, ihr zwei. Eigentlich ist es euch nicht gestattet, hier zu sein, aber da ihr nun einmal da seid, könnt ihr uns ebensogut auch helfen."
Der kleine Junge hastete herüber zu seiner Schwester, die ihm ein warmes Lächeln schenkte, sobald er schlitternd vor ihr zum Stehen kam.
"Bist du in Ordnung, Sanna?" fragte er atemlos und streichelte ihr geschwollenes Gesicht mit seinen tapsigen, kleinen Fingern. Sie antwortete nicht, sondern zog ihn wortlos auf ihren Schoß und drückte ihn an sich, ihr Gesicht war in seinem Haarschopf verborgen.
"Susanna hat heute ein Problem damit sich zu konzentrieren", erklärte ihr Vater, als würde er zu einem großen Publikum reden. "Sie kann sich nicht darauf besinnen, was sie gerade tut, aus welchem Grund unser kleines Übungsobjekt heute gar keine Bewegung bekommt."
Er deutete auf den Tisch, wo ein ganz gewöhnlich aussehender Frosch hockte und sie gelangweilt mit seinen großen, hervorquellenden Augen ansah. Dann drehte er ihnen den Rücken zu um eine der mit vielen Büchern bedeckten Wände anzustarren. Der kleine Junge versuchte den Frosch zu streicheln, aber seine Schwester schob rasch seine Hand beiseite und blickte ihren Vater nervös an.
"Nun, ich habe mir überlegt, daß das Üben mit einem Frosch vielleicht einfach nicht interessant genug für unsere junge Lady hier ist. Vielleicht braucht sie einfach eine größere Herausforderung." Der Frosch wurde ungeduldig vom Tisch gefegt.
Er ergriff die Hand seiner Frau und zog sie zu sich, so daß sie nun vor dem Tisch stand. Dann drehte er sich herum und beugte sich hinunter, sein Gesicht nur ein paar Zentimeter von dem seiner Tochter entfernt. Sie drückte ihren kleinen Bruder nur noch fester an ihre Brust, so als ob sie versuchte, ihn vor diesen grausamen Augen zu beschützen.
"Deine Mutter und ich, wir werden nun demonstrieren, was dieser Spruch eigentlich überhaupt bewirken soll." Wie aus dem Nichts erschien sein Zauberstab in seiner Hand und seine Stimme klang erstaunlich schrill, als er "Imperio!" rief.
Als sein Zauberstab nach oben schoß und in einem steilen Winkel wieder nach unten schnellte, begann seine Frau, ihren Kopf auf die Tischplatte zu schlagen, immer und immer wieder, bis ihre blasse Haut aufgeplatzt war und Blut das sonst so weiße Gesicht herunter rann.
Die ganze Zeit lang hatte Susanna das Gesicht ihres Bruders an ihre Brust gedrückt und seine Ohren mit ihren Händen bedeckt, während sie selber mit offensichtlichem Widerwillen ihrer Mutter zusah.
"Danke, meine Liebes." Die Stimme ihres Vaters war nun wieder wie Seide, als er seine Hand ausstreckte um ein paar Haarsträhnen aus den Augen seiner Frau zu streifen und dabei achtlos Spuren frischen Blutes auf ihren Wangen hinterließ. Da lag eine merkwürdige Art von Befriedigung in seinen Augen und etwas, was beinahe an Zärtlichkeit erinnerte.
"So, nun bist du dran." Er drehte sich zu seinen Kindern herum und riß den kleinen Jungen mit einer einfachen, schnellen Bewegung aus den beschützenden Armen seiner Schwester. Als er ihn wieder vor dem Mädchen auf die Füße stellte, fuhr er mit seinen Fingern kurz durch das weiche Haar des Jungen und schenkte ihm ein zähneblitzendes Lächeln, das endete, noch bevor es seine Augen erreicht hatte.
"Ich denke mir, dein Bruder wird gerne dazu bereit sein, dir den selben Dienst zu erweisen, wie deine Mutter mir. Nein, nein, Severus, bleib wo du bist." Das Kind hatte versucht sich herumzudrehen, um einen Blick auf die Mutter zu werfen, aber sein Vater stellte sich schnell zwischen die beiden und schirmte seine Frau vor den fragenden Blicken seines Sohnes ab. Sie lächelte noch immer, wenn auch ein wenig geistesabwesend, und leckte etwas von dem Blut ab, das bis herunter auf ihre Oberlippe getropft war.
Snapes Vater sah seine Tochter erwartungsvoll an. "Nun, dann mal los. Nimm deinen Zauberstab - so ist es gut - richte ihn gerade auf deinen Bruder und dann - eins, zwei, drei..."
Sie rührte sich nicht. Ihr Zauberstab ruhte zitternd in ihrer Hand auf nichts und niemanden bestimmtes gerichtet. Stille Tränen rollten über ihr Gesicht, als sie ihr bestes tat, um den Jungen aufmunternd anzulächeln. Dann ließ sie langsam den Arm sinken und der Stab fiel klappernd zu Boden.
"Du dumme, erbärmliche, hirnlose, unnütze Ausgeburt einer Hexe!" Dieses Mal war es nicht seine flache Hand, sondern sie war geballt. Allerlei Beschimpfungen ausstoßend überschüttete er sein älteres Kind mit Schlägen und Tritten. Seine Hiebe waren blindlings und er zeigte nicht das geringste Anzeichen von Mitleid oder Erbarmen.
Als alles vorbei war, gab es kaum noch eine Ähnlichkeit zwischen dem Mädchen, das noch Minuten zuvor ihren Bruder beschützt hatte, und der leblosen, zusammengesunkenen Gestalt dort am Boden. Blut bedeckte den Fußboden, ebenso wie die Schuhe des Vaters und seine Hände. Ihr Gesicht war bis zur Unkenntlichkeit entstellt, abgesehen von ihren Augen. Diesen blauen Augen, die nur einen Hauch zu eng beieinander standen. Sie starrten unbeweglich an die Decke und noch immer quollen stille Tränen daraus hervor.
"Sanna?" fragte der kleine Junge vorsichtig und ging ein paar zögerliche Schritte in die Richtung ihres leblosen Körpers. "Sanna, geht es dir gut? Soll ich dir helfen?"
Er sank neben ihr nieder, seine Knie in einer Lache aus Blut, und berührte sie an der Schulter.
"Habe ich etwas falsch gemacht? Sanna, bitte, sei mir nicht böse. Ich werde es das nächste Mal bestimmt richtig machen. Wir können es doch noch einmal versuchen. Können wir doch, oder Vater?"
Er drehte sich gerade rechtzeitig um, um seinen Vater aus der Tür gehen zu sehen. Seine Mutter zog ihn hoch und versuchte ihn von dem toten Körper wegzuführen, der einmal seine Schwester gewesen war. Benommen stand er auf und folgte, machte kleine, besonnene Schritte, eindeutig tief in Gedanken versunken. Kurz bevor sie die Tür erreicht hatten, weiteten sich seine Augen und ein tonloses Aufschluchzen entwich seinem Kindermund. Er drehte sich auf dem Absatz um, rannte zurück und kauerte sich, heftig weinend, neben seine Schwester. Seine Stimme wurde lauter und immer lauter, als er sich in seinen Schmerz hineinsteigerte.
Harry spürte etwas Feuchtes an seiner Schulter. Als er sich umwandte sah er, daß Hermines Gesicht mit Tränen bedeckt war. Sie hielt beide Hände über den Mund gepresst, um ihr Schluchzen zu dämpfen, Tränen rannen ihr über die Hände, tropften auf ihre Knie - und auf Harry.
Er konnte sie verstehen. Er hatte ebenfalls einen dicken Kloß in der Kehle und seine Augen brannten. Ron schien ein wenig blasser als sonst und Ginny hatte ihr Gesicht an der Schulter ihres Bruders vergraben. Dies war eindeutig mehr, als das, worum sie gebeten hatten.
Tief in seinem Inneren, in einer kleinen Ecke, versteckt vor allen anderen, ballte Severus Snape seine Hände zu Fäusten und biß sich auf die Zunge, so fest, daß er sein eigenes Blut schmecken konnte. Er würde es nicht zulassen, daß sie mit ansahen, wie sein Vater ihn dazu zwang, das Loch am anderen Ende des Gartens zu graben. Er würde es nicht zulassen, daß jemand sah, wie man ihren Körper einfach in das Loch schmiß, wie den eines toten Tieres. Er würde es nicht zulassen, daß sie mit ansahen, wie die Erde langsam ihr Gesicht bedeckte, wie das Grab zugeschaufelt wurde und sie seinen Blicken für immer entschwand.
Er würde es nicht zulassen, daß sie es sahen.
Er würde es nicht zulassen...
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