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Kapitel 16: Lügen, Gehemnisse und Vereinbarungen

 



"Hör auf, dir auf die Lippe zu beißen", zischte Ron seiner jüngeren Schwester zu. Ginnys Züge wiesen keinerlei Anzeichen mehr auf, das ihr schlecht gewesen war. Ihre Wangen waren vor Aufregung gerötet und ihre Augen glitzerten.
"Wir wissen, was passieren wird. Snape wird ihnen folgen, versuchen in die Heulende Hütte zu kommen und rauszufinden, was es mit Lupin auf sich hat und Harrys Dad wird ihn in letzter Sekunde retten. Kein Grund sich Sorgen zu machen und kein Grund, sich die Lippen blutig zu beißen."
Hermine warf den Weasleys hinter sich einen zweifelnden Blick zu. Sie schien Rons "Kein-Grund-sich-Sorgen-zu-machen"-Konzept nicht zuzustimmen und Harry verstand warum. Auch er war nicht gerade scharf darauf, wieder mit anzusehen, wie sich Remus Lupin in einen Werwolf verwandelte. Einmal, nein, genaugenommen zweimal, wenn man die Sache mit dem Zeitumkehrer mitrechnete, war mehr als genug gewesen. Die Erinnerung daran gab ihm auch heute noch ein paar ziemlich beeindruckende Ideen für einen ausgewachsenen Alptraum. Auf der anderen Seite würde er seinen Vater sehen, wie er das tat, was ihm angeblich Snapes immerwährenden Haß eingebracht hatte. Oder etwa doch nicht?
Snape hatte seinen Kopf leicht gegen die Wand gelehnt. Seine Gesichtsmuskulatur verkrampfte sich leicht und seine Hände waren zu Fäusten geballt. Dumbledore schien nicht weniger angespannt und sein Atem klang irgendwie gequält.
Die Bilder in der Blase flogen in rasender Geschwindigkeit vorüber, erlaubten den Betrachtern, den Unwillkommenen genauso wie den Unentdeckten, nur kurze Einblicke. Der junge Snape eilte durch den Garten, auf die Peitschende Weide zu. Ein wildes Rütteln von Zweigen. Der Spalt zwischen den Wurzeln, durch den man ein schreckliches Heulen vernehmen konnte. Es klang wie ein Mensch, der unsägliche Schmerzen litt. James Potter, der Snape an der Schulter zerrte und ihn anschrie, versuchte ihn zurück zu ziehen, hoch, wieder hinaus durch die Öffnung. Sirius Black über die Wiese rennend. Ein wahnwitziger Kampf der beiden Gryffindors.

Dumbledores Büro kam in Sicht. Drei Jungen standen vor dem mit Papieren, leeren Schokofroschschachteln und Bilderrahmen übersäten Schreibtisch. James sah Sirius noch immer zornig an, der wiederum Snape Beschimpfungen zu zischte. Der Slytherin blutete aus einer Wunde über der linken Augenbraue und sah sogar noch blasser aus als gewöhnlich.
Albus Dumbledore hörte auf sich mit Minerva McGonagall zu unterhalten, letztere verließ mit einem wütenden Blick auf die zwei Schüler ihres Hauses den Raum, und ließ sich langsam hinter seinem chaotischen Schreibtisch nieder. Er bot den drei Jungen nicht an sich ebenfalls zu setzen.
"Dieser Vorfall ist alles andere als erfreulich", begann er und ließ seinen Blick über die drei Schüler vor ihm streifen. Am längsten verweilte er bei Sirius Black.
"Ich habe mich in dem Glauben befunden, daß wir die größtmöglichen Sicherheitsmaßnahmen getroffen haben, um Mr. Lupin zu schützen - und ebenso eure Mitschüler. Sag mir, Kind", er richtete seine funkelnden blauen Augen auf Snape, der seinem Blick mit so viel Ruhe, wie er aufbringen konnte erwiderte, "wie hast du herausgefunden, wie man an der Peitschenden Weide vorbei kommt?"
Snapes Augen huschten herüber zu Black. Der Gryffindor wich seinem Blick aus, ein triumphierendes Lächeln umspielte seine Lippen. James sah den kleineren Jungen flehend an. Snape schien für einen Moment lang nachzudenken, dann richtete er sich ganz grade auf und antwortete: "Black hat es mir verraten, Sir."
Dumbledore nickte ernst, wandte seine Aufmerksamkeit dem beschuldigten Gryffindor zu und erkundigte sich: "Ist das wahr, Mr. Black?"
Sirius schnaufte verächtlich.
"Selbstverständlich nicht, Sir. Wir haben versprochen, daß wir es keiner Menschenseele erzählen werden. Abgesehen davon würde ich einem Slytherin nicht einmal die Uhrzeit verraten."


Harry war entsetzt darüber, mit welcher Leichtigkeit sein Pate Dumbledore ins Gesicht log und ebenso darüber, was für eine Abscheu er einem anderen Schüler gegenüber an den Tag legte. Einen Moment lang, erinnerte ihn Sirius an Draco Malfoy, der ebensowenig Skrupel hatte, seine Abneigung gegenüber Harry auszudrücken, egal wer sich gerade in der Nähe befand, ob Lehrer oder Schüler.


Die Falte zwischen Dumbledores Brauen vertiefte sich.
"Ich schätze ein solches Benehmen nicht, Mr. Black. Loyalität seinem Haus gegenüber ist nichts schlechtes, Verachtung gegenüber einem anderen Haus ist schlecht. Ich werde sicherstellen, dass Ihr Hauslehrer ein sehr langes Gespräch mit Ihnen führen wird."
Er richtete seine Aufmerksamkeit auf James Potter, der bis jetzt ungewöhnlich ruhig gewesen war.
"Mr. Potter, können Sie vielleicht Licht in diese Sache bringen?"
James sah herunter auf seine Schuhspitzen.
"Ich habe gesehen, wie Severus auf den Baum zugegangen ist und dabei nach einem langen Ast gesucht hat. Das hat mir den Eindruck vermittelt, daß er genau darüber Bescheid wüßte, wie man den Abwehrmechanismus der Weide ausschaltet. Ich bin so schnell ich konnte dahin gerannt, aber er war bereits durch die Öffnung verschwunden. Alles was ich machen konnte war, ihn mit Gewalt wieder herauszuziehen."
Er sah auf den finster blickenden Snape.
"Ich wollte nicht, daß du dir den Kopf an dem Ast einhaust. Tschuldigung."
Snape antwortete nicht, sondern wischte sich etwas Blut von seiner aufgeplatzten Schläfe.
"Und wie paßt Mr. Black in dieses Bild?" forschte Dumbledore weiter.
James hatte keine Möglichkeit etwas zu antworten, denn Sirius ließ verlauten: Ich habe die zwei gesehen und logischerweise angenommen, das Schnie... Severus James angegriffen hat. Ich wollte lediglich meinem Freund zur Hilfe kommen."
Dumbledore sah langsam von einem Jungen auf den anderen. Sirius lächelte noch immer sein verschwörerisches Lächeln. James wagte es nicht, dem Schulleiter in die Augen zu sehen. Snape blickte den Direktor flehentlich an, seine Finger spielten nervös mit dem Saum seines Mantels. Er verging offenbar danach, etwas zu sagen, wagte es aber nicht, da der Schulleiter ihn nicht fragte. Letztendlich nickte Dumbledore.
"Sehr gut. Mr. Black, Mr. Potter, bitte melden Sie sich umgehend bei Professor McGonagall; sie erwartet Sie bereits in ihrem Büro. Und in Ihrem Falle, Mr. Snape..."
"Sie können ihn doch nicht einfach so gehen lassen", merkte Sirius auf. "Er weiß über Remus Bescheid. Er wird es der ganzen Schule erzählen! Sie müssen sein Gedächtnis verändern oder sonst was. Sie müssen..."
"Ich danke Ihnen Mr. Black, ich weiß sehr gut, was ich mit Ihrem Klassenkameraden anzufangen habe. Ich denke, wir können ihm vertrauen, daß er das Geheimnis ebenso für sich behält, wie jeder hier von uns."
Er winkte ungeduldig Richtung Tür. Als die beiden Gryffindors das Büro verlassen hatten, erhob sich der Schulleiter, zeichnete einen Stuhl in die Luft, einen weichen, grünen Sessel mit etwas abgewetzter Sitzfläche und bedeutete Snape sich zu setzen. Als das Kind sich nervös niederließ berührte der alte Zauberer die aufgeschlagenen Braue leicht mit der Spitze seines Zauberstabes und murmelte etwas unverständliches vor sich hin. Snape schrak, plötzlich ängstlich, zurück, doch alles was passierte war, daß die Wunde aufhörte zu bluten und sich eine neue Hautschicht über die beschädigte Stelle legt. Dumbledore zog seinen Stuhl hinter dem Schreibtisch hervor und setzte sich Snape gegenüber. Er lehnte sich behaglich zurück und legte seinen Kopf leicht schräg nach links.
"Also hat Sirius Black dir erzählt, wie man an der Peitschenden Weide vorbei kommt."
"Ja, Sir", antwortet Snape, obwohl es nicht einmal eine Frage gewesen war. "Er ließ mich vermuten, daß er und Potter irgendwas... mit Lupin anstellen würden. Er... er hat mich herausgefordert ihnen zu folgen."
Dem Gesichtsausdruck des Jungen nach zu urteilen, schien ihm diese Erklärung auf einmal dumm vorzukommen, wie viele Dinge nun einmal mehr Sinn machen, wen man darüber nachdenkt, als wenn man sich laut darüber äußert. Wie auch immer, Dumbledore sah ihn lediglich aufmunternd an, seine Fingerspitzen gegeneinander gelegt. Snape holte tief Luft.
"Sie wissen, daß ich Lupins Verletzungen bemerkt habe und ich habe angenommen... nun ja, ich dachte, daß Potter und Black ihm weh tun würden. Wie..."
Er wagte es nicht den Satz auszusprechen. Dumbledore seufzte schwer.
"Ich weiß, daß es gewisse Unstimmigkeiten zwischen Ihnen und Ihren ...- diesen beiden Gryffindors-Mitschülern gibt. Es ist schwer zu übersehen und viele Lehrer haben mir schon darüber berichtet. Wie auch immer, nachdem Sie mir in Ihrem ersten Jahr gesagt haben, daß Sie Ihre Schlachten lieber alleine schlagen, habe ich dem Kollegium mitgeteilt, daß sie sich nur einmischen sollen, wen die Situation außer Kontrolle gerät. Vielleicht haben Sie, wie auch ich, die Situation in den vergangenen paar Monaten falsch eingeschätzt."
Der Junge entspannte sich sichtlich.
"Dann glauben Sie mir? Dass Black mir gesagt hat, wie ich an diesem Baum vorbei komme?"
"Natürlich glaube ich dir, Kind. Warum solltest du mich anlügen? Ich hätte sogar darauf bestanden, daß Mr. Black sich bei dir entschuldigt, aber ich dachte, du würdest dich eh nicht darum scheren, da es nur wenig Chancen gibt, daß diese Entschuldigung höflich und aufrichtig ausgefallen wäre. Außerdem hätten sich zusätzliche Probleme für dich daraus ergeben können."
Der Junge antwortete nicht.
"Leider wurdest du auf ein Geheimnis aufmerksam gemacht, das du eigentlich nicht hättest erfahren sollen. Das nächste Mal solltest du vielleicht meinem Urteil trauen, und mich beim Wort nehmen, wenn ich dir sage, daß es keinen Grund gibt sich Sorgen zu machen. Dir ist natürlich bewußt, daß das, was du heute Nacht über Remus Lupins Verfassung herausgefunden hast, unter uns bleiben muß, oder? Niemand darf etwas erfahren."
Er sah den Jungen durchdringend an und es schien, als ob seine blauen Augen irgendwie zu strahlen schienen. Snape versteifte sich etwas.
"Sie wollen einen Werwolf an der Schule lassen? Was, wenn jemand verletzt wird? Was, wenn Black meint, noch einmal jemandem so einen Streich spielen zu müssen?"
"Seit Mr. Lupin vor zwei Jahren an diese Schule gekommen ist, hat es noch keinerlei schwerwiegende Zwischenfälle gegeben. Niemand wurde verletzt und niemand wird verletzt werden, das versichere ich dir."
Snape schien nicht überzeugt davon. Tatsächlich schien er richtig wütend zu sein.
"Und was ist mit mir? Was wäre wohl passiert, wenn ich das andere Ende des Tunnels erreicht hätte? Ich bin mir sicher, daß ich mir mehr als nur eine aufgeschlagenen Schläfe eingehandelt hätte."
Dumbledore legte dem Jungen eine Hand aufs Knie.
"Aber es ist nichts passiert. James Potter hat sich eingemischt und dich daran gehindert, in diesen Tunnel zu gelangen. Vielleicht solltest du auch daran denken."
Die Milde, die der Direktor ausstrahlte, schien den jungen Slytherin nur noch mehr in Rage zu versetzten.
"Heißt das, daß man sie nicht bestrafen wird?"
"Mr. Black wird seine Strafe erhalten - dafür, daß er dich in Gefahr gebracht hat, wie auch dafür, daß er das Geheimnis nicht für sich behalten konnte. Aber ich wüßte nicht, warum ich Mr. Potter bestrafen sollte."
Er sah neugierig auf den Knaben hinunter. Als er, außer einem Paar ihn anstarrender glühender, schwarzer Augen keine Antwort erhielt, setzte er hinzu:
"Du solltest es in Erwägung ziehen, ein wenig geselliger zu deinen Klassenkameraden zu sein. So weit ich das mitbekommen habe, werden die meisten deiner gegenwärtigen Freunde diese Schule mit dem Ende dieses Jahres verlassen - obwohl es wohl eine geringe Chance gibt, daß die Herren Crabbe und Goyle uns wohl im kommenden Jahr noch einmal beehren."
Der alte Zauberer lachte in sich hinein, hörte aber rasch auf, als er bemerkte, dass das Gesicht des Jungen vor ihm sich verfinsterte. Er seufzte.
"Ich will die Wahl deiner Freunde keineswegs kritisieren, Mr. Snape. Genaugenommen bin ich froh, daß du eine Gruppe gefunden hast, in der du dich wohl fühlst.. Wie auch immer, sie werden diese Schule bald verlassen und du wirst noch weitere vier Jahre bei uns verbringen. Gib den anderen Schülern eine Chance ebenso deine Qualitäten zu entdecken; es wäre für sie ebenso schade wie für dich, wenn du es nicht versuchst."
Der junge Slytherin hatte von Neuem damit begonnen, den Saum seiner Robe zu bearbeiten und starrte hinunter auf seine Hände, in dem Versuch, die aufsteigende Röte in seinem Gesicht zu verbergen. Dumbledore legte dem Jungen eine Hand unter das Kinn und hob es an, voller Zuneigung lächelnd.
"Ich weiß, daß ich dir vertrauen kann, Mr. Snape. Du wirst mit niemanden über diese Dinge sprechen, die dir heute Nacht anvertraut worden sind. Du wirst ein besserer Geheimniswahrer sein, als ein ganz bestimmter Gryffindor, da bin ich mir sicher."
Snape wagte es, zurück zu lächeln. Er schien ein wenig enttäuscht zu sein, als der Schulleiter seine Hand wegzog, riß sich aber schnell wieder zusammen.
"Darf ich nun gehen, Sir?"
Dumbledore nickte und Snape kletterte mit einigen Schwierigkeiten aus dem übergroßen Sessel; seine Füße hatten kaum den Boden erreicht, als er darin gesessen hatte. Der Junge war schon auf der ersten Stufe, die hinunter und aus dem Büro führte, als der Schulleiter ruhig zu ihm sagte:
"Meine Tür steht dir jederzeit offen, Kind."
Snape lächelte den alten Mann an, diesmal mit aufrichtiger Wärme und Dankbarkeit. Dann stürmte er die Treppen runter, bis hinunter in den Kerker.


Harry wußte nicht was er denken sollte. Das Bild, das er sich von seinem Paten gemacht hatte, war eh schon irreparabel zerstört worden, also war dieser Teil nicht mehr ganz so schlimm. Er hatte schon vorher gewußt, daß dieser kindische, wenn auch unermeßlich gefährliche Streich die Idee von Sirius gewesen war. Doch irgendwie hatte er sich vorgestellt, daß sein Vater in diesem Fall ein wenig heldenhafter gewesen war, Snape um ein vielfaches neugieriger und unangenehmer und Dumbledore gerechter.
Es wäre nur gerecht gewesen, Sirius auf seine Lüge anzusprechen. Harry konnte verstehen, daß sein Vater seinen Freund nicht angeschwärzt hatte, doch Dumbledore hätte diese Unehrlichkeit zu seiner Person nicht akzeptieren dürfen.
Es wäre ebenso richtig gewesen, Sirius dazu zu bringen, sich bei Snape für all die Beschimpfungen zu entschuldigen. Wie oft hatte er sich gewünscht, jemand würde Malfoy dazu bringen "Es tut mir Leid" zu sagen, für all die unzähligen Schmähwörter, die er ihm immer wieder an den Kopf warf, ganz egal ob er es nun wirklich meinte, oder nicht. Das Wichtigste dabei wäre gewesen, wie zur Abwechslung einmal Malfoy erniedrigt werden würde.
Und was war mit der Bestrafung? Immerhin hätte Snape sterben können, wäre er nur weiter den Gang entlang gelaufen und auf einen Lupin in ausgewachsener Werwolfform gestoßen.
Plötzlich fragte Harry sich, ob Lupin Sirius das hier jemals verziehen hatte. Um ein Haar hätte man ihn dazu gebracht, einen Menschen umzubringen.
Am Tisch neben Tonks hatte Remus Lupin den Kopf gehoben und starrte Snape mit einem verwunderten Ausdruck in seinem blassen und müden Gesicht an.
"Mein Gott, er hat sich Sorgen um mich gemacht", flüsterte er leise. Tonks begann ihm sein wirres Haar zu streicheln, bis ihm die Tränen offen über das Gesicht kullerten.

 

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