Bittersüsser Nachtschatten

 

 

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Kapitel 2 

 

Kühl. Dunkel. Still. Der schlaksige Junge lehnte sich an die kalte Steinmauer und atmete heftig. Er war den ganzen Weg hier herunter gerannt. Wieder einmal auf der Flucht. Auf der Flucht vor seinen Peinigern, vor allen Menschen, vor sich selbst. Hier unten war die Ruhe, die er suchte, die er in sich selbst vergeblich suchte. Hier war sein Versteck, hier waren seine geliebten Bücher, in die man flüchten konnte, seine Experimente, die den Geist wach hielten, seine Mixturen, die ihm ein Gefühl von Macht verliehen. Alles, was sein Leben lebenswert machte. Wenn überhaupt. In der Welt da oben, im Tageslicht, gab es nur Schmerz. Das war so, seit er als Elfjähriger hier angekommen war, voll törichter Hoffnungen. Nun war er in der letzten Klasse und hoffte schon lange nicht mehr auf Dinge wie "Freundschaft" und "Verständnis". Außer vielleicht von seinem Lieblingslehrer, Dumbledore. Aber auch der hatte ihn belogen. Er hatte ihn damals aus dem leeren Haus abgeholt und hierher gebracht, und er hatte ihm versprochen: "In Hogwarts wirst du die Geborgenheit wiederfinden, die du verloren hast. Keine Familie zwar, aber doch etwas ähnliches." Hätte er ihn doch nur dort sitzen lassen, vielleicht wäre er dann einfach gestorben. Niemand hätte nach ihm geschaut. Die Auroren hatten sich ja auch nicht um ihn gekümmert, als sie seine Eltern abholten. Warum musste Dumbledore...

Nein, dies hier war keine Familie. Auch nichts Ähnliches. Das hier waren ein Haufen von Kindern, die so grausam waren, wie Kinder eben sind. Vor allem in der Hackordnung eines Internats. Eine solche Gesellschaft funktioniert wunderbar, vorausgesetzt sie hat einen Sündenbock, auf dem man alles Negative abladen kann und der dafür büßen muss. Schwer büßen. Severus bot sich wunderbar für diesen Job an. Ein dünner, blasser Junge, eher schwächlich, unerträglich intelligent und besserwisserisch, der geborene Außenseiter. Und seine unheimlich schwarzen Augen und Haare passten zu dem Image, das ihm anhing: Er war der Sohn von Schwarzmagiern und selbst, wie Frau Professor Blimp bei jeder sich nur bietenden Gelegenheit betonte, "von Grund auf verdorben". Die Tatsache, dass er mit elf Jahren mehr Flüche beherrschte als jeder Schulabgänger, war ja Beweis genug. Professor Blimp kompensierte ihre Wut darüber, dass dieses gefährliche Kind auf der Schule sein durfte, indem sie jedes noch so kleine Vergehen seinerseits wahrnahm und als Gelegenheit für drastische Strafen nutzte. Sie liebte es, ihn vor seinen Mitschülern zu erniedrigen. Schwer zu sagen, wie viele ihrer Unterrichtsstunden (bevorzugt Doppelstunden) Severus Snape in der Ecke stehend oder auch kniend zugebracht hatte. Sie achtete konsequent darauf, dass die Strafe keine Minute vor Unterrichtsende abgebrochen wurde, egal, wie weiß sein blasses Gesicht noch wurde. In Ohnmacht gefallen war er nur einmal. Das war, als er die ganze Zeit die Hände hochhalten sollte. Dumbledore hatte ihr Vorwürfe gemacht, als sie sich im Krankenflügel am Bett des Jungen begegneten. Aber er hatte ihr nichts zu sagen, er war schließlich nicht der Schulleiter, und sie war älter als er.
Ihre ziemlich direkt ausgesprochene Drohung, jedem Kind Punkte abzuziehen, das mit dem "verdorbenen" Snape redete oder spielte, wäre wohl ziemlich unnötig gewesen. Manchmal sprachen sie schon mit ihm, aber dann nur gehässige Dinge, und das übersah sie großzügig. Gewissenhaft erinnerten Professor Blimp und all die braven Kinder Severus täglich daran, dass er hier nichts verloren hatte. So einer gehörte eigentlich da hin, wo seine Eltern waren. Zu Ferienbeginn fand sich auch mit Sicherheit jedes Mal wenigstens einer, der fragte: "Na, fährst du heim zu deinen Eltern? Nach Askaban?" Nein, er fuhr nicht nach Askaban, niemals. Minderjährige hatten dort kein Besuchsrecht. Vielleicht zu ihrem eigenen Schutz. Severus hatte seine Eltern nicht mehr gesehen, seit er elf Jahre alt war. Er verbrachte die Sommerferien bei einem entfernten Verwandten, der sich wenig um ihn kümmerte, und das war ihm recht so.

Er war trotz allem groß geworden. Nun stand er kurz vor seinem Schulabschluss, und mit ziemlicher Sicherheit würde es einer der besten Abschlüsse dieses Jahrgangs werden. Wo er danach hingehen sollte, wusste er nicht. Oft genug hatte er sich nur von hier fortgewünscht, aber jetzt begann es zunehmend, ihm Angst zu machen. Er würde zum zweiten Mal im Leben sein Zuhause verlieren, auch wenn er hier nie glücklich gewesen war.

Severus bestrich die Prellung an seinem Arm mit einer selbstgemachten Salbe, die ihm die dauernden Wege in den Krankenflügel ersparte. Er hatte keine Lust, sich jedes Mal dort zu präsentieren, wenn ihn wieder jemand verprügelt hatte. Es tat ja heute auch gar nicht so weh wie manches andere Mal, vor allem nicht wie damals, als Professor Blimp ihn endlich einmal bei einer größeren Untat erwischt hatte: dem unerlaubten "Ausleihen" eines Buches aus der Verbotenen Abteilung der Bibliothek. Damals hatte er Bekanntschaft mit der sogenannten "Folterkammer" des Hausmeisters und mit dessen Stock gemacht. Professor Dumbledore, dieser idealistische Lehrer, versuchte seit langem, ein Verbot dieser Form der Bestrafung und die Versiegelung dieses Zimmers durchzusetzen. Immerhin hatte er erreicht, dass es nur noch in besonders schweren Fällen zum Einsatz kam. Doch in diesem Fall hatte die Blimp es geschafft, den Schulleiter von der entsprechenden Schwere des Vergehens und der allgemeinen Gefährlichkeit des jungen Verbrechers zu überzeugen. Nun, jedenfalls damals hatte er sich diese Salbe zubereitet, was ihm schon oft zugute gekommen war.

Er stellte den Tiegel mit Salbe zurück ins Regal, und sein Blick blieb an einer bestimmten Flasche hängen, deren Etikett recht abgegriffen aussah. "Bittersüßer Nachtschatten (Solania dulcamara)", lautete die Aufschrift. Ein hochwirksames Gift, doch Snape, das kleine Naturtalent im Mischen von Tränken, wusste ihn genau so zu dosieren, dass er keinen Schaden anrichtete. Keinen direkt spürbaren jedenfalls. Der Trank aus 33 verschiedenen Essenzen, einschließlich eben des so entscheidenden Bittersüßen Nachtschattens, war das Tor zu einer besseren Welt. Je nach genauer Zusammensetzung, ließ er ihn Schlaf finden, den er sonst nicht fand. Oder er ließ ihn schwindelerregende Höhen des Glücks erleben, die nicht für einen wie ihn bestimmt waren. Sicher, auf die Dauer tat der Trank seinem Körper nicht gut. Er machte ihn immer magerer und blasser, und vielleicht würde er irgendwann ganz verschwunden sein. Es würde niemanden stören, ihn selbst am allerwenigsten.

Severus mischte sich mit großer Sorgfalt eine frische Portion des Trankes zusammen und wollte das Glas gerade an die Lippen setzen, als unerwartet jemand in sein Kellerversteck eindrang. Snape zuckte zusammen. Das war noch nie passiert. War er nicht einmal hier mehr sicher? Im Halbdunkel erkannte er Lucius Malfoy. Er war der Anführer einer Bande von Slytherins. Leute aus Snapes Haus, doch sie waren nie freundlicher zu ihm gewesen als der Rest der Schüler. Im Grunde waren sie zu niemandem besonders freundlich. Malfoy, Avery, Rosier und Wilkes.

Der große Junge mit den langen, silberblonden Haaren schnupperte in die Luft, wo es bitter und süß zugleich roch. Snape beneidete ihn um diese Haare und um alles mögliche: seine intakte und zudem reiche und mächtige Familie, die Tatsache, dass er Freunde hatte und dass er, obschon offensichtlich oft auf verbotenen Pfaden unterwegs, selten erwischt wurde. Und wenn doch, wurde ihm niemals eine solche Behandlung zuteil wie Snape.
Die Lehrer, selbst die Blimp, hatten gehörigen Respekt vor seiner einflussreichen Familie, die Schüler vor seiner Schönheit. Er mochte noch so Böses im Schilde führen - er wirkte immer "hell" mit seinen seidigen, blondschimmernden Haaren und blauen Augen und seinem Lächeln. Severus hingegen konnte noch so gute Absichten haben, er sah immer "dunkel" aus, mit rabenschwarzen Haaren und Augen und einem bleichen Gesicht, das das Lächeln verlernt hatte und von Tag zu Tag ungesünder aussah. Zudem nannten sie ihn einen hässlichen Kerl, wegen seiner ständig fettigen Haare. Kaum einer erinnerte sich noch daran, dass Severus´ schwarze Haare von Natur aus ebenso seidig waren wie Lucius´. Er vermied es weitgehend, sie zu waschen, seit ihn im zweiten Schuljahr zwei ältere Schüler solange mit dem Kopf unter den Wasserhahn gedrückt hatten, bis er fast erstickt war. (Lange noch vor dem Mordanschlag gegen Snape durch seinen Mitschüler Sirius Black, dem herausragendsten in einer langen Kette von traumatischen Erlebnissen.) Nur eine kurze Phase hatte es gegeben, wo er sich täglich zur Tortur des Haarewaschens zwang. Das war letztes Jahr, als er seine erste und wohl letzte Liebe erlebte. Er hätte es eigentlich wissen müssen, dass sie nur mit ihm spielte. Am Ende hatte sie ihre Wette gewonnen und sich einen Haufen Süßigkeiten von ihren Freunden verdient, für die gelungene Vorführung, wie der dämliche Snape allen Ernstes am verabredeten Treffpunkt wartete und ihr eine Liebeserklärung machte. Sie hatten alle viel zu lachen gehabt, vor allem das Mädchen. Seitdem hielt Snape sich fast nur noch im Keller auf. Und sah es überhaupt nicht mehr ein, sich mit Haarewaschen zu quälen. Und musste immer häufiger nachts im Verbotenen Wald Nachschub an Bittersüßem Nachtschatten pflücken.

"Was ist das für ein Zeug?", fragte Lucius Malfoy.
"Mein Trank", entgegnete Severus und bemühte sich, mit ruhiger Stimme zu sprechen.
Lucius schnupperte wieder. "Ein Rauschtrank, stimmt´s? Das riecht man. Du weißt, dass Rauschtränke streng verboten sind, ja? Du weißt auch, was Professor Blimp mit dir macht, wenn sie dich damit erwischt, ja? Du wirst von der Schule fliegen, ein paar Wochen vor deinem Abschluss. Wie schade um den Musterschüler Snape. Die ganzen sieben unschönen Jahre in Hogwarts umsonst. Und was sie mit dir macht, bevor du gehen darfst, kannst du dir auch ausmalen, oder?"
Severus schluckte. Ja, das konnte er. "Geh schon und sag es ihr", resignierte er mit matter Stimme.
Doch Lucius machte keine Anstalten zu gehen. "Du könntest mich vielleicht davon überzeugen, darauf zu verzichten", sagte er mit öliger Stimme.
"Und wie?", fragte Snape überrascht, "was verlangst du dafür?"
Lucius schloss seine Finger um das Glas, das Severus immer noch umklammert hielt und entwand es seinem Griff. "Das hier!"
Snape glaubte sich verhört zu haben. Doch Lucius bekräftigte seine Forderung: "Du kannst zu unserer Bande gehören, wenn du uns regelmäßig damit versorgst. Ist doch schön, dass du mal zu was nütze bist, oder?"

Seitdem gehörte Severus Snape dazu. Nicht, dass sie ihn besonders mochten oder auch nur so taten. Aber sie brauchten ihn, denn nur er konnte den Trank brauen und ihnen selige Träume verschaffen. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte Severus das Gefühl, zwar nicht geliebt, aber immerhin gebraucht zu werden.

 

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