Bittersüsser Nachtschatten

 

 

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Kapitel 1 

 

Die junge Frau sah sich neugierig in dem düsteren Kellergewölbe um. Sie strich sogar mit den Fingerspitzen an einer Reihe Gläser entlang, aus denen seltsame Pflanzen und konservierte Teile noch seltsamerer Tiere sie anstarrten. Snape hasste es, wenn man mit seinen Sachen so umging. Ihre Finger würden fettige Abdrücke auf dem blanken Glas hinterlassen, dessen dunkles Glühen seinem Sinn für Ästhetik so viel bedeutete. Er erwartete Ehrfurcht vor seiner Arbeit und vor der Schönheit eines perfekt gelungenen Trankes oder eben dem ganzen Ambiente seines Reiches. Mochten andere es einen "Kerker" nennen, sie begriffen nichts. Es war quälend, sein Leben lang fast ausnahmslos von Ignoranten umgeben zu sein. Von manch einem Zauberer hätte er mehr erwartet. Nicht aber von dieser kleinen Muggelfrau. Er vergab ihr ihr völlig unangemessenes Verhalten und biss schweigend die Zähne zusammen, als sie seine Gläser entweihte. Es wunderte ihn nur, dass sie nach allem, was sie heute Nacht erlebt hatte, noch so sorglos-neugierig und naiv sein konnte. Versteh einer die Muggel! Snape hielt nichts von Voldemorts dumpfen Parolen, dass Muggel und Schlammblüter "unwertes Leben" seien. Aber wenn er sie so beobachtete, schien sie ihm doch fast so etwas wie ein "niederes Tier" zu sein. Das war keine Rechtfertigung, ihnen Leid zuzufügen. Snape achtete jedes Wesen in seiner Besonderheit oder Absonderlichkeit, war er es doch selbst gewohnt, vom Rest der Welt als so ziemlich das Abnormste betrachtet zu werden, was herumlief.
Mit einem gewissen Neid registrierte er die naive Unbekümmertheit der Muggelfrau. Das Grauen so leicht vergessen zu können, das Denken so problemlos abzuschalten, welch unbezahlbare Fähigkeit.

Sie hörte endlich auf, ihre Spur über die Gläserreihen zu ziehen und wandte sich lächelnd zu ihm um. "Sie sind Biologe, nicht wahr?", fragte sie, und mit einem Blick auf die mit bunten Flüssigkeiten gefüllten Phiolen auf seinem Schreibtisch, von denen einige noch dampften, ergänzte sie: "Oder Chemiker."
Er nickte knapp. Er war derjenige, der hier Fragen stellen sollte. "Sie können nicht lange hier bleiben", sagte er, "aber vorher muss ich ein paar Dinge klären. Miss...?"
"Smith, Annie Smith. Sagen Sie einfach Annie zu mir. Und wie heißen Sie?"
"Das tut nichts zur Sache."
Sie zog einen halb belustigten Schmollmund: "Das ist unfair, Sie wissen mehr als ich."
Treffend bemerkt, dachte er sarkastisch. Aber hörbar (kaum hörbar und gefährlich leise) erwiderte er: "Ich habe nie behauptet, fair zu sein."
Sie schauderte spielerisch: "Hu! Sie sind schon ein unheimlicher Kauz! Lassen Sie doch mal das Eis aus Ihrer Stimme und Ihrem Blick weg und lachen Sie einfach!"
"Ich wüsste nicht, was es zu lachen gäbe", entgegnete er trocken.
Annie musterte ihn plötzlich mit einem ernsten, prüfenden und - mitleidigen! Blick. Er hasste das. Es war seine Aufgabe, andere zu prüfen, nicht geprüft zu werden. "Sie hatten wohl nicht viel zu lachen im Leben?" fragte sie teilnahmsvoll. Nun wurde es aber wirklich Zeit, dass er sie los wurde.

"Gehen wir das Ganze noch einmal durch. Warum waren Sie in diesem Wald?"
"Braucht man dafür einen Grund?", fragte Annie amüsiert. "Ich bin einfach nur spazierengegangen."
"Nachts", schnaubte Snape und verdrehte die Augen, "allein in einem dunklen Wald. In diesem Wald! Nun gut... Was passierte dann?"
"Diese Leute kamen plötzlich hinter den Bäumen hervor und griffen mich an. Ohne jeden Grund. Sie sahen schrecklich aus. Sie hatten lange schwarze Mäntel an und Masken vor den Gesichtern. Das muss so eine Art Ku Klux Clan gewesen sein. Aber ich dachte immer, die gäbe es nur in Amerika, und außerdem bin ich nicht schwarz."
Snape nickte ungeduldig: "Und weiter?"
"Erst haben sie nur versucht, mich einzuschüchtern. Sie haben schmutzige Witze gemacht und ich dachte, sie wollten mich vergewaltigen. Aber dann zogen sie so komische Stäbe aus den Taschen. Das müssen eine Art Elektroschocker gewesen sein, denn wenn sie sie auf mich richteten, hatte ich entsetzliche Schmerzen."
Snape war beruhigt, dass sie alles auf Muggelart interpretierte. Allzu viel schien sie nicht kapiert zu haben. Trotzdem würde er nachher ihre Erinnerung löschen.
Hastig, als wollte sie gern dieses Thema beenden, sprach sie weiter: "Und dann sagte der eine, der ihr Anführer zu sein schien, sie sollten mich töten. Da kriegte ich echt die Panik. Einer von ihnen trat vor und wollte diese Aufgabe erledigen. Er sagte, er hätte noch eine Belohnung gut für irgendetwas, und er wollte mich für sich allein haben. Er wollte mit mir, versteckt hinter den Bäumen... nun ja, was Männer halt mit hilflosen Frauen tun, um sich zu 'belohnen', denke ich. Anschließend wollte er mich noch etwas quälen und dann töten und meine Leiche wegschaffen. Sein Boss war einverstanden, und er nahm mich mit."
Wieder nickte Snape kurz: "Das war ich."
"Ja", flüsterte sie, "und ich hatte grässliche Angst vor Ihnen. Aber Sie sind nur ein Stück weit mit mir gegangen, und dann haben Sie mich ganz fest am Arm gepackt und diese alte Blechbüchse, die herumlag, angefasst und... und dann wurde mir schwindlig, und dann waren wir an dem Eingang zu diesem unterirdischen Gang, und Sie haben mich da reingeschleift, und dann sind wir hier drinnen gelandet. Wie... wie haben Sie das bloß gemacht?"
"Das tut nichts zur Sache", antwortete er schroff, "seien Sie einfach froh, dass Sie hier sind."
Sie nickte hilflos. "Diese anderen", flüsterte sie, "die denken, ich sei tot, nicht wahr?"
"Ja."
"Sie sind doch auch einer von denen. Warum haben Sie mir geholfen?"
"Sagen Sie einfach nur 'danke'!", fauchte er.

"Ja", sagte sie leise und ernsthaft, "danke! Ich werde Ihnen ewig dankbar sein, Mr...?"
Aber darauf fiel er nicht herein. "Finden Sie sich damit ab, meinen Namen nicht zu kennen."
"Dann muss ich Ihnen einen Namen geben. Ich brauche etwas, woran ich mich erinnern kann."
'Ganz sicher nicht', dachte Snape.
Annie ging wieder an den Regalen entlang, diesmal an einigen Flaschen mit Zaubertrank-Grundstoffen vorbei. Mit einem Mal lachte sie leise und hell und tippte mit dem Fingernagel gegen ein Etikett. "Das da!", sagte sie, "das passt zu Ihnen. So werde ich Sie nennen: 'Bittersüßer Nachtschatten'!"
Aber plötzlich wurde sein Blick, der vorher kühl gewesen war, eiskalt. Annie erschrak. "Das war ein schlechter Witz!", zischte er und packte sie hart am Arm.
"Aber..."
"Still! Bringen wir das hier zu Ende." Mit plötzlicher Hast zog er seinen Zauberstab und belegte Annie mit einem Vergessenszauber. Dann trat er mit ihr in den Kamin, hielt sie fest an sich geklammert, streute Flohpulver und reiste mit ihr in die Hütte außerhalb des Waldes, die er für solche Zwecke benutzte. Er öffnete gewaltsam die Augenlider der größtenteils noch bewusstlosen Frau und starrte mit dem hypnotischen Blick einer Schlange in ihre Augen. "Du wirst dich zwar an nichts erinnern", sprach er beschwörerisch, "aber eins soll dir eingeprägt bleiben: eine unbestimmte Angst vor diesem Wald. Du - wirst - diesen - Wald - nie - wieder - betreten!"
Sie nickte in Trance.
Er sah sie prüfend an. Es schien gewirkt zu haben. Das war das letzte Mal, dass er sie sah.

Erschöpft sank er nach seiner Rückkehr auf einen Stuhl. Sein Blick fiel auf das bewusste Fläschchen, und er sprang wieder auf. Bittersüßer Nachtschatten! Ausgerechnet. Snape ergriff das Fläschchen mit Gift und zerschmetterte es an der dicken, kalten Steinmauer seines Kerkers.

 
  Kapitel 2

 

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