Ich möchte Dich aufessen

 

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Kapitel 10:
Entscheidungen



Als ich vor Toms Wohnung apparierte, begann ich, mich innerlich für die kommende Unterhaltung zu wappnen. Mrs Mitchell würde schon von dem Vorgefallenen erfahren haben. Inwieweit Tom ihr bereits Details erzählt hatte, wusste ich nicht und so versuchte ich mich darauf einzustellen, dass ich beide vom wirklichen Ablauf der Dinge überzeugen musste.

Noch einmal atmete ich tief durch, dann klingelte ich. Mrs Mitchell öffnete die Wohnungstür und ließ mich eintreten. Nachdem ich meinen Koffer abgestellt hatte, folgte ich ihr ins Wohnzimmer.

Die Wohnung der Mitchells hätte ein unbedarfter Besucher leicht für die von Muggeln halten können. Es gab nur wenige Dinge, die verrieten, dass die Bewohner zur magischen Welt gehörten. Neben den Bildern, auf denen sich die dargestellten Personen bewegten, war es der riesige Kamin, der fast die ganze rückwärtige Wand des Wohnzimmers einnahm. Jeder nicht-magische Mensch hätte ihn zurückbauen lassen, um mehr Platz zu haben. Der verbleibende freie Raum im Zimmer wurde von einer Sitzgruppe mit Couch, zwei Sesseln und Tisch eingenommen.

Tom lief, wie eine eingesperrte Raubkatze, zwischen den Möbeln und dem Kamin hin und her. Als er mich sah, kam er auf mich zu gehechtet und verlangte ziemlich rüde Auskunft: "Also, was sollte das? Noch ein kurzes Abenteuer bevor wir heiraten? Hat dich wohl aufgegeilt, mich mit ihm zu betrügen? Wenn ich nicht dahinter gekommen wäre, wann hättest du es mir denn erzählt?"

"Tom, hör mir bitte erstmal zu, dann reden wir weiter", beschwichtigte ich ihn mit übertrieben ruhiger Stimme. Hätte ich meinem Impuls nachgegeben, hätten wir unseren ersten handfesten Krach gehabt.

Irgendetwas in mir registrierte mit wacher Aufmerksamkeit, dass dies wieder einmal eine der Situationen war, in der ich diejenige war, die nachgab. Das versetzte mir einen Stich. Mir fielen plötzlich sämtliche Zugeständnisse ein, die ich in unserer Beziehung gemacht hatte, und die auf keine Weise erwidert worden waren.

Mrs Mitchell stand regungslos vor dem Fenster. Ich bemerkte an ihrem Gesichtsausdruck, dass in ihr zwei Wünsche kämpften, zum einen uns eine gewisse Privatsphäre zu ermöglichen, zum anderen der stärkere Drang, ihre Neugierde zu befriedigen und falls notwendig ihrem Sohn beizustehen. In meinem Kopf hörte ich Snapes geflüsterte Worte: "… wenn Sie verheiratet sind mit Toms Mutter."

Ich schob den Gedanken beiseite. Wichtig war im Moment nur die Wahrheit, und dass Tom sie glaubte.

Es war keine Zeit für gekränkte Gefühle oder verletzte Eitelkeit, also setzte ich mich auf das Sofa und starrte die Ecke eines Bildes an, das über dem Kamin hing.

Mit tonloser Stimme begann ich nun von Snapes Briefen, seiner Anschuldigung und seiner Forderung zu erzählen. Mir war klar, dass Tom Snapes anderes Ich, das ich in den vier Tagen kennen gelernt hatte, nicht begreifen würde. Also beschränkte ich mich bei der Erklärung, was zwischen Snape und mir passiert war, darauf, wir hätten nebeneinander, aber nicht miteinander geschlafen, außerdem sei er, abgesehen von zweideutigen Bemerkungen, nicht weiter zudringlich geworden.

"Seine ursprüngliche Absicht hat er nicht in die Tat umsetzen können, weil ich ihn früher verlassen habe", schloss ich meinen Bericht. Meine Dummheit der letzten Nacht ließ ich unerwähnt.

"Wird er mich jetzt verraten?", fragte Tom mit einem Anflug von Panik.

"Keine Ahnung." Das war mir im Moment auch ziemlich egal, ich wollte nur wissen, ob Tom mir glaubte.

Nun mischte sich Mrs Mitchell in unsere Unterhaltung ein: "Ausgerechnet dieser schreckliche Mann, wie konntest du das nur tun?" Ich war mir nicht klar, ob sie damit Tom oder mich meinte. "Oh lieber Gott, was sollen wir bloß tun?"

"Der Kerl ist so verdammt unfair", ereiferte sich Tom. "Es gibt so viele Leute, die nicht erwischt werden. Warum gerade ich?"

Als ich sein Selbstmitleid hörte, war mir auf einmal egal, ob wir Streit bekamen.

"Ja", fauchte ich gereizt, "aber viele Leute, verlieren dafür aber auch ihren Schulabschluss."

Hier schritt Mrs Mitchell wieder ein. Anscheinend ging ich zu gefühllos mit ihrem bedauernswerten Sohn um. "Was sollen wir bloß machen", klagte sie, "bisher ging alles so gut voran. Gestern noch hat er erzählt, wie sehr ihn Dr. Steathman bereits schätzt." Ihr begannen, die Tränen über die Wangen zu laufen. "Ich kann nicht weggehen, ich kann nicht in ein unbekanntes Land ziehen, hier ist doch mein Zuhause."

Tom ging zu ihr, nahm sie in den Arm und tröstet sie. Verärgert dachte ich: "Warum umarmt er mich nicht? Immerhin habe ich seinetwegen eine Woche mit Snape verbracht."

"Wir finden einen Ausweg, Mama." Dieses ‚wir' klang allerdings nicht so, als gehörte ich mit dazu. Snape hatte mit allen seinen boshaften Bemerkungen Recht gehabt, das sah ich immer deutlicher.

Es entstand eine lähmende Stille, die lediglich durch das Schluchzen von Mrs Mitchell unterbrochen wurde.

"Du könntest zu Dumbledore gehen und ihm erklären, dass du die Prüfungslösungen gekauft hast", warf ich schließlich ein. Mittlerweile war ich mir ziemlich sicher, dass Tom sie nicht nur gekauft, sondern auch verwendet hatte.

"Dumbledore?" Tom blickte skeptisch.

"Nein, danke sehr." Mrs Mitchell hatte die Entscheidung für ihren geliebten Sohn gefällt.

Ich stand auf und ging ein paar Schritte auf ihn zu. "Hör zu", sagte ich, "vielleicht fliegst du nicht von der Schule und kannst die Prüfung im nächsten Jahr wiederholen."

"Im nächsten Jahr?" Tom schien es eine unzumutbar lange Zeitspanne zu sein.

"So würdest du nicht daher reden, wenn es deine Karriere wäre." Mrs Mitchell sah meine Idee als persönlichen Affront an.

Ich ignorierte sie und machte einen weiteren Vorschlag: "Wenn es wegen des Geldes ist, ich könnte in dieser Zeit arbeiten gehen und die Raten für das Haus bezahlen."

"Und dafür kommst du dir dann auch noch großzügig vor", meinte sie eingeschnappt.

Es fehlte nicht viel und ich hätte ihr ziemlich unfreundlich geantwortet - um es einmal höflich auszudrücken. Stattdessen setzte ich mich wieder aufs Sofa.

"Janet, Liebes." Ihre Stimme klang mit einem Mal zuckersüß. "Könntest du nicht noch mal mit dem Mann reden. Ich meine, du hast eine ganze Woche bei ihm gelebt."

"Vier Tage", entgegnete ich, während ich mich in Gedanken damit beschäftigte, wie weit sie für ihren Sohn noch gehen würde.

"Kannst du den Mann nicht beeinflussen?" Mrs Mitchell setzte sich nun neben mich und ergriff meine Hand. "Damit er ihn nicht verrät. Bitte - tu mir den Gefallen."

Wieso sollte ich ihr einen Gefallen tun? Mein Aufenthalt in der Blackthorne Lane hatte nicht ihr zuliebe stattgefunden. Der Einzige, der hier berechtigt war, mich um einen Gefallen zu bitten, war Tom. Doch der stand immer noch still in seiner Ecke.

Ich stand auf und ging zu ihm hin. "Tom, möchtest du, dass ich noch mal zu Snape gehe und mit ihm rede?" Ich versuchte meine Stimme neutral klingen zu lassen.

Meine Anspannung wuchs. Wenn er entschied; "Nein, ich lasse dich nicht mehr dorthin, lieber nehme ich alle Konsequenzen auf mich!", dann hatte sich Snape in ihm getäuscht.

"Ja", sagte Tom zögernd. "Ja, tu alles was du kannst."

In mir entstand eine ohnmächtige Wut auf ihn. Doch bevor ich ihn verdammte, wollte ich ganz sicher sein.

"Du meinst, es macht dir wirklich nichts aus, wenn ich zurückgehe und mit ihm rede?", fragte ich ungläubig.

"Was soll mir das ausmachen?", brüllte er. "Dir hat es eine Woche lang nichts ausgemacht!"

Dieser Heuchler! Erst warf er mir vor, ich hätte mich mit Snape vergnügt, und nun schickte er mich sehenden Auges zurück, mit der Aufforderung alles zu tun, um ihn vor den Konsequenzen seines illegal erworbenen Schulabschlusses zu schützen.

Es lief auf eine simple Angelegenheit hinaus: Er verkaufte mich für seine Karriere. Würden wir heiraten, dann wäre dies der Punkt, den er - wohlgemerkt - mir vorwerfen würde und nicht ich ihm.

"Ich verstehe", antwortete ich entsprechend kühl. "Ich verstehe. Ich gehe jetzt erst mal nach Hause. Ich überleg es mir."

Ich ging zur Zimmertür und öffnete sie. Aus den Augenwinkeln sah ich Tom mir folgen. Mein Herz machte einen Satz. Allerdings kam er nicht zu mir, er ging zu seiner Mutter und tröstete sie.

Ich ergriff meinen Koffer und drehte mich noch ein Mal zu den beiden um.

"Du brauchst nicht mitzukommen, Tom", versetzte ich schneidend. Tom machte Anstalten mich zur Tür zu bringen, doch Mrs Mitchell hielt ihn zurück. Ich sah es und meinte schnippisch: "Jetzt braucht dich deine Mutter, das siehst du doch."

Es kostete mich einige Beherrschung, nicht mit der Wohnungstür zu knallen.

"Hallo, Granny", sagte ich, als sie mir die Tür öffnete.

"Janet!" Sie strahlte über das ganze Gesicht. "Ich dachte, du wärst bei Deinem Freund. Oder habe ich das Datum verwechselt."

"Nein", meinte ich genickt, "das hast du nicht. Es kam etwas dazwischen."

Fragend blickte sie mich von der Seite an, sagte jedoch kein Wort. Ich trat in den kleinen Flur, von dem die Tür in den einzigen Raum abging.

"Na komm", sagte sie, "gib mir erst mal deinen Koffer und dann werde ich dir einen schönen heißen Kakao kochen."

"Ach, Granny", seufzte ich. Bestimmt schob sie mich ins Wohnzimmer und setzte mich auf die Schlafcouch.

Ich begann mich in dem Raum umzusehen. In den letzen drei Jahren, in denen sie in dieser kleinen Wohnung lebte, hatte sich nichts verändert. Die Porzellanfiguren auf dem Fensterbrett standen noch genau in der Reihenfolge, wie Granny sie aus den Umzugskartons ausgepackt hatte.

Auf dem kleinen Eckschrank stand das Hochzeitsbild meiner Eltern, eine weitere Photographie zeigte Granny mit meinem Großvater und in den restlichen Rahmen befanden sich Aufnahmen, die mich zu den unterschiedlichsten Anlässen zeigten.

Ich war zu Hause.

Dieser Gedanke ließ mich in Tränen ausbrechen und ich schluchzte herzzerreißend. Ich brauchte eine Weile bis ich mich beruhigt hatte. Inzwischen hatte Granny in der kleinen Küche den Kakao gekocht und kam mit einem dampfenden Becher zurück. Diesen drückte sie mir in die Hand und setzte sich dann neben mich. Schweigend blickte sie mich an, als ich an dem Becher nippte.

Dann meinte Sie: "So, nun erzähl mal."

Und ich erzählte. Manchmal glaubte ich, ich hätte Tom vor kurzem eine vollkommen andere Geschichte erzählt. Nicht das ich irgendwelche Details verändert hätte. Es war nur, dass ich alle Gefühle, die ich während der letzten Tage gehabt hatte, ihr erklären konnte und wusste, sie würde mich verstehen.

Etwas erzählte ich auch Granny in diesem Augenblick nicht, nämlich wer der Mann war, der mich erpresst hatte. Den Namen ‚Snape' oder die Tatsache, dass es sich um einen meiner ehemaligen Lehrer handelte, erwähnte ich nicht. Genauso wenig erzählte ich ihr von meinem nächtlichen Striptease. Ich wusste nicht, wie ich ihr es hätte schildern sollen.

Als ich mit meiner Geschichte an der Stelle angelangt war, an der ich die Tür zu Toms Wohnung hinter mir schloss, atmete ich tief durch und starrte wieder in den Kakaobecher.

Granny strich mir sanft die Haare aus dem Gesicht und meinte: "Es stellt sich also die Frage, was machst du jetzt?"

"Wie meinst du das?", fragte ich. Das war wieder typisch Granny. Egal wie groß die Schwierigkeiten waren, sie ging sie immer direkt an.

"Es ist eine Situation, die eine Entscheidung von dir verlangt", sagte sie bestimmt.

"Das weiß ich", bemerkte ich resigniert. "Aber die ganze Sache ist so verfahren, ich weiß nicht, wie ich die richtige Entscheidung treffen soll."

"Nun, ganz einfach", lächelte sie, "ein großes Problem ist leichter zu lösen, wenn man es in viele kleine Probleme zerlegt."

Ich blickte sie irritiert an. Wurde das wieder eine ihrer Lebensweisheiten, von denen sie mir erklärte, ich würde sie verstehen, wenn es an der Zeit wäre? "In welche kleinen Probleme soll ich es denn zerlegen?"

"Also, zuerst einmal das Problem ‚Tom' und dann gibt es noch das Problem mit dem Mann in der Blackthorne Lane."

"Aber das ist doch ein und dasselbe", widersprach ich.

"Nicht ganz. Beide Dinge hängen zwar zusammen, aber die Antworten für beide sind unabhängig von einander."

"Das musst du mir näher erklären." Ich stellte den Becher weg und wandte nun meine ganze Aufmerksamkeit meiner Großmutter zu.

"Zu dem Problem ‚Tom' solltest du dich fragen, wie es mit ihm und dir weitergehen soll. Kann er dir das, was in den vergangenen Tagen passiert ist, verzeihen? Und was noch wichtiger ist, kannst du ihm verzeihen?"

Bei Granny klang das alles so einfach, trotzdem kamen mir die Antworten auf diese Fragen so unendlich schwer vor.

"Das weiß ich eben nicht", entgegnete ich.

"Was weißt du nicht, ob er dir verzeihen kann oder du ihm?" Ihre Augen strahlten eine Ruhe aus, die mir half, mich zu konzentrieren.

"Ob ich ihm verzeihen kann", beantwortete ich ihre Frage.

"Schön, und was ist mit dem ersten Punkt. Kann er dir verzeihen?"

Ich dachte nach. Ich hatte Tom, seit er heute früh in Snapes Haus aufgetaucht war, besser kennen gelernt als in den letzten drei Jahren. Er war egoistisch - doch das sind wohl alle ehrgeizigen Menschen bis zu einem gewissen Grad. Außerdem zimmerte er sich sein Weltbild so zurecht, wie er es brauchte. Und in diesem Weltbild hatte alles seine Ordnung, nur ich hatte diese Ordnung gestört. Ich war ein Fremdkörper. Der war ich schon immer gewesen, aber ich hatte immer nachgegeben und so war es mir nie aufgefallen.

"Nein, er wird mir nicht verzeihen", stellte ich fest. "Zumindest glaube ich das nicht. Er unterwirft seine Umwelt einer Perfektion, die ich nicht mehr erreichen kann. Und die ich auch nicht erreichen will!"

"Gut, kommen wir noch mal zur ersten Frage: Kannst du ihm verzeihen?" Granny ging mit chirurgischer Präzision daran, das Problem ‚Tom' in seine Bestandteile zu zerlegen.

"Können? Ich weiß nicht, will ich ihm verzeihen?"

"Dann beantworte diese Frage."

Hier brauchte ich etwas länger für die Antwort. Meine Wut auf Tom stand einer objektiven Betrachtung im Weg. Ich dachte an die Situationen, in denen ich mit Tom Nachsicht gehabt hatte, und versuchte mich daran zu erinnern, wann er auf mich Rücksicht genommen hatte. Das Ergebnis war niederschmetternd: Er war nur dann rücksichtsvoll, wenn es für ihn Vorteile hatte.

Blieb also nur noch der Teil zu beantworten, der sich damit beschäftigte, dass Tom mir nicht vertraut hatte. Seine Ansicht, mir hätte es nichts ausgemacht mit Snape zusammen zu sein, hatte mich verletzt. Aber sie beinhaltete noch etwas anderes. Und ich war nicht bereit, mich als Alleinschuldige an dieser Situation hinstellen zu lassen.

"Nein!", Ich schüttelte mit dem Kopf. "Ich könnte ihm vielleicht verzeihen, wenn er mich nicht aus reinem Ehrgeiz wieder in die Höhle des Löwen geschickt hätte."

"In Ordnung." Granny stand auf und holte sich einen Tee. Aus der Küche rief sie: "Kommen wir zum zweiten Problem."

Ich begriff plötzlich, dass nicht Tom das Hauptproblem war, sondern Snape - oder besser - wie ich mich zu ihm stellen sollte.

"Das wird ein Problem!" Ich musste etwas gequält grinsen.

"Dann zerlegen wir auch dieses Problem in seine Bestandteile. Vorhin hattest du damit doch auch Erfolg. Erste Frage: Kannst du dich endgültig entscheiden, dass du ihn niemals wiedersehen willst?"

"Nein", und bevor Granny weiterfragen konnte, fügte ich noch hinzu: "Ich kann mich aber genauso wenig dazu durchringen, ihn wiederzusehen."

Sie blickte mich nachdenklich an. Ich kannte diesen Blick, er verhieß nichts Gutes. Sie hatte einen wachen Verstand und wusste, dass ich ihr nicht alles erzählt hatte.

"Hat er irgendetwas getan, was es dir unmöglich macht mit ihm zusammenzutreffen? Ich meine, wollte er mit dir … hat er dich dazu gezwungen … mit ihm zu schlafen?" Eine leichte Röte überzog ihre Wangen.

"Er hat davon geredet, aber er hat es nie getan. Er hatte, glaube ich, Angst."

"Angst." Granny kaute ein wenig auf ihrer Unterlippe. Um dann die Frage zu stellen, vor der ich mich fürchtete: "Hast du etwas getan, was es dir unmöglich machen würde?"

Nun war es an mir, rot zu werden. Granny beobachtete mich genau.

"Ich habe mich letzte Nacht nackt zu ihm ins Bett gelegt." Meine Stimme vibrierte. "Er hatte einen Traum. Er wollte ein nacktes Mädchen nach dem Aufwachen neben sich finden - und diesen Traum wollte ich ihm erfüllen."

"Warum?", fragte Granny, die sich dieses Geständnis, ohne mit der Wimper zu zucken, angehört hatte. Ich wusste, sie würde meine Handlung weder billigen noch verdammen.

Über meinen wirklichen Beweggrund hatte ich nie nachgedacht. Vielleicht hatte ich auch nicht darüber nachdenken wollen. Letzte Nacht hatte ich es auf mein Pflichtgefühl geschoben, nun war ich mir da nicht mehr so sicher.

Granny sah meine Gewissensnöte: "Kleines, ich weiß nicht, was genau passiert ist. Ich möchte es im Moment auch nicht erfahren. du bist nicht mehr das Mädchen, dass sich auf meinen Schoß setzten kann, wenn es Schwierigkeiten gibt." Wieder strich sie mir beruhigend über die Wange. "Diese Entscheidung, die du hier triffst, wird den Rest Deines Lebens beeinflussen. Wie auch immer du dich entscheidest, wichtig ist, dass du auch noch in einem oder fünf Jahren mit Deinem Entschluss leben kannst, ohne ihn zu bedauern."

Nun stellte sie energisch ihre Teetasse weg und meinte: "So, und jetzt gehst du nach draußen, setzt dich in ein Café oder in ein Restaurant, läufst vielleicht durch die Straßen und denkst darüber nach …"

"Was die richtige Entscheidung ist?"

"Nein, die richtige Entscheidung gibt es hier nicht. Auch keine vernünftige, denn wo Gefühle im Spiel sind, da spielt die Vernunft bloß die zweite Geige." Dann musste sie lächeln: "Falls sie nicht schon vorher nach Hause geschickt wurde. Es gibt nur die Entscheidung, die im Augenblick am überzeugendsten erscheint."

"Granny, was ist aber, wenn …", ich zögerte, "wenn ich …"

Ich brauchte es gar nicht auszusprechen, Granny wusste auch so Bescheid. "Meine Kleine, wahre Liebe verzeiht vieles. Und wenn er wirklich so viel empfindet, wie du gesagt hast, dann wird sein Glück über deine Rückkehr ihn alles andere vergessen lassen."

Die nächsten Stunden lief ich ziellos durch Sheffield. Es war schwierig meine Gedanken zu ordnen.

Snape liebte mich, zumindest hatte er das gesagt. Außerdem waren da nicht auch die vielen kleinen, teilweise unbeholfenen Gesten, mit denen er versucht hatte, es mir zu zeigen, bevor er es aussprach?

Er hatte um mich gespielt, als er bemerkte, dass er mein Verhalten nicht vorausplanen konnte. Das Ergebnis war, er hatte verloren. Doch hatte er das wirklich? Eine kleine Stimme in meinem Kopf gestand: "Solange ich noch darüber nachdenke, kann er gar nicht verloren haben."

Meine Zukunft mit Tom gehörte der Vergangenheit an. Diese Entscheidung hatte ich sehr schnell getroffen und ich wollte alles regeln, bevor ich eine Entscheidung über Snape traf. Also kaufte ich in einem Schreibwarenladen einen Umschlag, den ich an Tom Mitchell adressierte. Ich zog den Verlobungsring vom Finger, legte ihn hinein und verschloss dann das Kuvert.

Da es bereits dunkel wurde, konnte ich es riskieren, den Umschlag mit der magischen Post zu versenden. Ich sprach einen leisen Zauberspruch und es dauerte keine fünf Minuten bis eine Eule kam, der ich den Brief ans Bein band. Kurze Zeit später war sie bereits in der Dunkelheit verschwunden.

Blieb also nur noch das Problem ‚Snape'.

Er hatte es erreicht, dass ich ihn in diesen letzen Tagen besser kennen gelernt hatte. Ich war nicht so naiv zu glauben, dass ich ihn nun in- und auswendig kannte. Der sarkastische, hochmütige Lehrer war nicht nur reine Fassade - es war ein Teil von ihm, aber er war eben auch mehr. Und genau das hatte ich in der Zeit, die ich bei ihm verbracht hatte, festgestellt.

Granny hätte jetzt bestimmt gesagt: "Der Mensch ist immer die Summe seiner Taten."

Mir wurde klar, hätte Snape heute Morgen meine indirekte Aufforderung mit ihm zu schlafen angenommen, so hätte er bewusst alles zerstört, was ich in den letzten Tagen an Gefühlen für ihn entwickelt hatte.

Das war der Anlass für mich, über meine Gefühle für Snape nachzudenken. Aus Hass bestanden sie jedenfalls nicht, sofern ich Snape jemals wirklich gehasst hatte. Das Mitleid, das ich kurze Zeit für ihn empfunden hatte, war durch andere Empfindungen ersetzt worden. Ob andere diese Gefühle als Liebe bezeichnen würden, konnte ich nicht beantworten.

Die Fehler, die ich in der Beziehung zu Tom gemacht hatte, würden mir sicherlich nicht noch einmal passieren. Mir fielen Grannys Worte ein. Mit dieser Entscheidung würde ich für den Rest meines Lebens zurechtkommen müssen.

"Gehe ich nicht", dachte ich, "wird da immer die Frage nach dem Was-wäre-Wenn sein."

"Was passiert eigentlich", fragte diese Stimme in meinem Hinterkopf, "wenn du zu ihm gehst?"

"Nichts", beantwortete ich mir die Frage. "Entweder es funktioniert oder es geht schief."

Ich konnte mit den Konsequenzen, die das eine oder das andere Ergebnis nach sich zog, leben. Meine Entscheidung war gefallen. Ob es nur für heute Nacht oder für länger war, es spielte auf einmal keine Rolle mehr, auch dann nicht wenn ich unverrichteter Dinge nach Sheffield zurückkehren würde.

Mittlerweile war es kurz vor Mitternacht. Ich ängstigte mich vor dem Gespräch, denn ich hatte Snape zu sehr verletzt, als dass er mir auch nur ein Wort, von dem was ich gesagt hatte, vergeben würde, auch wenn Granny etwas anderes behauptet hatte.

Das Anwesen in der Blackthorne Lane war dunkel und aus dem Kamin stieg kein Rauch auf. Ich klopfte an die Tür. Das Geräusch hallte durch das Haus. Nichts rührte sich. Ich klopfte noch einmal, diesmal fester und lauter.

"Lasst mich in Ruhe!" Snapes Stimme klang krampfhaft beherrscht.

Ich klopfte noch ein drittes Mal. Endlich hörte ich seine schlurfenden Schritte im Flur. Er öffnete die Haustür und starrte mich ungläubig an. Er hatte sich weder umgezogen, da er immer noch die Pyjamahose und den Morgenmantel trug, noch rasiert, denn sein Kinn und seine Wangen leuchteten dunkel.

Wortlos trat ich ins Haus. Snape schloss die Tür und beobachtete, wie ich meinen Umhang an der Garderobe aufhängte. Er hatte sich einige Schritte von der Tür entfernt und wartete.

Ich atmete tief durch und hatte plötzlich Schmetterlinge im Bauch. "Da ist etwas, das ich dich fragen möchte."

"Und was möchtest du mich fragen?", fragte er bedrückt.

Ich nahm allen Mut zusammen. - "Kann ich … an einer Muggel-Uni studieren?" - Das war es eigentlich nicht gewesen, was ich ihm hatte fragen wollen.

In seinen Augen las ich Ungläubigkeit. "Ja." Er ließ dieses Wort fast wie eine Frage klingen.

"Würdest du -" Nun stand ich ihm frontal gegenüber und musste noch mehr gegen das Gefühl in meinem Magen ankämpfen, "würdest du mir Harfenunterricht geben?" - Warum musste mich gerade jetzt meine Entschlossenheit im Stich lassen?

"Ja." Seine Stimme zitterte.

"Darf ich - die Farben aussuchen - für das Haus?" - Schon wieder nicht die richtige Frage. Vor lauter Verzweiflung, weil ich nicht wusste, wie es ihm sagen sollte, bekam ich einen Kloß im Hals.

"Ja", sagte er sanft und wartete immer noch geduldig darauf, was ich ihn wirklich fragen wollte.

Ich begann vorsichtig, über die Kragenaufschläge seines Morgenmantels zu streicheln.

"Und … kann ich …" Ich brach ab. Ich fand einfach nicht die richtigen Worte.

Snape war es, der sie fand: "Ja, alles!", und er hätte mir wahrscheinlich in diesem Moment sämtliche Sterne vom Himmel gezaubert, wenn ich ihn darum gebeten hätte.

Auf einmal war es leicht ihn zu fragen: "Kannst du mich küssen, bitte." Meine Augen blickten ihn auffordernd an.

Vorsichtig, so als ob er fürchtete, dass ich mich in Luft auflösen könnte, wenn er zu heftig reagierte, nahm er mich in den Arm. Sanft presste er seine Lippen auf meinen Mund. Erst ganz leicht, dann ein wenig fester. Mehr passierte nicht, doch ich hatte das Gefühl, die Zeit wäre stehen geblieben. Meine verbliebenen Zweifel, ob die Entscheidung hierher zurückzukommen richtig gewesen war, lösten sich in nichts auf.

Ich fürchtete, dass meine zurückhaltende Art Snape enttäuschen könnte. Stattdessen sah ich in seinem Gesicht, dass der gequälte, zynische Ausdruck einer zufriedenen, sanften Miene gewichen war.

"Ja, das geht klar", lächelte ich. "Ich wollte mich nur vergewissern, dass beim Küssen mit dir nichts schief geht."

Auf Snapes Gesicht erschien ein Lächeln.

Da Snape keine Anstalten machte, sich aus dem Flur fortzubewegen, musste ich wohl oder übel doch den ersten Schritt tun. "Kann ich jetzt bitte ins Bett gehen." Ich wurde ein wenig rot. "Ich bin so müde."

Sein Lächeln wuchs in die Breite und er nickte.

Verlegen ging ich ins Schlafzimmer. Auf dem Bett lag noch immer dieses sündhafte Spitzennachthemd. - Es war jetzt genau das Richtige.

Ich öffnete den ersten Knopf an meinem Kleid, als ich bemerkte, dass Snape in der Tür stehen geblieben war und mich beobachtete.

"Miss Smith", sagte er sanft, "wissen Sie woher das Wort ‚Liebe' stammt?"

Ich blickte ihn verwirrt an.

"Es leitet sich vom indogermanischen ‚lubh' ab - und das bedeutet ‚Begehren'."

Dann schloss er die Schlafzimmertür.


E N D E
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A/N:
Ich gehöre zu den Menschen, die es lieben,
wenn das Weitere der Phantasie überlassen bleibt.

Aber wenn ihr trotzdem weiter lesen wollt, dann findet ihr das Dessert
in der "restricted section", d. h. unter den "ab 18-Geschichten".
Chalebh

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Kapitel 9

Dessert

 

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