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Kapitel 1: Ein Mörder kehrt immer zurück
"Was sollen wir jetzt tun, Harry? Dies war der letzte Ort auf unserer Liste, und hier ist er auch nicht."
Ein langer Moment des Schweigens entstand. Ron und Hermine schauten erwartungsvoll den jungen Mann mit der blitzförmigen Narbe an, der, offensichtlich tief in Gedanken, auf das alte, verlassene Kloster starrte. Es hieß, Voldemort hätte dort einige Zeit zugebracht und geheime Forschungen angestellt und gräuliche Experimente durchgeführt. Seither spukte es angeblich in dem alten Kloster, aber von dem vorletzten der Horcruxe, Rowena Ravenclaws magischem Spiegel, hatten sie keinerlei Spuren finden können.
Endlich riss Harry seinen Blick von dem alten Gemäuer los, Entschlossenheit in seinen Augen. "Wir gehen nach Hogwarts."
"Aber Harry, was um alles in der Welt sollen wir denn dort? Ich bin mir sicher, dass weder Hagrid noch Professor McGonagall mehr über den Spiegel wissen als wir, und die beiden sind die einzigen Leute, die noch in Hogwarts sind, jetzt, wo die Schule geschlossen worden ist."
"Das weiß ich. Aber gerade du solltest wissen, dass die Bibliothek immer noch dort ist, Hermine. Holst du dir nicht immer Rat in Büchern, wenn du nicht mehr weiter weißt? Vielleicht finden wir dort etwas über den Spiegel." Plötzlich verzog sich Harrys Gesicht zu einer hasserfüllten Grimasse. "Und vielleicht finden wir noch etwas anderes in Hogwarts. Du kennst doch bestimmt das alte Muggel-Sprichwort, ‚Ein Mörder kehrt immer an den Ort seines Verbrechens zurück', oder, Hermine?"
"Du - du meinst Snape?"
"Jaah, Snape ..."
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Es war mehr als merkwürdig nach Hogwarts zu kommen und nicht einen einzigen Schüler draußen auf dem Gelände oder im Schloss anzutreffen. Zuerst hatten sie der Direktorin in der verwaisten Schule einen kurzen Besuch abgestattet, und nun gingen die drei Freunde auf Hagrids Hütte zu.
"Harry!", röhrte der Halbriese hocherfreut, als er die Tür öffnete, und schloss den Teenager fest in die gigantischen Arme. "McGonagall sagte, dass ihr her kommt, aber ich konnt' es nich' glauben, nich' eh ich euch nich' mit eig'nen Augen geseh'n hab'!" Halb lachend und halb schluchzend begrub er Harry in einer weiteren Umarmung, die dem jungen Zauberer fast die Luft abdrückte und ihn stark am Wahrheitsgehalt der Prophezeiung zweifeln ließ; er war wohl dazu bestimmt an gebrochenen Rippen und Sauerstoffmangel zu sterben...
"Komm rein, mein Junge, un' ihr auch. Ron. Hermine. So froh euch zu seh'n. Ihr seid hier um Nachforschungen anzustellen, hab' ich gehört? Un' übernachtet auch noch in meiner bescheid'nen Hütte! Seidenschn- ich mein' Federflügel wird sich riesig freu'n euch zu seh'n, wird er bestimmt. S'war so einsam hier nach allem, was passiert is' ..."
Harry, der nach der erstickenden Umarmung noch immer nach Luft schnappte, betrat mit seinen besten Freunden die wohlbekannte Hütte und setzte sich an den riesigen Holztisch. Seit Aragogs Beerdigung hatte sich nichts hier verändert, so schien es. Auch Hagrid sah aus wie immer. Obwohl, war es nur das Spiel des flackernden Lichts aus dem offenen Kamin, oder war da mehr Grau in seinem Bart und seinem struppigen Haar? Und in seinen freundlichen, dunklen Augen lag eine merkwürdige Traurigkeit, die Harry vorher nie dort wahrgenommen hatte.
Wir haben uns alle verändert, dachte Harry, und plötzlich fühlte er sich schrecklich alt - alt und müde bis in die Knochen. Die gefährliche Jagd nach den Horcruxen hatte ihn viel mehr gekostet, als er sich eingestehen wollte, und ohne Ron und Hermine wäre er niemals so weit auf seiner Suche gekommen. So viel war nach der Beisetzung Dumbledores im letzten Sommer geschehen; viele unschuldige Menschen waren seither gestorben, manche davon waren Schüler in Hogwarts gewesen, Freunde ... Cho Chang, Dean Thomas, die Patil-Zwillinge. Und Mundungus Fletcher. Bei dem Gedanken an den Tod des alten Diebes schauderte Harry zusammen. Warum war Mundungus nur so dumm gewesen zu versuchen das Medaillon mit Gewalt zu öffnen? Wenn sie nur früher darauf gekommen wären, wo das Medaillon zu finden sein könnte...
Jetzt, im Nachhinein, konnte er nicht verstehen, warum in aller Welt sie den ganzen Sommer dazu gebraucht hatten herauszufinden, dass der geheimnisvolle R.A.B. niemand anderer war als Regulus Arcturus Black, Sirius' jüngerer Bruder. Dass Slytherins Medaillon all die Jahre in Nummer Zwölf, Grimmauld Platz versteckt gewesen war, bis Sirius es direkt unter seinen Augen in den Müllsack geworfen hatte, während sie beim Hausputz waren - Sirius, der gedacht hatte, sein Bruder sei ein Feigling und Dummkopf. Nach seinem Horrortrip zu der Höhle mit Dumbledore letzten Sommer konnte sich wohl niemand außer ihm vorstellen wie mutig Regulus gewesen sein musste. Immerhin hatte er den mächtigsten Zauberer aller Zeiten mit sich gehabt, während Regulus vollkommen allein gewesen war. Und der jüngere Black wusste von Anfang an, dass er für seinen Verrat mit dem Leben bezahlen würde ... Natürlich hatte Kreacher das Medaillon und einige weitere dunkle Gegenstände aus dem Sack gefischt und versteckt, ehe es mit all den anderen Dingen im Müll landen konnte. Mundungus musste es gefunden haben, als er sich zurück ins Hauptquartier geschlichen hatte, um Sirius' Sachen zu stehlen. Nichts als verkohlte Knochen und schwelende Asche waren von Mann und Horcrux übrig geblieben...
Glücklicherweise war das Auffinden und Zerstören des Pokals von Helga Hufflepuff vergleichsweise fast einfach gewesen, als sie erst einmal die Idee hatten, das heruntergekommene und schon lange verlassene Waisenhaus zu durchsuchen, in dem Tom Riddle seine Kindheit verbracht hatte. Doch der fünfte Horcrux war eine harte Nuss zu knacken gewesen. Wenn Luna Lovegood nicht Weihnachten im Fuchsbau verbracht und ihnen die Geschichte von der Ermordung ihrer Urgroßmutter Aurelia Ravenclaw erzählt hätte, hätten sie vielleicht nie von der Existenz des Spiegels erfahren. Wer hätte je gedacht, dass ausgerechnet die verrückte Luna eine direkte Nachfahrin einer der vier Gründer war! Kein Wunder, dass der Sprechende Hut sie nach Ravenclaw geschickt hatte ...
Leider hatte das Wissen darüber, was der Horcrux mit großer Wahrscheinlichkeit sein konnte, ihnen bisher nicht wesentlich weitergeholfen ihn zu finden. Und dann waren da noch Nagini und Voldemort selbst. Und Snape... Es hatte einige wenige Sichtungen des Verräters gegeben, oder wenigstens behauptete dies der Tagesprophet, aber obwohl er ganz oben auf der Fahndungsliste des Ministeriums stand, waren weder Auroren noch irgendjemand sonst auch nur nahe daran gekommen, Severus Snape zu stellen. Er war genauso ungreifbar wie sein Meister, und fast ebenso gefürchtet. Kein Wunder bei all den Gerüchten, die sich mit der Geschwindigkeit von Drachenpocken über das ganze Land ausgebreitet hatten. Snape muss hoch erfreut darüber sein, dass er nun sogar noch gefürchteter war als der angebliche Massenmörder Sirius Black es je gewesen war, dachte Harry grimmig. Aber er, Harry Potter, würde das Hohnlachen von dem verhassten Gesicht wischen, ihn dazu bringen auf den Knien um Gnade zu flehen und sie nicht gewähren...
"... dieser Rabe kommt auch manchmal, nachdem er Wache auf dem Astronomieturm gesessen hat oder was auch immer er da oben tut. Kommt herunter gesegelt, sitzt für 'ne Weile auf dem Grabmal, als sei er aus Stein gemeißelt, und glaubt mir oder nich', wenn Raben überhaupt traurig und zerknirscht dreinschau'n können, dieser tut es, bei meiner Seel'. Dann gibt er einen Krächzer von sich und fliegt wieder weg. Merkwürdiger Vogel, das. Läßt mich nie näher an sich ran. Scheint auch 'ne höllische Angst vor Seiden-Federflügel zu haben. Aber das sin' alle, die den Direktor besuchen - McGonagall, ich selbst un' dieser seltsame Rabe."
Tief versunken in seine düsteren Gedanken hatte Harry kaum auf Hagrids Gerede geachtet. Doch bei der Erwähnung des Rabens hatte er aufgehorcht. Warum würde ein normaler Rabe auf den Astronomieturm fliegen und dort Wache halten? Und warum, bei Merlin, würde er Dumbledores Grab besuchen? Das machte keinen Sinn. Außer ...
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Die drei Freunde standen vor Dumbledores Grabmal, als Harry ihnen am nächsten Morgen von seinem Verdacht erzählte.
"Du glaubst wirklich, dass der Rabe -?", fragte Ron mit vor Überraschung geweiteten Augen.
"Ich bin mir vollkommen sicher, dass er es ist. Wie ich euch schon sagte, ein Mörder kehrt immer zurück. Der Rabe ist Snape. Und ich werde es beweisen."
"Aber woher sollen wir wissen, wann er das nächste Mal wieder herkommt, falls er überhaupt kommt", gab Hermine zu Bedenken. "Du kannst unmöglich vierundzwanzig Stunden am Tag auf dem Astronomieturm nach ihm Ausschau halten. Wir sind hier, um in der Bibliothek Nachforschungen anzustellen. Außerdem ist es ungewöhnlich kühl für Mai." Sie rieb sich die vor Kälte steifen Hände.
"Hat Hagrid nicht gesagt, er käme tagsüber, vorzugsweise in der Abenddämmerung?", erwiderte Harry fest entschlossen. "Wir teilen uns auf. Du arbeitest in der Bibliothek, Hermine, und ich behalte den Turm im Auge. Ron kann uns beiden helfen, Sachen abschreiben, mir Bücher auf den Turm hoch bringen ..."
"Du willst ihn wirklich kriegen, nicht wahr, Harry? Aber was wirst du tun, wenn er tatsächlich zurück kommt? Ihn töten?", fragte Hermine aufgeregt. "Harry!"
Aber Harry hatte sich bereits umgedreht und lief auf das Schloss zu.
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Hermine hatte Recht, es war tatsächlich viel zu kühl für Mai, dachte Harry, als er zusammengekauert unter seinem Tarnumhang wieder einmal Wache auf dem höchsten der vielen Türme von Hogwarts schob. Den ganzen Morgen über hatte ein dichter Nebel die Ländereien und den Wald verhüllt und es Harry unmöglich gemacht, weiter als seine eigene Hand zu sehen. Trotzdem hatte er ausgeharrt. Um keinen Preis wollte er den Raben verpassen. Glücklicherweise hatte sich der Nebel gegen Mittag gelichtet, aber es war noch immer kalt und windig hier oben. Falls Snape nicht bald auftauchte ... Durch ein Quietschen der Tür wurde Harry in seinem Gedankengang unterbrochen, und Ron betrat keuchend die Plattform.
"Sie könnten wenigstens einen Aufzug hier hoch haben oder eine verzauberte Treppe wie die, die zu Dumble - McGonagalls Büro führt", klagte er und schaute grimmig auf den Stapel Bücher in seinen Armen. "Seit fast zwei Wochen schlepp ich jetzt schon Bücher hier hoch und runter und noch immer keine Spur von einem Raben. Und über diesen Spiegel haben wir auch noch nicht wirklich etwas herausgefunden. Wenn du mich fragst, dann verschwenden wir nur unsere Zeit, Kumpel."
"Früher oder später wird der Rabe auftauchen. Aber wenn du weiter dort stehen bleibst, verschwindet er im selben Augenblick wie er dich sieht. Komm unter den Umhang und hör auf mit dem Gejammere." Ron tat wie ihm geheißen, und die beiden Freunde verbrachten einen weiteren Nachmittag auf dem Astronomieturm, beobachteten den Waldrand und suchten in staubigen alten Büchern nach Antworten, aber bekamen keine.
"Ich kann meine Augen einfach nicht mehr länger offen halten", stöhnte Ron schließlich. "Es wird ohnehin langsam zu dunkel. Und ich verhungere. Lass uns runter gehen und etwas essen. Kommst du, Harry?"
"Warte einen Augenblick, Ron. Ich glaube, ich habe am Waldrand etwas gesehen!"
"Da bewegt sich doch ständig was, Eichhörnchen zum Beispiel, oder Frettchen, oder Eulen, oder -"
"Oder ein Rabe. Schscht, er kommt!"
Ein großer, schwarzer Vogel hatte die Schatten des Verbotenen Waldes verlassen und kam mit mächtigen Flügelschlägen in Richtung des Astronomieturms geflogen. Wie Hagrid ihnen erzählt hatte, landete er auf einer der Zinnen, ließ seine durchdringenden, pechschwarzen Augen über die Ländereien von Hogwarts schweifen, und saß dann bewegungslos im letzten Schein des Sonnenuntergangs, ein unheimlicher, schwarzer Schatten gegen den orange glühenden Himmel.
In einer einzigen, fließenden Bewegung warf Harry seinen Tarnumhang zur Seite, richtete seinen Zauberstab auf den Raben und rief den ersten Fluch, der ihm in den Sinn kam:
"Sectumsempra!"
TBC