Kapitel 8
Hatte Alcyone auch nur noch einen Funken Hoffnung gehabt, daß sie sich in ihrer Vermutung geirrt hatte, dann war dieser nun auch erloschen.
"Ist das auch sicher?", fragte sie ihn vorsichtig.
Dr. Brinkman nickte. "Ja, es gibt keinen Zweifel".
Die Worte von Dr. Brinkman drangen durch ihr Ohr und hinterließen ein Gefühl der Verwirrung und Hilflosigkeit. Warum war sie schwanger? Das durfte nicht sein, das war ein unpassender Zeitpunkt. Eine Schwangerschaft konnte sie momentan überhaupt nicht brauchen, unter gar keinen Umständen.
Alcyone atmete tief und langsam ein, dann genauso langsam wieder aus. Sie versuchte ruhig zu bleiben und einen erneuten Ohnmachtsanfall auf diese Art zu verhindern.
"Alles in Ordnung, Miß Hide?", fragte Dr. Brinkman besorgt.
Alcyone nickte schwach. "Es geht schon, es ist nur, das kommt so unerwartet."
"Viele Schwangerschaften sind unerwartet", versuchte er sie aufzumuntern, womit er aber bei Alcyone keinen Erfolg hatte.
Unerwartet? Ja, allerdings. Aber vor allem ungewollt. Was sollte sie jetzt tun? Die Situation schien ihr im Moment völlig aussichtslos. Sie wußte keine Lösung, hatte keine Idee, was sie jetzt tun sollte.
"Sollen wir den Vater anrufen?", fragte Dr. Brinkman sie und unterbrach somit ihre verwirrten Gedankengänge.
Alcyone schüttelte den Kopf. "Nein, er ist momentan im ähem im Ausland", log Alcyone. Was hätte sie auch sonst sagen sollen? ‚Oh, per Telefon können Sie ihn nicht erreichen. In Hogwarts, der Zauberschule gibt es kein Telefon'. Dann hätte man sie vermutlich gleich in die Klapse gesteckt.
Alcyone versuchte aufzustehen.
"Nein Miß Hide", sagte Dr. Brinkman und versuchte sie sanft wieder auf die Liege zu schieben. "Sie sollten noch etwas liegen bleiben."
Alcyone schüttelte den Kopf. "Mir geht es schon viel besser. Ich will Ihre Zeit nicht noch länger in Anspruch nehmen."
Alcyone bemerkte wie Dr. Brinkman gerade wieder anfangen wollte ihr einen Vortrag zu halten, und zwar genau den, den er ihr schon vor ein paar Minuten halten wollte. Deshalb ergriff sie das Wort, ehe er die Chance dazu hatte. "Doktor, ich kann auch zu Hause liegen und glauben Sie mir, da liege ich deutlich bequemer als hier."
Alcyone versuchte erneut sich aufzurichten. Diesmal hielt Dr. Brinkman sie nicht von ihrem Vorhaben ab.
"In Ordnung. Ich kann Sie nicht gegen Ihren Willen hier behalten." Die Art wie er diese Worte sprach, sagten deutlich aus, daß er Alcyone nicht gerne in diesem Zustand gehen lassen wollte.
Als Alcyone auf der Liege saß und die Beine herunter baumeln ließ fragte er sie: "Soll ich Ihnen ein Taxi bestellen?"
Alcyone schüttelte den Kopf. "Das ist nicht nötig. Ich wohne hier gleich um die Ecke. Sind nur fünf Minuten zu laufen."
"Na schön. Ihre Entscheidung", sagte Dr. Brinkman und wieder klang es danach, daß er nicht damit einverstanden war.
Alcyone stieg ganz langsam von der Liege. Dabei wurde ihr leicht schwarz vor den Augen, was völlig normal war, bei dem, was sie gerade durchgemacht hatte und sie blieb einige Sekunden bewegungslos stehen. Kaum hatte sich ihr Blickfeld und Gleichgewicht wieder normalisiert nahm sie die Tür in Angriff.
"Äh Miß Hide", hielt Dr. Brinkman sie auf, kaum daß sie den ersten Schritt getan hatte.
Alcyone blieb stehen und drehte sich zu ihrem Arzt um.
"Bevor Sie gehen sollten Sie wissen, daß sie so bald wie möglich zu einem Frauenarzt gehen sollten, zur weiteren Behandlung."
Alcyone nickte. "Natürlich."
Sie wollte sich gerade wieder in Bewegung setzen, als Dr. Brinkman sie erneut aufhielt.
"Ja Doktor, was gib es noch?"
Dr. Brinkman lief zu seinem Schreibtisch und holte einen Umschlag, den er Alcyone in die Hand drückte.
"Was ist das?", fragte sie und dachte im ersten Augenblick an eine Rechnung.
"Sehen Sie selbst nach", forderte sie Dr. Brinkman auf.
Alcyone nahm den weißen Umschlag, drehte ihn und öffnete ihn. Zum Vorschein kamen ein paar schwarz-weiß Aufnahmen, mit denen Alcyone im ersten Augenblick nichts anfangen konnte. Erst bei genauerem Hinsehen erkannte sie, um was es sich handelte. Es waren Ausdrucke der Ultraschalluntersuchung, die Dr. Brinkman bei ihr vorgenommen hatte. Es war nicht sehr viel darauf zu erkennen, einzig und allein ein kleiner schwarzer Punkt verriet, um was es sich hierbei handelte. Es waren die ersten Fotos von ihrem ungeboren Kind.
Alcyone lief nicht direkt nach Hause.
Die frische Luft tat ihr gut und so beschloß sie, einen kleinen Spaziergang zu machen.
Es war zwar etwas kühl an diesem Februarabend und der Wind war etwas stärker, als an den letzten Tagen, doch das störte Alcyone in diesem Augenblick nicht.
Sie zog ihren Schal enger um den Hals und schloß alle Knöpfe an ihrem Mantel.
An der nächsten Kreuzung bog Alcyone rechts ab und lief einige Meter durch eine fast menschenleere Straße. Es war zwar noch nicht sehr spät, aber die Dämmerung hatte schon der Dunkelheit Platz gemacht. Die Straßenlampen brannten in ihrer üblichen Helligkeit und verliehen der grauen Straße nicht unbedingt Freundlichkeit.
Als Alcyone das Ende dieser Straße erreicht hatte, bog sie schräg nach links ab und kam an einen ihrer Lieblingsplätze, einem Fußweg bei der Themse.
Alcyone überquerte die Straße und begab sich auf den kleinen Fußweg. Von hier aus konnte sie die Tower Bridge sehen. Diese war wunderschön beleuchtet und warf Licht ins Wasser, was diesem eine schöne Reflexion verlieh und einfach nur schön aussah.
Alcyone lehnte sich ans Geländer und schaute einfach nur die Brücke und das Wasser an.
Es sah einfach nur friedlich aus und das leichte Rauschen des Stromes hatte eine beruhigende Wirkung auf sie.
Immer, wenn sie Streß hatte oder über etwas nachdenken musste, kam sie hierher und schaute auf das Wasser. Das beruhigte sie ungemein und nicht selten fiel ihr eine Lösung ihres Problems ein, nur meistens waren diese Probleme auch nicht so wie dieses hier.
Sie wollte mit jemandem darüber reden. Sie mußte mit jemandem darüber reden. Das war etwas, was man nicht mit sich alleine herum tragen konnte. Es würde sie irgendwann zerstören.
Ihr erster Gedanke galt Remus. Mit ihm konnte sie immer über alles reden. Wie sehr sie sich wünschte, daß er jetzt hier sein würde. Und sie wußte auch, daß er sofort kommen würde, wenn sie ihn darum bitten würde, aber das Ganze war nicht so einfach. Erst müßte sie ihm schreiben und dann müßte er auch noch die Möglichkeit haben, her zu kommen und in der ganzen Zeit dürfte kein Vollmond sein. Also schied Remus aus.
Sirius? Natürlich. Mit Sirius über seinen Erzfeind Severus reden und ihm ins Gesicht sagen, daß sie schwanger von Severus sei und das, wo sie sich gerade erst auch mit Sirius versöhnt hatte. Sehr taktvoll.
Wer blieb dann noch?
Alcyone fielen keine weiteren Namen ein. Sie hatte zwar genug Bekannte, aber ihr fiel beim besten Willen niemand ein, dem sie das hier erzählen konnte. Sie brauchte jemand dem sie vertrauen konnte, bei dem sie sicher sein konnte, daß er es nicht weitererzählen würde.
Aber wer kam da in Frage?
Es war das alte Problem. Suchte man etwas mit aller Gewalt, fand man es nie.
Eine Schiffshupe ertönte und dann fuhr an Alcyone ein Schiff vorbei. Es war einer dieser Dampfer, die für Touristen waren und viel zu viel Geld kosteten.
Alcyone beobachtete das vorbeifahrende Schiff "MS Thomas". Sie folgte dem Fahrtweg des Schiffes und hielt plötzlich in ihrer Bewegung ein. Thomas. Der Name brannte sich in ihr Gedächtnis und mit einem Male war die Antwort auf ihre Frage da.
Tom.
Natürlich. Warum war er ihr nicht gleich eingefallen. Tom war ihr bester Freund, den sie hier hatte und sie vertraute ihm. Sie wollte ihm vertrauen. Bisher hatte sie ihm nichts gesagt von dem was in Hogwarts vorgefallen war, aber sie sollte es tun. Sie wollte es tun.
Entschlossen, Tom alle zu erzählen, verließ Alcyone ihren Lieblingsplatz an der Themse und lief nach Hause.
Doch soweit kam sie erst gar nicht.
Kaum hatte sie sich umgedreht und war zwei Schritte gelaufen, lief sie jemandem direkt in die Arme.
"Oh, hallo Al".
Alcyone trat einen Schritt zurück.
"Oh hallo Ben. Was tust du hier?"
"Ich bin auf den Weg zu einem Abendessen mit Jen. Du weißt schon, die Blonde aus der Rechnungsabteilung." Ben grinste über beide Ohren.
Alcyone musterte ihn kurz ganz genau. Er trug eine braune Jacke, einen rot-blau gestreiften Pullover und dazu einfache weite Jeans. Seine braunen Haare trug er zerzaust wie immer und er hatte sich endlich mal wieder rasiert.
Ben kam aus Deutschland und absolvierte hier im Ministerium ein Praktikum während seiner Ausbildung. Er arbeitete zur Zeit in Alcyones Abteilung und sie hatten sich von Anfang an auf rein freundschaftlicher Basis gut verstanden. Gut, er war auch zehn Jahre jünger als sie.
"So, mit Jen also. Ich dachte mir schon lange, daß du ein Auge auf sie geworfen hast."
Ben grinste etwas verlegen.
Beide schauten sich eine Minute an ehe einer von ihnen reagierte. Es war Ben. Er griff in seine Jackentasche eine Tüte voller Lakritze. "Möchtest du etwas? Ich liebe die Dinger"
Alcyone betrachtete die Tüte etwas angewidert und wollte nicht unhöflich sein. Also sagte sie: "Nein danke, ich habe keinen Hunger." Was nicht einmal der Unwahrheit entsprach, sondern sogar Tatsache war.
Ben schaute sie eine Sekunde an und sagte dann "Du siehst nicht wie jemand aus, der nur ißt, wenn er Hunger hat." Dann ließ er die Tüte wieder in der Jacke verschwinden.
Alcyone war geschockt. Diese Aussage hätte sie von vielen erwartet, aber nicht von Ben.
Ben wußte offensichtlich nicht, was er da gerade eben gesagt hatte, denn sein Gesichtsausdruck war immer noch gleich fröhlich, wie schon die ganze Zeit.
Alcyone ließ sich nichts anmerken, sondern lächelte Ben einfach weiter an.
"Gut, ich muß jetzt los. Schönen Abend noch", sagte Ben plötzlich.
Er ließ Alcyone stehen und lief weiter.
Alcyone schaute ihm kurz nach, dann kontrollierte sie, ob auch niemand in der näheren Umgebung stand. Da das nicht der Fall war, zückte sie den Zauberstab und murmelte einen Spruch.
Mit einem Grinsen auf dem Gesicht machte sie sich auf den Weg nach Hause und für wenige Minuten hatte sie ihre Sorgen vergessen.
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