Kinder der Nacht

 

 

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Kapitel 4: Au Revoir 

 

So weit er sehen konnte, hatte sich nichts verändert, seit er zum letzten Mal hier gewesen war. Die Eingangshalle wirkte so düster und kalt wie eh und je, wogegen auch das Feuer nicht ankam, das in dem großen, offenen Kamin prasselte. Er sah sich nach einem Lebenszeichen, und sei es auch nur in Form einer Hauselfe, um, konnte aber niemanden entdecken. Unwillkürlich zog er den Samtumhang, den er noch immer trug, fester um seinen Körper .

Das Schlafzimmer seiner Eltern lag im ersten Stock. Wahrscheinlich hatte man sie dorthin gebracht. Am Fuß der großen Freitreppe zögerte er. Was würde ihn dort oben erwarten? Würde sie überhaupt noch am Leben sein oder kam er bereits zu spät? Auf einmal beschlich ihn eine leise Angst. Würden sie ihm Vorwürfe machen, dafür, dass er nicht schon früher nach Hause gekommen war? Schließlich hatten sie ihn ja immer und immer wieder gebeten, doch er hatte oftmals nicht einmal geantwortet. Aber wie hätte er auch wissen sollen, dass ...

"Severus ...."

Er schwang herum und blickte in das blasse, von Sorge gezeichnete Antlitz seines Vaters. Beinahe wäre er wieder zurückgewichen, so erschreckte ihn das, was er da sah: Antonius Snape ähnelte seinem Sohn nur noch auf den ersten Blick. Seine Haare, die Severus von ihrem letzten Treffen noch als ebenso schwarz wie seine eigenen in Erinnerung hatte, waren schneeweiß geworden, das Gesicht wirkte eingefallen und müde und die Ringe unter seinen Augen zeugten von mehr als einer durchwachten Nacht.

Zu Severus Verwunderung schien der Eindruck von Bestürzung beim Anblick des Gegenübers auf Gegenseitigkeit zu beruhen. Antonius musterte seinen Sohn von oben bis unten, wobei sich die Sorgenfalten um seine Mundwinkel herum noch tiefer einzugraben und die Traurigkeit in seinen wässrigen Augen ins Unermessliche zu steigen schien. Keiner von beiden wagte es, seine Gedanken laut auszusprechen. Severus senkte den Kopf und machte sich auf einen Schwall von Vorwürfen gefasst, der nun ganz sicher auf ihn nieder rauschen würde. So sehr ihm dieser Gedanke auch zuwider war, musste er zugeben, dass eine solche Reaktion angesichts der vorliegenden Tatsachen nicht einmal ungerechtfertigt gewesen wäre.

Doch es blieb still. Langsam hob er den Kopf. Vor ihm stand sein Vater und starrte ihn an, als warte er auf irgendetwas. Severus begann, sich unbehaglich zu fühlen. Das hier, dieser leere Blick, war verletzender als ein böses Wort es jemals hätte sein können. "Mein Sohn ..." Seine Stimme klang hohl und ausdruckslos.
Severus wartete, aber als keine Fortsetzung kam, fragte er schließlich: "Wo ist sie?"
"Komm." Antonius ging an ihm vorbei, ohne ihn auch nur anzusehen, und stieg die Treppe hinauf. Er drehte sich nicht ein einziges Mal um.

Das Schlafzimmer, in dem Morgana Snape lag, war ein großer, abgedunkelter Raum, der nichts außer einem von Vorhängen umgebenen, vierpfostigen Bett aus dem letzten Jahrhundert und einem Kleiderschrank aus schwerem Eichenholz enthielt. Der Geruch, der im Zimmer hing war leicht süßlich und raubte Severus beinahe die Luft zum Atmen. Die ganze Situation, alles was passierte, kam ihm plötzlich unwirklich vor. Die Szenerie, die sich vor ihm ausbreitete - das Krankenzimmer, die zugezogenen Vorhänge, der Muggelarzt, der neben dem Bett stand - verschwamm vor seinen Augen und wurde zu einem tiefen, dunklen Strudel, der ihn immer weiter mit sich fortriss.

Seamus O'Flanaghan war seit nun mehr 35 Jahren Arzt in dem kleinen Küstendorf inmitten von Connemara und es gab nicht vieles, was ihn aus der Fassung gebracht hätte. Zwar waren ihm die Snapes mit ihrem großen, düsteren Schloss und den seltsamen Kleidern noch nie ganz geheuer gewesen, doch er war immer schon weit davon entfernt gewesen, sich über die Lebensweise anderer den Kopf zu zerbrechen. Sollten sie sich doch hinter ihren dicken Mauern verschanzen und ihren seltsamen Gewohnheiten nachgehen. Ihm war das egal, doch er wusste, dass sich die Leute unten im Dorfpub das Maul über die mysteriöse Familie im Herrenhaus zerrissen. Die Snapes, so wurde zumindest behauptet, hätten schon vor Jahrhunderten einen Pakt mit dem Teufel geschlossen, beschworen regelmäßig Dämonen und lockten unvorsichtige Kinder bei Nacht in ihre finsteren Keller, wo sie unaussprechliche Dinge mit ihnen anstellten.
Natürlich war das vollkommener Blödsinn, entsprungen aus dem jahrhundertealten und bis in die Gegenwart gepflegten Aberglauben der erzkatholischen, irischen Landbevölkerung, doch O'Flanaghan hütete sich, auch nur ein Wort zu diesem Thema zu sagen. Obwohl er das Herrenhaus nur sehr selten, oft in einem Zeitabstand von mehreren Jahren betrat, waren ihm die Bewohner noch nie als unangenehm oder gar als Bedrohung erschienen. Ganz im Gegenteil, offensichtlich handelte es sich um gebildete, kultivierte Menschen, vielleicht mit einem kleinen Hang zum Exzentrischen, aber das war ja heutzutage nichts Ungewöhnliches mehr.
Er bewunderte Antonius Snape dafür, dass er sich selbst um seine seit Längerem schwer krebskranke Frau kümmerte, anstatt sie in einem überbelegten Krankenhaus vor sich hin siechen zu lassen. Als sie die Krankheit erkannt hatten, war es bereits zu spät gewesen und jeder Therapieversuch, ob Operation oder Medikament, wäre nur mehr Quälerei gewesen und hätte ihr Leiden unnötig verlängert. Morgana Snape hatte die Schmerzen mit bemerkenswerter Haltung ertragen und nur selten kam es vor, dass er geholt werden musste, um ihr eine schmerzstillenden Spritze zu verabreichen. In der letzten Zeit jedoch hatte er immer häufiger eingreifen müssen und nun schien es, als sei das Ende endlich gekommen.

Es mochte hart klingen, doch in diesem Fall war der Tod in seinen, Seamus O'Flanaghans Augen, eine Erlösung für alle Beteiligten. Morgana hatte ihren Sohn sehen wollen, was nur zu verständlich war und so hatte er Antonius nahegelegt, den jungen Mann so schnell wie möglich kommen zu lassen. Er hatte zwar gewusst, dass die Snapes einen Jungen hatten, doch da dieser schon früh auf ein Internat geschickt worden war, hatte er ihn nur sehr selten gesehen, in den letzten Jahren überhaupt nicht mehr.
Trotzdem war ihm sofort klar, wen er vor sich hatte, als er Severus Snape ins Zimmer treten sah.

Gütiger Gott, was, wenn die Leute im Dorf doch recht hatten? Dieser junge Mann, viel älter als 20 konnte er kaum sein, sah aus wie der Teufel höchstpersönlich. Er trug einen langen, schwarzen Umhang, das dunkle Haar hing ihm strähnig ins Gesicht und seine Augen loderten wie die eines wilden Tieres. Das hier war kein Mensch ... Doch ebenso schnell, wie er sich hatte gehen lassen, fing sich O'Flanaghan auch wieder. Sein geschultes Auge sagte ihm, dass er hier eindeutig einen Drogenabhängigen vor sich hatte. Die pergamentartige Haut, die geweiteten Pupillen, die überlangen Ärmel, die wahrscheinlich die vom Spritzen zerstochenen Arme verbergen sollten ... Er fragte sich, ob Antonius Snape von der offensichtlichen Sucht seines Sohnes wusste. Vielleicht sollte er ihn darauf ansprechen ... aber dafür war jetzt wohl der falsche Zeitpunkt. Es würde schwer genug werden.

Severus hielt den Atem an, als er an das Bett trat, in dem der scheinbar leblose Körper seine Mutter lag. Zuerst dachte er, sie wäre bereits tot, doch dann erkannte er, dass sich ihre Brust in regelmäßigen Abständen hob und dann wieder senkte. Sie hatte schon immer sehr blass und zerbrechlich gewirkt, doch nun wirkte sie beinahe, als könnte der kleinste Windhauch sie zu Staub werden lassen. Severus war zu keinem klaren Gedanken mehr fähig. Die Gefühle, die Eindrücke, der Schock - das alles stürzte so schnell auf ihn ein, dass er nicht dazu in der Lage war, es zu verstehen, geschweige denn es zu verarbeiten. Mechanisch streckte er die Hand aus und strich seiner Mutter vorsichtig über die Wange, gerade so, als wäre sie aus Glas. Plötzlich sah er sie vor sich, damals, als sie ihn zum ersten Mal zum Hogwarts Express gebracht hatte, zusammen mit seinem Vater.

***



"Severus, du brauchst keine Angst zu haben."
"Ich habe keine Angst."
"Ich bin mir sicher, du wirst bald viele Freunde haben."
"Du weißt genau, dass ich am liebsten alleine bin."
"Aber manchmal kann es sehr schön sein, Gesellschaft zu haben."
"Vielleicht ..."
"Oh Severus, mach es mir doch nicht so schwer !"
"Ich werde zurecht kommen."

Der Zug fährt ein. Unzählige Kinder umarmen und küssen ihre Eltern. Vereinzelt kann man ein leises Schluchzen hören oder eine verstohlene Träne sehen. Nur der schwarzhaarige Junge steht reglos und beobachtet die Szenerie mit seinen kalten klaren Augen.

"Du musst jetzt gehen." Die Frau kämpft sichtbar mit den Tränen.
"Auf Wiedersehen, Mama. Auf Wiedersehen, Papa."
"Oh Severus. Ich werde jeden Tag an dich denken."
"Vergiss nicht zu schreiben!"
"Ich werde euch schreiben, sobald ich angekommen bin."

Die Frau, die augenscheinlich seine Mutter ist, will ihn in die Arme schließen, doch er reißt sich los, packt seinen kleinen Koffer und verschwindet in der Menge.

"Severus, komm zurück!"

Die Worte seines Vaters verhallen ungehört auf dem überfüllten Bahnsteig. Der Zug macht sich zur Abfahrt bereit. Letzte Worte werden ausgetauscht, die Reihen lichten sich, die meisten Kinder sitzen nun bereits im Zug. Da taucht aus dem Dampf der Lokomotive plötzlich der kleine, schwarzhaarige Junge wieder auf. Er läuft auf seine Mutter zu und wirft sich ihr in die Arme. Die Tränen laufen ihm übers Gesicht, während er sich an ihren Körper presst.

"Mama, ich will nicht gehen ...ich habe Angst."
"Hab keine Angst."
"Verlass mich nicht."

***



"Verlass mich nicht!" Er wusste nicht, dass er diese Worte aussprach. Er wusste überhaupt nicht, was er tat. Das war nicht er, der da an diesem Bett saß.
"Severus ..." Sie versuchte die Augen zu öffnen, doch es gelang ihr nur für einen kurzen Moment. Als sie ihn ansah, lächelte sie. Ein erleichtertes, befreiendes Lächeln. "Severus ... ich habe dich nie verlassen ..." Das Sprechen strengte sie sichtlich an, doch sie sammelte noch einmal all ihre Kraft und holte tief Luft. "... und ich werde dich auch nie verlassen. Wenn du mich brauchst ... dann werde ich da sein."

***



"Au Revoir." Sie drückt dem Jungen einen Kuss auf die Wange. Für einen Moment halten sie sich noch in den Armen, dann geht er, sehr aufrecht und mit gestrafften Schultern. Die Lok stößt ein lautes Tuten aus. Die Abfahrt steht nun unmittelbar bevor. Durch eines der Abteilfenster kann man das Gesicht des schwarzhaarigen Jungen sehen. Seine Augen blicken ins Leere.

 

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