Kapitel 12
Erzählt von Harry Potter:
Seit einer Ewigkeit saß sie nun schon so da. Die Beine mit den Armen umklammert in einem der plüschigen Sessel unseres fast leeren Gemeinschaftsraumes. Die meisten der Schüler verbrachten diesen unterrichtsfreien Tag in Hogsmeade oder draußen an der Sonne.
Ron und ich waren hier geblieben. Und Hermine. Genaugenommen waren wir beide nur ihretwegen nicht mit den anderen ins Dorf gegangen. Zuerst hatte sie nicht einmal zum Frühstück gehen wollen, aber schließlich hatten wir sie doch überreden können. Seitdem saß sie schweigend in dem Sessel und starrte regungslos in den Raum. Die dunklen Ringe unter ihren Augen zeugten von einer durchwachten Nacht.
„Hermine?“, fragte ich vorsichtig, doch sie reagierte nicht. „Sollen wir dich in dein Zimmer bringen? Du könntest etwas Schlaf gebrauchen.“
Hermine ignorierte mich weiterhin und ich warf Ron einen fragenden Blick zu. Was sollten wir tun? Doch mein bester Freund schien genauso ahnungslos, wie ich. Dies entnahm ich seinem hilflosen Schulterzucken. Ratlos setzten wir uns in eines der Sofas und warteten. Doch es geschah nichts. Für einige Zeit war der Gemeinschaftsraum erfüllt von gespenstischer Stille, dann versuchte es Ron: „Hermine? Können wir irgend etwas für dich tun?“
Als Hermine darauf keine Reaktion zeigte, fragte er fast flehend: „Bitte Hermine! Sag doch etwas!“ Doch sie schien es überhaupt nicht gehört zu haben, so versunken war sie in ihren Gedanken.
Ron warf mir zum zweiten Mal einen besorgten Blick zu, dann beschloß er offenbar, sich nun nicht weiter um Hermine zu bemühen. Er stand langsam auf und verschwand in unseren Schlafräumen.
Er ging einfach so davon und ließ mich mit Hermine und ihren Problemen alleine? Das konnte doch nicht wahr sein! Er konnte sich doch nicht einfach aus dem Staub machen, sobald es einmal Schwierigkeiten gab! Ich wollte gerade hinter ihm her gehen und ihn zur Rede stellen, da kam er bereits zurück. Er trug sein Schachspiel unter dem Arm. Eine Sekunde lang fragte ich mich, ob es Hermine gut heißen würde, wenn wir nun Schach spielten, doch ein Blick auf meine Freundin überzeugte mich davon, daß es ihr in diesem Moment total egal war, was wir taten. Sie hatte weder auf Rons Verschwinden noch auf seine Rückkehr eine Regung gezeigt.
Ich ließ mich gegenüber Ron nieder, der inzwischen die Figuren aufgestellt hatte. Wir begannen zu spielen und ich mußte meine ganze Konzentration aufbieten, um nicht schon nach einigen Zügen von Ron geschlagen zu werden. Er war einfach ein Genie auf diesem Gebiet. Noch nie hatte ich ihn besiegt. Und ich glaube, auch sonst niemand. Selbst Professor McGonagalls Schachfiguren hatte er geschlagen. Und das in unserem ersten Jahr in Hogwarts!
„Schach!“, ließ sich eben dieses Genie in diesem Augenblick hören und ich konnte mich nur aus dieser mißlichen Lage befreien, indem ich meine Königin opferte. Wundervoll! Ohne Königin hatte ich kaum noch Hoffnung. Obwohl, die hatte es von Anfang an nicht gegeben, und immerhin hatte ich mein unvermeidliches Ende etwas hinausgezögert.
„Wie bitte? Tut mir leid, aber ich habe dich nicht verstanden“, sagte Ron plötzlich. Erstaunt sah ich ihn an. Ich hatte doch gar nichts gesagt! Doch schnell sah ich, daß Ron nicht mit mir gesprochen hatte. Ich folgte seinem Blick und meiner fiel auf Hermine. Sie saß noch immer unbewegt da und hielt den Kopf gesenkt.
„Ich habe nicht einmal ein Photo von ihr“, flüsterte sie mit tonloser Stimme.
Ich brauchte einige Sekunden, bevor ich begriff, daß sie von Judy sprach. Erneut herrschte Schweigen. Weder ich noch Ron wußten, was wir auf Hermines Aussage erwidern sollten.
„Irgendwann werde ich vergessen, wie sie aussah. Ich habe nicht einmal ein Photo von ihr“, wiederholte Hermine, dann hob sie langsam ihren Kopf und starrte uns an. Ich war mir nicht sicher, ob sie uns auch tatsächlich wahrnahm. Es schien mir, als würde sie direkt durch mich hindurch blicken. Irgendwohin, in weite Ferne. Dann richtete sich ihr Blick ruckartig auf uns, als würde sie plötzlich aus tiefen Gedanken aufschrecken.
„Ich werde Professor Snape um ein Photo bitten.“
„Du willst was?“, fragte Ron entsetzt. Ich stimmte ihm gedanklich zu. Das konnte Hermine doch nicht tatsächlich vorhaben?
„Ich gehe zu Professor Snape und frage ihn, ob er ein Photo von Judy für mich hat“, bekräftigte sie in diesem Augenblick ihre Absichten.
„Hermine!“, schaltete ich mich nun ein. „Das kannst du nicht tun. Ich glaube nicht, daß er dich im Moment sehen will. Bestimmt nicht.“
„Vielleicht freut es ihn, wenn er merkt, daß er nicht der einzige ist, der um sie trauert. Ich werde auf jeden Fall jetzt gehen.“ Mit diesen Worten sprang sie aus dem Sessel und lief zur Tür des Gemeinschaftsraumes. Doch kurz bevor sie diese erreichte zögerte sie und drehte sich langsam zu uns herum.
„Kommt ihr mit? Ich möchte nicht alleine in die Kerker gehen!“, fragte sie und warf uns einen flehenden Blick zu.
Wie bitte? Ich sollte freiwillig hinunter in die Kerker gehen? Zu Snape? Niemals! Er würde mich auf der Stelle umbringen! Aus Rons entsetzten Gesichtsausdruck schloß ich, daß auch er nicht sonderlich angetan war von dieser Idee.
„Bitte!“, flüsterte Hermine. „Es ist mir wirklich wichtig!“
Man sah ihr deutlich an, daß diese Aussage der Wahrheit entsprach. Konnten wir ihr diesen Wunsch abschlagen? Nein. Sie war unsere Freundin und brauchte unsere Hilfe. Da mußte man schon einmal über seinen Schatten springen. Auch wenn der in diesem Fall besonders groß war. Ron und ich warfen uns einen verzweifelten Blick zu, dann sagte ich: „Klar kommen wir mit. Aber wir warten im Flur vor dem Büro auf dich. Ich glaube nicht, daß Snape uns sehen will.“
Hermine nickte dankbar und zu dritt verließen wir den Gemeinschaftsraum der Gryffindors. Langsam gingen wir durch die leeren Flure, die Treppen hinab zu den Räumen des Meisters der Zaubertränke. Je näher wir unserem Ziel kamen, desto mehr fragte ich mich, ob es wirklich klug war, das zu tun. Aber nun war es zu spät, um einen Rückzieher zu machen; Schon hatten wir die Tür zum Büro von Professor Snape erreicht. Das mulmige Gefühl in meinem Bauch steigerte sich ins Unermeßliche. Diesen Ort verband ich mit ausschließlich unerfreulichen Ereignissen. Sehr unerfreulichen.
Vorsichtig klopfte Hermine mit den Fingern gegen die Tür, doch es folgte keine Antwort.
„Vielleicht ist er nicht da. Laßt uns gehen!“, sagte Ron hastig, aber Hermine gab nicht so schnell auf.
„Ich bezweifle, daß er es überhaupt gehört hat. Bei dieser Tür!“, entgegnete sie und deutete auf die solide Holztür. „Vielleicht sollte ich einfach mal probieren, ob sie offen ist.“
„Was?“, schrieen Ron und ich entsetzt. Sie konnte doch nicht ungebeten in das Büro von Snape gehen! Das würde in einer Katastrophe enden. Bevor wir sie jedoch zurückhalten konnten, öffnete Hermine bereits vorsichtig die Tür und machte einen Schritt hinein in den Raum. Blitzschnell gingen Ron und ich hinter der Tür in Deckung und preßten uns flach an die kühle Steinwand des Flures. Das fehlte noch, daß Snape uns hier unten sah. Seine Strafe würde alles übertreffen, was wir bis jetzt erlebt hatten.
Doch er schien uns glücklicherweise nicht bemerkt zu haben, denn es herrschte Stille. Dann hörten wir plötzlich einen spitzen Schrei. Es war Hermine! Ron und ich sahen uns fragend an. Sollten wir nicht besser nachsehen, was passiert war? Aber dann würde Snape uns sehen. Bevor wir unsere Überlegungen zu Ende geführt hatten, vernahmen wir erneut Hermines Stimme. Sie klang seltsam schrill: „Harry! Ron!“
Ihr panischer Klang erschreckte uns und wir rissen uns von der Wand los und stürmten in das Zimmer. Hermine stand einige Meter von dem Schreibtisch des Professors entfernt. Er selbst saß dahinter in einem Stuhl und schien fest zu schlafen. Sein Kopf war ihm auf die Brust gesunken und seine Augen geschlossen.
„Hermine! Sei ruhig! Du weckst ihn noch auf! Und dann kommen wir hier nicht mehr lebend raus“, flüsterte ich nervös und Ron stimmte mir hektisch zu: „Kommt! Laßt uns bloß schnell verschwinden! Wenn er aufwacht und uns hier sieht!“
Aber Hermine rührte sich nicht von der Stelle und starrte weiter gebannt auf den Professor. Wenn wir nicht schnell verschwanden, würde das katastrophale Folgen für uns haben!
„Hermine! Wir müssen verschwinden! Wenn wir ihn aufwecken...“, keuchte ich. Doch unsere Freundin zeigte auch jetzt noch immer keine Reaktion auf meine Worte.
„Seine Arme!“, sagte sie in diesem Augenblick mit schriller Stimme.
Seine Arme? Was sollte denn das jetzt? Wir mußten hier sofort weg! Dann wanderte mein Blick langsam von Professor Snapes schlafendem Gesicht, über seinen, wie immer schwarz gekleideten, Oberkörper hinunter zu seinen Händen und ich erschrak.
Sein rechter Arm hing an seiner Seite hinunter und wurde deshalb von seinem Schreibtisch vor meinen Blicken geschützt, doch sein linker Arm lag auf der Tischplatte und war gut zu sehen. Aber man sah nicht nur den Arm. Man sah Blut. Jede Menge Blut, das von dem bleichen Unterarm des Professors hinunter lief und dunkle Pfützen bildete. Es war ein unheimlicher Anblick und es dauerte eine Moment, bis ich mich aus meiner Starre lösen konnte und zu Snape hinüber rannte. Ich packte seinen linken Arm und sah, daß das Blut aus einem langen Schnitt längs des Armes am Handgelenk kam. Neben der Hand lag ein blutverschmiertes Messer. Ein kalter Schauer lief mir über denn Rücken, dann faßte ich mich wieder. Was sollte ich nun tun?
Professor Dumbledore! Jemand mußte ihn holen!
„Ron!“, rief ich. „Lauf zu Dumbledore! Und sag ihm, er soll mit Madam Pomfrey sofort in die Kerker kommen!“
Auf der Stelle drehte mein Freund sich um und rannte aus dem Zimmer. Was nun? Ich mußte die Wunde irgendwie verbinden!
„Hermine! Wir brauchen etwas, um die Blutung zu stillen!“, rief ich, doch Hermine stand noch immer bewegungslos da und starrte auf den Professor.
„Hermine!“, schrie ich. Sie blickte mich einen Moment lang verwirrt an, dann lief sie zu mir.
„Wir müssen die Wunde irgendwie verbinden!“, wiederholte ich meine Aufforderung.
„Wo soll ich so etwas hernehmen?“, fragte sie panisch, dann schien sie einen Augenblick zu zögern, bevor sie ihre schwarze Robe in die Hand nahm und einen breiten Streifen abriß. Schnell wickelte sie diesen straff um Snapes Handgelenk und verknotete es.
„Was ist mit seinem anderen Arm?“, fragte ich und sie hob in hoch.
„Hier auch!“, antwortete sie und verband auch diese Wunde mit einem Stück ihrer Robe. Dann blickten wir uns hektisch an. Wann endlich kamen Professor Dumbledore und Madam Pomfrey?
„Meinst du, er ist tot?“, fragte mich Hermine, erneut mit schriller Stimme.
„Ich weiß es nicht“, antwortete ich. Ich starrte auf die Blutlachen, die sich auf dem Schreibtisch und auf dem Boden gebildet hatten. „Er scheint ziemlich viel Blut verloren zu haben.“ Als ich Hermines panischen Blick sah, fügte ich schnell hinzu: „Aber Madam Pomfrey wird ihm helfen können. Bestimmt!“
In diesem Moment hörte ich endlich die erlösenden Schritte und einige Sekunden später betraten Ron, Professor Dumbledore und Madam Pomfrey völlig außer Atem dem Raum. Die Heilerin stürzte sofort zu dem Professor und fühlte seinen Puls. Einige Augenblicke war der Raum erfüllt von angespannter Stille, dann sagte sie: „Sein Puls ist sehr schwach. Ich muß ihn sofort auf die Krankenstation bringen.“ Mit diesen Worten beschwor sie eine unsichtbare Trage herauf und eilte mit Snape neben sich schwebend aus dem Büro. Dumbledore folgte ihr eilig und Hermine, Ron und ich blieben alleine zurück.
Für kurze Zeit standen wir unbeweglich da, unfähig etwas zu sagen, dann flüsterte ich: „Kommt. Laßt uns gehen.“
Schweigend verließen wir den Raum und schlossen die Tür hinter uns. Dann machten wir uns beklommen auf den Weg zurück in unseren Gemeinschaftsraum.
Erzählt von Albus Dumbledore:
Schweigend beobachtete ich, wie Madam Pomfrey Professor Snape, den wir zuvor vorsichtig auf eines der Betten gelegt hatten, behandelte. Die Heilerin entfernte zuerst die Lappen, die die Schüler um die Handgelenke des Meisters der Zaubertränke gewickelt hatten. Sie waren inzwischen blutdurchtränkt.
Ich zuckte leicht zusammen, als ich die langen, tiefen Schnitte entdeckte und ein schreckliches Schuldgefühl breitete sich unaufhaltsam in mir aus.
Madam Pomfrey richtete nun ihren Zauberstab auf die Wunden und murmelte einige Sprüche. Fast augenblicklich begannen sie sich langsam zu schließen und der helle Blutstrom, der mittlerweile große rote Flecken auf den weißen Bettlaken hinterlassen hatte, versiegte. Zusätzlich verband sie die Handgelenke mit weißem Tuch. Dann stach sie meinem Freund eine Nadel in den Handrücken und holte einen Tropf. Daran befestigte sie eine Flasche, die eine rötliche Flüssigkeit enthielt. Langsam begann die Flüssigkeit durch den Schlauch zu sickern und gelangte auf diese Weise schließlich direkt in den Blutkreislauf des Professors.
„Wie geht es ihm, Poppy?“
Die Heilerin warf einen letzten besorgten Blick auf ihren Patienten, dann wandte sie sich an mich. „Nun ja, er hat mehr Blut verloren, als es die meisten Menschen ausgehalten hätten.“
„Wird er es schaffen?“, fragte ich leise.
„Ich kann es Ihnen nicht versprechen, aber ich denke, er wird es überstehen“, antwortete Madam Pomfrey.
Langsam näherte ich mich dem Bett und betrachtete meinen bewußtlosen Freund. Er sah noch um einiges blasser aus als gewöhnlich. Seine Haut war fast schneeweiß. Vorsichtig nahm ich seine Hand in die meinen und streichelte sanft über den Handrücken.
„Was habe ich getan?“, flüsterte ich. „Wie konnte ich dir das nur antun?“
Traurig schüttelte ich den Kopf, dann legte ich seine Hand zurück auf das Bett und wandte mich erneut an Madam Pomfrey. „Sagen Sie mir bitte Bescheid, wenn sich etwas an seinem Zustand ändert.“
„Natürlich Professor!“, antwortete sie. „Machen Sie sich keine Sorgen. Er wird es schaffen. Ich gebe ihm gleich einen starken Schlaftrank, damit sein Körper die Gelegenheit bekommt sich etwas zu erholen. Er wird also nicht vor morgen aufwachen.“
Ich nickte, verließ die Krankenstation und machte mich auf den Weg in mein Büro. Die Flure, durch die ich ging, kamen mir unwahrscheinlich düster und deprimierend vor und ich war froh, als ich endlich mein Zimmer erreicht hatte und mich hinter meinem Schreibtisch niederlassen konnte. Genau so hatte mein Freund auch dagesessen, als er den Entschluß faßte, daß er sein Leben nicht weiterführen konnte. Also nahm er sich ein Messer und beschloß diesem Leben ein Ende zu setzten. Und ich hatte ihn dazu getrieben. Ich hatte ihn dazu getrieben, einen Selbstmordversuch zu begehen. Ein Versuch, der ihm beinahe gelungen wäre.
Eine unbeschreibliche Traurigkeit legte sich über mich.
Ich hatte ihm alles genommen, das ihm wichtig gewesen war. Alles, was ihm die Kraft gegeben hatte, weiter zu kämpfen. Ich hätte das alles nicht von ihm verlangen dürfen. Und ich war nicht bei ihm gewesen, als er mich brauchte, wie es meine Pflicht gewesen wäre. Ich hatte ihn alleine gelassen und in den Selbstmord getrieben.
Erschöpft verbarg ich mein Gesicht in den Händen. Ich fühlte mich in diesem Augenblick so alt und müde, wie niemals zuvor. Nach einer Weile hob ich meinen Kopf und blickte aus dem Fenster. Es nützte niemandem, wenn ich jetzt in Schuldgefühlen versank, auch Snape nicht. Auf diese Weise half ich ihm nicht. Und ich mußte ihm irgendwie helfen, das war mir klar. Aber wie? Wie konnte ich ihm beweisen, daß das Leben lebenswert war? Nun, daß konnte ich ihm im Moment wahrscheinlich kaum glaubhaft machen. Das einzige, daß ich jetzt für ihn tun konnte, war, für ihn da zu sein und ihm das Gefühl zu geben, nicht allein dazustehen.
Erzählt von Remus Lupin:
Hastig rannte ich durch die Gänge zur Krankenstation. Ich kam gerade aus der Großen Halle vom Mittagessen. Snape war nicht anwesend gewesen, aber das hatte mich nicht weiter erstaunt, da er auch an den vergangenen Tagen nicht erschienen war. Doch nicht nur Professor Snape hatte gefehlt, auch Dumbledore hatte nicht auf seinem Platz gesessen. Wahrscheinlich hatte er zu viel zu tun, dachte ich. Doch dann hörte ich die Gerüchte. Gerüchte, von denen ich mich jetzt überzeugen mußte, daß es wirklich nur eben solche waren.
Endlich erreichte ich die Räume Madam Pomfreys. Ich ergriff die Türklinke und wollte die Tür öffnen, doch es ging nicht. Sie war verschlossen. Meine innere Unruhe stieg. Warum war die Tür zur Krankenstation verschlossen? Eilig drehte ich mich um und machte mich auf den Weg zu dem Mann, der nach Madam Pomfrey die einzige Person war, von der ich mit Sicherheit erfahren konnte, was passiert war. Professor Dumbledore. Atemlos stand ich einige Minuten später vor seiner Tür. Ich nahm mir keine Zeit, um mich zu beruhigen, sondern klopfte sofort.
„Ja?“, hörte ich die fragende Stimme des Professors und ich trat ein. Der Direktor saß hinter seinem Schreibtisch und sah unglaublich müde aus. Ich erschrak. Die Gerüchte konnten doch nicht wahr sein? Ich ließ mich in einem Stuhl Dumbledore gegenüber nieder. Ich zögerte einen Moment, bevor ich vorsichtig fragte: „Albus? Es geht das Gerücht um, Severus hätte Selbstmord begangen.“ Dumbledore blickte mich nun direkt an, schwieg aber.
„Also ist es wahr? Er hat es wirklich getan?“, fragte ich erschüttert.
„Ja, es stimmt. Severus hat versucht sich umzubringen. Heute morgen. Er hat sich in seinem Büro die Pulsadern aufgeschnitten“, antwortete er dann leise. Für einige Augenblicke war ich unfähig, etwas zu sagen. Das konnte doch nicht wirklich passiert sein! Doch nicht Professor Snape!
„Ist er tot?“, brachte ich nach einigen Sekunden des Schweigens mühsam hervor.
„Nein. Er lebt“, antwortete Dumbledore. „Einige Schüler haben ihn gerade noch rechtzeitig gefunden. Wenn sie nur einige Minuten später gekommen wären, wäre Severus jetzt tot.“
Snape wäre beinahe gestorben. Ich war so geschockt, daß ich unfähig war, meine sich überschlagenden Gedanken zu ordnen. „Wer hat ihn gefunden?“, fragte ich. Im selben Augenblick wurde mir klar, wir absurd diese Frage in dieser Situation war.
„Mr Potter, Mr Weasley und Miss Granger“, antwortete Dumbledore automatisch. Eine Sekunde lang fragte ich mich, was die drei dort unten gesucht hatten, aber diese Frage war genau so unwichtig, wie die, die ich gerade gestellt hatte.
„Wie geht es ihm?“
Dumbledore, dessen Blick in der Zwischenzeit auf seine Schreibtischplatte gewandert war, sah mich erneut direkt an. In seinen Augen spiegelten sich gleichzeitig Sorge und Trauer. „Er hat extrem viel Blut verloren und ist noch immer bewußtlos. Madam Pomfrey will ihn für einige Zeit in eine Art Tiefschlaf versetzten, um seinem Körper Ruhe zu gönnen“, sagte er heiser.
Schweigen erfüllte den Raum, dann sagte ich leise: „Ich war gestern abend bei ihm.“ Als Dumbledore mir einen fragenden Blick zuwarf, fuhr ich fort: „Er war betrunken und hat sich die Schuld am Tod von Judy und Soleya gegeben. Ich konnte ihn nicht von dem Gegenteil überzeugen. Ich hätte erkennen müssen, in welcher Gefahr Severus sich befand, aber ich tat es nicht und...“
„Du darfst dir nicht die Schuld dafür geben, was passiert ist, Remus!“, unterbrach mich Dumbledore. „Wir alle haben Fehler gemacht. Auch ich.“
Ich wollte ihm widersprechen, doch er schüttelte energisch den Kopf. „Es stimmt, was ich gesagt habe, Remus. Aber wir dürfen jetzt nicht in düstere Gedanken verfallen. Wir müssen Severus helfen, ihm zeigen, daß er nicht alleine ist! Und das können wir nicht, wenn wir in unseren Schuldgefühlen versinken.“
Langsam nickte ich. Wieder schwiegen wir beide eine Weile, dann erhob ich mich, verabschiedete mich von Professor Dumbledore und verließ dessen Büro. Erneut ging ich zur Krankenstation, doch da sie noch immer verschlossen war, machte ich mich auf den Weg in meine Räume. Dort angekommen ließ ich mich in einen der Sessel fallen.
Natürlich hatte Dumbledore Recht, doch es war schwierig, sich nicht wenigstens einen Teil der Schuld für Professor Snapes Tat zuzuschieben. Ich hätte erkennen müssen, in welchem Zustand er sich befand, als ich am vorigen Tag mit ihm gesprochen hatte. Warum nur war es mir nicht aufgefallen? Vielleicht hätte ich es verhindern können. Ich hätte noch länger mit ihm reden können. Aber nun war es zu spät und ich mußte mir eingestehen, daß ich wahrscheinlich auch, wenn ich noch mit ihm geredet hätte, seinen Selbstmordversuch nicht hätte verhindern können. Nun blieb uns nur noch, ihn so gut wir konnten zu unterstützen seinen Lebenswillen wieder zu entdecken. Aber was war, wenn es uns nicht gelang? Wenn Professor Snape es wieder versuchen würde? Irgendwann würde es ihm garantiert gelingen. Irgendwann würde ihn niemand rechtzeitig finden. Der Gedanke erschreckte mich zutiefst und ich versuchte, ihn so weit wie möglich zu verdrängen.
Eine lange Zeit starrte ich schweigend vor mich hin, dann fiel mein Blick auf meine Uhr und ich erschrak. Meine nächste Unterrichtsstunde würde in wenigen Minuten beginnen. Mit einem Seufzen erhob ich mich und verließ mein Zimmer.
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