Kapitel 9: Die Assistentin
Der folgende Morgen brach an wie der Abend aufgehört hatte: mit Sturm und Regen. Während dicke Tropfen an die Scheiben klatschten, erwachte Severus Snape so ausgeschlafen wie schon seit langem nicht mehr.
Er nahm die Stille in sich auf, die nur vom gleichmäßigen Trommeln des Regens auf dem Fensterbrett unterbrochen wurde und bemerkte zu seiner Überraschung zum ersten Mal, daß Madam Pomfrey ihm ein weiches Kissen zwischen die nur von Haut umspannten knochigen Knie geschoben hatte, damit sie sich nicht aufeinander wundrieben.
Vorsichtig veränderte er die Position ein wenig. Die Muskelschmerzen waren fast vollständig verschwunden, und der Raum schwankte nicht mehr bedrohlich auf und nieder, als er sich mit einem scharfen Atemzug halb aufrichtete.
"Guten Morgen", begrüßte ihn Albus Dumbledore heiter und schob ihm stützend ein dickes Kissen in den Rücken, das er flink vom Nachbarbett entwendet hatte.
Hatte der Schulleiter die ganze Nacht hier gesessen? Snapes Konzentration ließ noch immer mehr als zu wünschen übrig.
Er rieb sich die Augen, strich sich fahrig durchs Haar und probierte ein pflichtbewußtes "Morgen, Albus."
Der Alte lächelte so warm, daß den Tränkemeister sofort ein gewaltiges Unbehagen überkam.
"Du siehst besser aus, Severus", stellte er zufrieden fest, und Snape kräuselte mißtrauisch die Brauen.
"Worauf willst du hinaus?" fragte er reserviert.
"Oh", entgegnete der Direktor unschuldig, "ich meinte nur, es hat dir nicht zum Nachteil gereicht, Miß MacGillivrays Agua de Altamira auszuprobieren."
Snape verzog pikiert das blasse, hohlwangige Gesicht. Also war diese Frau kein Traum gewesen, und es entsprach auch keinem Zufall, daß es ihm besser ging.
Zum Teufel!
"Wann wird sie beginnen?" fragte er leise. Seine Stimme klang seltsam leer.
"Wie bitte?"
"Wann übernimmt sie meinen Posten?"
Wie begriffsstutzig konnte jemand von Dumbledores Weisheit sein, oder machte es ihm Spaß, ihn zu quälen, indem er sich absichtlich unwissend stellte?
Obgleich ihn das Gespräch arg mitnahm, gab sich der Tränkemeister nach außen keine Blöße außer dem unruhig flackernden Licht in seinen schwarzen Augen.
Albus Dumbledore hätte überraschter nicht sein können. Es vergingen aufreibende Sekunden, bevor ihm dämmerte, auf was Snape anspielte.
Glaubte der Junge etwa, er hatte MacGillivray eingeladen, um ihn zu ersetzen? Wie, um alles in der Welt, kam er nur auf eine solch abstruse Idee?
"Also - Severus... Miß MacGillivray ist nicht hier, um dir die Stelle wegzunehmen", sagte er schließlich übertrieben deutlich.
"Ach nein?" entgegnete Snape mit beißendem Sarkasmus, und obwohl er sich geschworen hatte, sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr ihn die vermeintliche Hinterhältigkeit des einzigen Menschen verletzte, den er jemals einen wahren Freund genannt hatte, überwältigte ihn die Ungerechtigkeit dessen, und er fügte voller Bitterkeit hinzu: "Natürlich bin ich ohne Zauberkräfte nutzlos als Spion und auch als Lehrer. Aber du hättest mich wenigstens informieren können, bevor du..."
Er brach ab, starrte blind geradeaus und preßte die Lippen so fest zusammen, daß sie schmerzten.
Dumbledores Herz krampfte sich vor Mitleid zusammen. Es war gedankenlos gewesen, MacGillivray ohne vorherige Erklärung an Snapes Krankenbett mitzunehmen. Der Tränkemeister war ohnehin empfindlich und schnell in seinem Stolz gekränkt (auch wenn er das immer ausgezeichnet hinter einer Maske aus abweisender Kälte verbarg), aber nun um so mehr, da ihn Haft und Krankheit erhebliche Kraft gekostet hatten. Der Verlust der Magie setzte allem nur noch die Krone auf. Er selbst konnte sich ein Leben ohne zu zaubern nicht einmal vorstellen, und obwohl er an dem Glauben festhielt, daß es sich nur um einen vorübergehenden Ausfall handelte, mußten sie alle doch der Wahrheit ins Auge sehen. Es bestand die Möglichkeit, daß Snape die magischen Fähigkeiten nicht zurückerlangte.
Weshalb sollte der Tränkemeister also nicht schlußfolgern, daß sie, die er ihm - achtlos, was seine Worte auslösen würden - als dynamische Forscherin vorgestellt hatte, einzig gekommen war, um seinen Platz einzunehmen?
"Severus", begann Dumbledore bedächtig, "du hast etwas gänzlich mißverstanden. Aktuell erfüllen die Professoren Sprout und Sinistra ihre Vetretungsaufgaben in deinem Fach zu meiner vollsten Zufriedenheit."
Snape sah ihn noch immer nicht an, aber es kam ein wenig Farbe in seine blutleeren Lippen.
"Ich habe Miß MacGillivray kommen lassen, weil ich sie für sehr geeignet halte, dir bei der Lösung der Aufgabe zu assistieren. - Oh doch, du benötigst Hilfe", kam er Snapes wohlbekanntem Einwand zuvor. "Der Anfang ist gemacht; nach drei weiteren Portionen Altamirawasser solltest du in der Lage sein, für ein paar Stunden aufzustehen. Die Zeit läuft dir davon, Severus! Du mußt jede Hilfe nehmen, die du bekommen kannst."
"Jede gewiß nicht", widersprach Snape abfällig, der wie üblich jedes Wort seines Gesprächspartners auf die Goldwaage legte. "Ich will nicht mit jemandem zusammenarbeiten, der bestenfalls den Standards irgendeiner Buschbrauerei genügt", sagte er mit ätzender Geringschätzigkeit und schüttelte den Kopf.
Einerseits war er unsagbar erleichtert, daß man ihn offenbar doch nicht so gemein fallengelassen hatte, wenngleich ein Fünkchen tiefen Mißtrauens immer blieb, andererseits war der Alternativgrund ihrer Anwesenheit keineswegs willkommener.
Er arbeitete immer allein; schon als Schüler hatte er die unselige Teamarbeit, die Professor Slughorn regelmäßig anberaumte, zutiefst verabscheut, und nach einigen ausgesprochen demütigenden Szenen, in denen sich niemand fand (nicht einmal ein Mitglied seines eigenen Hauses), der mit ihm arbeiten wollte, hatte er die Flucht nach vorn angetreten und von vornherein verkündet, er wolle lieber ohne Partner arbeiten, da sowieso keiner seinen Ansprüchen genügen würde.
'Nur daß du diesmal nicht allein brauen kannst', zischelte eine hämische Stimme in seinem Kopf. 'Schon wieder vergessen?'
Snape sank in sich zusammen.
Natürlich. Wie kam es nur, daß er den Verlust seiner Magie nicht im Gedächtnis behielt?
Er war unbedingt auf die Hilfe eines Zauberers angewiesen, er, der in niemandes Gnade je hatte stehen wollte, der fast ausnahmslos alles allein erreichte, war nun abhängig von... von einer hochmütigen Dschungelhexe.
Er tat sich so leid, daß er nicht wußte, wie er dem übermächtigen Wunsch, vor Frustration loszuschreien, widerstehen sollte. Nervöses Zittern durchfuhr seine abgemagerten Glieder.
Dumbledore setzte sich ungebeten zu ihm auf die Bettkante und zog ihn, als Snape keine Anstalten machte, zurückzuweichen, fest in seine väterlichen Arme.
"Jeder braucht hin und wieder ein bißchen Trost", sagte er wie selbstverständlich und strich sacht über die verkrampften Schultern des Tränkemeisters, der steif wie ein Brett in der Umarmung steckte und vor Anspannung kaum zu atmen wagte.
"Du wirst sehen, sie ist dir gar nicht so unähnlich", fuhr der Alte sanft fort. Ein wegwerfendes Schnauben war die einzige Antwort.
"Sie liebt präzises Vorgehen, zaudert nicht und besitzt einen scharfen Verstand."
"Soll ich mit ihr arbeiten oder sie heiraten?" fauchte Snape ungehalten und machte sich aus Dumbledores Armen frei, der erleichtert wahrnahm, daß sich der Jüngere gefangen hatte.
Schallendes Gelächter ertönte von der Stirnseite des Lazaretts, und in einem Wirbel von grünem Stoff erschien Catriona MacGillivray, frisch wie der junge Morgen. Noch immer lachend rieb sie sich die Augen hinter der eleganten Brille, machte eine spöttische Verbeugung und sagte: "Da besteht keine Gefahr, Professor."
Aus den Taschen ihrer Robe förderte sie eine Phiole zutage, die der gestrigen verdächtig ähnlich sah und warf sie Snape zu, dessen Reflexe jedoch zu langsam waren, als daß er sie hätte fangen können.
"Ihre zweite Ration Agua de Altamira", verkündete sie leichthin. "Schmeckt der Trank nun, oder schmeckt er nicht besser dank der Kanadischen Haselwurz?"
Snape setzte die Flasche, die glücklicherweise weich gefallen war, mit provokativem Widerwillen an die Lippen und leerte sie in einem Zug.
"Geschmack", dozierte er anschließend mit genüßlichem Nachdruck, "ist vollkommen nebensächlich, so lange die erwünschte Wirkung erzielt wird."
MacGillivray lachte schon wieder, und Snape wurde das unangenehme Gefühl nicht los, daß sie ihn verspottete.
"Da bin ich aber gar nicht Ihrer Meinung, Professor", sagte sie entschieden. "Denken Sie doch nur mal an Kinder! Erklären Sie denen mal, sie sollen so ein widerliches Gebräu schlucken."
"Es soll ja nicht schmecken, sondern wirken", beharrte Snape stur und dachte insgeheim, den Bälgern geschähe es ganz recht, wenn sie bald lernten, daß die Welt nicht aus eitel Sonnenschein bestünde.
Poppy Pomfrey, die zum Wechseln der Infusion gekommen war, schüttelte amüsiert den Kopf. Professor Snape war in dieser Hinsicht ein absolut hoffnungsloser Fall. Tatsächlich hatte sie die wenigen Male, die er einen Zaubertrank von ihr verabreicht bekam (denn Snape zog es üblicherweise vor, sich selbst zu behandeln und erschien gar nicht auf der Krankenstation), nie auch nur eine einzige Beschwerde gehört, noch hatte er überhaupt das Gesicht verzogen.
"Diese Diskussion erinnert mich daran, daß wir noch nicht gefrühstückt haben", wechselte Dumbledore diplomatisch das Thema.
Snapes entsetztem Gesichtsausdruck entnahm er, daß das letzte, was er wollte, ein "lauschiges" Frühstück zu viert auf der Krankenstation war. Auch MacGillivray schien wenig Gefallen an der Vorstellung zu finden.
"Mr. Lupin ließ mich wissen, daß er in die Große Halle kommt", sagte sie daher glatt. "Ich lasse ihn besser nicht warten. - Bis später, Direktor. Professor."
Der Abgang war gekonnt, das mußte man ihr lassen. Snape sah nicht aus, als bedauerte er ihr Verschwinden.
"Wonach steht dir der Sinn?" erkundigte sich Albus Dumbledore, während er einen hübsch gedeckten Tisch erschuf, den der Meister der Zaubertränke vom Bett aus erreichen konnte.
Snape schenkte ihm einen Blick, der signalisierte, er hatte schon jetzt genug.
"Vielleicht etwas Toast für den Anfang? Oder Porridge?"
Der Zaubertränkemeister zuckte hilflos die Schultern. Zwar konnte er sich theoretisch vorstellen, eine kleine Portion zu essen, aber die lange Zeit in Azkaban, während derer er nahezu gar nichts zu sich genommen hatte und die Rekonvaleszenz, in der es nicht viel anders gewesen war, hatten seine Erinnerung ausgelöscht. Er pflegte für gewöhnlich gar nicht zu frühstücken, kam es ihm in den Sinn, aber diese Option erschien selbst ihm indiskutabel.
Er mußte wieder zu Kräften kommen, sonst würde er niemals den vom Dunklen Lord gewünschten Trank erdenken können.
"Porridge... vielleicht", meinte er unsicher und begann zögernd, winzige Kleckse des Haferbreis, den Dumbledore herbeigezaubert hatte, in seinen Mund zu befördern. Eigentlich mochte er Porridge nicht besonders, entschied er nach dem dritten Bissen, aber gewiß würde sein rebellischer Magen nichts gegen Brei einzuwenden haben.
Snape nahm einen nervösen Schluck aus der Kaffeetasse.
"Wieviel Zeit bleibt von den zwei Wochen?" erkundigte er sich besorgt. "Ich muß wirklich anfangen."
Dumbledore kaute bedächtig seinen Honigtoast, bevor er abwinkte.
"Laß erst den Trank seine volle Wirkung tun, dann könnt ihr beginnen", riet er und schnipste einen Krümel aus seinem Bart.
"Noch eine Portion heute Mittag und eine zum Abend", kam er Snapes Ungeduld zuvor. "Aber ich lasse dir gerne Literatur heraufbringen", sagte er versöhnlich, als sich Snapes dunkle Augen gefährlich verengten.
Es ging dem Tränkemeister definitiv besser.
xoxoxox
Severus Snape zügelte nur mit Mühe seine Unruhe, als der neue Morgen anbrach. Er hatte zu allen Mahlzeiten des vergangenen Tages eine Kleinigkeit gegessen und auch gut vertragen; Dumbledore hatte ihm wie versprochen so wichtige Nachschlagewerke wie "Außergewöhnlich komplexe Zaubertränke" und "1001 magischer Trank" zukommen lassen, außerdem, und das trug am meisten dazu bei, seine Stimmung zu heben, hatte ihn Catriona MacGillivray mit ihrer Anwesenheit verschont.
Nachdem es ihm nach einem ausgiebigen Mittagschlaf gelungen war, zumindest eine grobe Vorstellung davon zu entwickeln, wohin die Zusammensetzung des Trankes gehen sollte, brannte er nun darauf, seine Idee in die Tat umzusetzen.
Wider Erwarten hatte er die Nacht über fest und erholsam geschlafen; ein wenig verdächtigte er Madam Pomfrey, ihm heimlich etwas vom 'Traumlosen Schlaf' untergemischt zu haben, aber der Effekt war so willkommen, daß er es unterließ, genauere Nachforschungen anzustellen.
Wo blieb sie nur? Schließlich konnte man nicht von ihm erwarten, mit der verflixten Muggelinfusion durchs Schloß zu laufen. Der Weg zum Bad war schon beschwerlich genug damit, aber immerhin war Snape seit diesem selbständigen Abstecher überzeugt, es bis in die Kerker zu schaffen.
Das Altamirawasser hatte wahre Wunder bewirkt, wenngleich er nicht vorhatte, Catriona MacGillivray deswegen auf Knien zu danken.
Als Poppy Pomfrey geschäftig das Lazarett betrat, fand sie ihren Patienten übellaunig und verschlossen. Snape beherrschte sich noch so weit, um sie nicht anzugiften, aber als sie keine Anstalten machte, sofort den Infusionsbeutel abzuschließen, entfuhr ihm ein erbostes: "Also wirklich, ich habe nicht den ganzen Tag Zeit!"
Die Heilerin sah ihn unter hochgezogenen Brauen an und erwiderte trocken: "Guten Morgen. Sie werden erst in einer Viertelstunde abgeholt, Professor."
Jetzt war es an Snape, die Brauen zu wölben. "Abgeholt?" wiederholte er ungläubig und bekam vor Entrüstung kaum mit, wie sie den Arm verband. " - Wollen Sie das nicht ganz entfernen?" fragte er gereizt, als sie den Verband magisch versiegelte und damit seine Aufmerksamkeit auf ihr Tun lenkte.
"Der Zugang bleibt so lange, bis Sie vernünftig essen und trinken. Punkt. - So, und nun versuchen Sie, sich allein anzukleiden", befahl Madam Pomfrey ungewohnt streng. "Dumbledore wird gleich hier sein."
Der Tränkemeister sandte ihr einen Blick, der in der Lage gewesen wäre, Gras im Nu zu versengen, aber er setzte sich gehorsam auf.
Während sich die Heilerin eiligst entfernte, um weiteren Diskussionen vorzubeugen, vollführte Snape konzentriert das Ritual seiner Gewandung.
Die Hosen waren inzwischen so sehr zu weit, daß er wie automatisch nach seinem Zauberstab tastete, in der Absicht, sie zu schrumpfen, bis ihn die Erinnerung mit glühenden Eisen peitschte.
Wohl oder übel mußte er Poppy Pomfrey um Hilfe bitten, oder er würde Gefahr laufen, das Kleidungsstück unterwegs zu verlieren - eine Vorstellung, bei der ihm ganz anders wurde.
Die Bitte, mit gespielter Reue durch zusammengebissene Zähne gespuckt, erheiterte die gutherzige Frau so, daß sie Mühe hatte, ihr Amüsement zu verbergen, als sie Snape aus seiner Bredouille befreite. Das letzte, was sie wollte, war ihn unnötig anzustacheln.
Gehrock und Roben ließ er unverändert; die Weite ermöglichte ihm ein zusätzliches Hemd gegen den Permafrost in seinen Gliedern.
Kurze Zeit später machte sich Snape - noch immer fröstelnd - in Begleitung Albus Dumbledores auf den Weg in seine Kerker.
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