Kapitel 4: Stagnation
Weder Madam Pomfrey noch Albus Dumbledore hatten eine andere Erklärung für das Versagen von Snapes Zauberkräften als enormen psychischen Streß.
Der Tränkemeister zog sich noch mehr in sich selbst zurück. An Essen war nicht zu denken. Jedesmal, wenn Poppy Pomfrey davon anfing, schüttelte Snape den Kopf, und wenn sie nicht aufgab, wurde ihm so übel, daß sie von dem Vorschlag ablassen mußte.
Lediglich von der schrecklichen Peinlichkeit der Windel konnte sie ihn befreien, nachdem ihm sein Körper zumindest in dieser Beziehung wieder zu gehorchen begann.
Dank Madam Pomfreys Muggelinfusionen verlor er zwar nicht weiter an Gewicht, aber die auf diese Weise zugeführte Energie genügte kaum, ihm ausreichend Kraft zu verleihen, mehrere Stunden aufrecht im Bett zu sitzen, geschweige denn aufzustehen.
In Ausnahmefällen behielt er die Zaubertränke zur Stärkung bei sich; dies waren Tage, an denen er ausgiebig in seinen Fachbüchern zu lesen pflegte, doch zaubern konnte er auch dann nicht.
"Severus, du mußt versuchen zu essen."
Remus Lupin hatte aufgehört zu zählen, wie oft dieser Satz in der letzten Woche gefallen war. Die Fronten hatten sich merklich verhärtet, seit man Snapes Weigerung nicht mehr automatisch nachgab.
"Ich kann nicht", zischte der Tränkemeister heiser vor Zorn. "Hört endlich auf, mich zu quälen."
"Dich quälen?" entgegnete Lupin empört. "Hörst du dir auch manchmal zu, Severus? Wir tun nichts anderes, als uns um dich zu kümmern und du" -
Er unterbrach sich und prüfte die Reaktion seines Gegenübers.
Snape war mehrere Nuancen blasser geworden. Daß ihm Lupin seine Schwäche irgendwann vorwarf, war zwar zu erwarten gewesen, aber deshalb tat es nicht weniger weh.
Er schluckte mehrmals. Nur nicht zeigen, wie sehr ihn die Bemerkung getroffen hatte. Keine Angriffsfläche bieten. Wie früher.
"Ich bitte vielmals um Entschuldigung", sagte er spöttisch, als er sicher war, seine Stimme würde fest klingen. "Bitte doch den Direktor, dich von dieser lästigen Pflicht zu befreien. Wegen mir mußt du jedenfalls deine kostbare Zeit nicht hier verbringen."
Lupin machte auf dem Absatz kehrt und verließ die Krankenstation. Es widerstrebte ihm, Snapes Benehmen mit barer Münze zu vergelten, aber anders war ihm ganz offensichtlich nicht beizukommen.
Der Tränkemeister drehte den Kopf zur Wand und schloß die Augen gegen stechende Tränen.
Noch nie hatte er sich so hilflos gefühlt. Er erholte sich nicht, und der Verlust der Zauberkräfte machte ihn sowohl für Hogwarts als auch für Voldemort nutzlos.
Hinzu kamen unvorhersehbare Blackouts. Eben würde er noch mit Madam Pomfrey wegen des Frühstücks gestritten haben, dann blickte er auf, und mehr als sechs Stunden waren vergangen.
"Severus, wollen Sie den ganzen Tag verschlafen?"
Auch das noch. Minerva McGonagalls fordernde Stimme, die sich immer so anhörte, als wolle sie einen Schüler zurechtweisen. Er hatte ihr Erscheinen überhaupt nicht bemerkt. Die Lehrerin für Verwandlungen kam selten zu Besuch, und bisher hatte Snape sie auch nicht vermißt.
"Ich habe Ihnen Kaffee mitgebracht", verkündete sie heiter. "Den mögen Sie doch."
Tatsächlich gehörte Kaffee zu den wenigen Dingen, die Snape hinunterbrachte, ohne sie sofort wieder zu erbrechen.
Er richtete sich langsam auf und wartete, daß der Schwindel verebben würde, bevor er eine unsichere Hand nach der Tasse ausstreckte.
Der aromatische Duft genügte, seine verhungerten Sinne zu berauschen.
Er nahm einen flüchtigen Schluck und stellte die Tasse so weit wie von sich, wie es irgend möglich war.
"Also, Severus", McGonagall tat, als habe sie nichts von dem seltsamen Verhalten bemerkt, "wann beehren Sie uns wieder im Unterricht?"
Unterricht?
Mit einem Mal wurde ihm bewußt, daß er sich während der Rekonvaleszenz überhaupt nicht für die Schule interessiert hatte. Die Haft in Azkaban hatte ja schon Monate verschlungen. Eine Vertretung war also unumgänglich gewesen.
"Wer unterrichtet meine Stunden?" erkundigte er sich vorsichtig und fürchtete gleichzeitig die Antwort. Wollte er wirklich wissen, wer in seinem Labor das Unterste zuoberst kehrte?
"Pomona Sprout hat Zaubertränke übernommen", sagte McGonagall leichthin. "Aber ich bin sicher, sie wäre nicht böse, wenn Sie Ihren Posten recht bald wieder einnähmen."
Snape schüttelte den Kopf. "Das ist... wohl kaum möglich", sagte er erstickt.
Ihn schauderte, wenn er sich die Professorin für Kräuterkunde in seinen Kerkern vorstellte, aber er war ehrlich genug, sich zu sagen, daß es bei weitem hätte schlimmer kommen können. Sie hatte immerhin grundlegendes Verständnis für die hohe Kunst der Zaubertrankbrauerei, was man durchaus nicht von jedem sagen konnte. Er dachte mit Grauen an den Schüler Neville Longbottom, der, obgleich nicht als Squib geboren, eine wandelnde Katastrophe in nahezu allen Fächern, besonders aber in dem seinen war.
'Und dennoch zaubert er jetzt hundertmal besser als du', zischelte eine spöttische Stimme in seinem Kopf, und Snape erkannte mit erbarmungsloser Härte, daß sie recht hatte. Er unterdrückte den unbändigen Wunsch, etwas zu zerschlagen, nur mit Mühe. Die Anspannung ließ ihn am ganzen Körper beben.
Minerva McGonagall umfaßte in einem plötzlichen Impuls sein schmales Handgelenk.
"Sie werden gebraucht, Severus", sagte sie eindringlich, und Snape fragte sich, ob das ihre Art war anzudeuten, daß Pomona Sprout besser bei den Kräutern als bei den Kesseln aufgehoben war.
"Wir vermissen Sie."
Noch ehe Snape wußte, wie ihm geschah, hatte sie die Krankenstation verlassen.
'Wir vermissen Sie' - wie seltsam, einen solchen Satz zu hören. Er gab nichts auf sentimentale Gefühlsduselei; nie war er jemandem nahe genug gewesen, um schöne Worte zu provozieren. Konnte es wirklich sein, daß jemandem etwas an seinem Wohlergehen lag?
Aber die Bitterkeit der Jahre gewann rasch die Oberhand. Weshalb sollte ihn irgendwer vermissen? Brauchen vielleicht, als Lehrer, um die Bälger zu unterrichten; auch die Arbeit als Spion war immerhin recht nützlich, obwohl all das ohne Zauberkraft nicht mehr möglich sein würde.
Was sollte er nur beginnen, wenn sie nicht wiederkehrte? Wohin konnte er gehen? Wie leben? Das Bild seines verhaßten Muggelvaters drängte sich ihm unwillkürlich auf, und obwohl er üblicherweise solche Gedanken nicht duldete, unternahm er diesmal nichts, sie zu verscheuchen.
Tobias Snape war, seit sich sein Sohn erinnern konnte, kaum in der Lage gewesen, seine Familie zu ernähren. Stattdessen hatte er dafür gesorgt, daß sowohl seine Frau, Eileen Prince, eine äußerst begabte Hexe, als auch sein Sohn in ständiger Angst vor seinen Wutausbrüchen lebten. Noch heute konnte es sich Severus nicht erklären, wieso seine Mutter ihren Mann nicht einfach mit einem passenden Fluch in die Schranken gewiesen hatte. Aber sie hatte es nie getan, stumm erst seinen Zorn, später auch Gewalt ertragen. Bis zu jenem Tage... Aber nein, dies führte zu nichts, schalt er sich lautlos.
Wie stolz und erleichtert war er gewesen, als ihn die Einschulungseule erreichte! Er würde nicht in der Spinnerei verkommen müssen wie sein Vater. Stattdessen Hogwarts... der Ort magischen Wissens, von dem seine Mutter oft erzählte, ein Ort, an dem er zeigen konnte, was ihn ihm steckte. Daß er längst nicht eitel Sonnenschein dort erlebt hatte, mochte er sich nicht eingestehen.
Und nun - alles verloren. Severus Snape begrub den Kopf in den Händen und preßte die Fäuste so fest auf die Augen, daß es schmerzte. Er würde sich eher umbringen, als ohne Magie weiterzuleben.
Eine leichte Bewegung am Infusionsschlauch ließ ihn jäh zusammenfahren. Wann war Madam Pomfrey hereingekommen? Er blinzelte verstört. Sie hatte bereits den Beutel gewechselt, ohne daß es ihm bewußt geworden wäre. Die Konzentrationsstörungen wurden immer schlimmer.
"Werden Sie heute etwas Suppe versuchen?" fragte sie herausfordernd, nachdem sie den Arm frisch verbunden hatte.
Snape zuckte die Schultern. Er ergriff trotzig den Löffel, aber seine Hand zitterte so, daß das Besteck gegen den Schüsselrand schlug.
"Ruhig, Professor."
Poppy Pomfrey entwand den Löffel mit sanfter Bestimmtheit seinen eiskalten Fingern und führte ihn behutsam an seine Lippen.
Snape schluckte mit einer vielsagenden Grimasse. Er war noch nie ein großer Esser gewesen, aber seit der Haft in Azkaban gestaltete sich die Nahrungsaufnahme zu einem unüberwindbaren Hindernis. Es gab keine Speise, nach der er sich sehnte, und hungrig fühlte er sich ohnehin nie.
Mit einer unauffälligen Bewegung dämpfte Madam Pomfrey die Übelkeit, die sich bei ihrem Patienten unweigerlich einstellen würde.
Snape entspannte sich merklich, aber nach drei weiteren Löffeln Suppe schüttelte er energisch den Kopf.
"Ich glaube, mehr wird auch Ihr Zauber nicht tolerieren", sagte er säuerlich.
Die Heilerin lächelte nachsichtig. "Ganz gut für den Anfang", lobte sie diplomatisch.
Über die Schulter erkannte sie Albus Dumbledore, der sich ihnen mit beschwingtem Schritt näherte.
Der alte Zauberer trug ein derart heiteres Lächeln zur Schau, daß es Snape voller Unbehagen kalt überlief. Was hatte er nun wieder geplant?
"Ich habe mir erlaubt, dir etwas mitzubringen, Severus", verkündete er fröhlich und ließ eine winzige Schachtel auf ihre ursprüngliche Größe anwachsen, so daß sie verdächtig nach Ollivanders Zauberstabmanufaktur aussah.
Snape biß sich auf die Lippen. Bisher war es ihm noch verhältnismäßig gut gelungen zu verdrängen, was ihm die Haft in Azkaban angetan hatte, aber im Lazarett mußte er auch nicht zaubern.
"Nein!" sagte er darum hastig, bevor ihm der Alte das Geschenk übergeben konnte.
"Ware von Ollivander ist... wertlos für mich."
Sein Gesicht war aschfahl, die Lippen bebten.
"Severus, sei nicht kindisch", rügte ihn Dumbledore ungehalten. "Die Blockade, auf die du anspielst, ist vorübergehend. Du kannst also ruhig den Zauberstab begutachten, den Mr. Ollivander für geeignet hält, nachdem der deinige bei der Verhaftung verlorengegangen ist."
Snape fügte sich ohne ein weiteres Wort. Diskussionen mit dem Direktor waren schrecklich kräftezehrend, und er hatte schon jetzt das Bedürfnis, einfach nur auf die Kissen zu sinken und die Augen zu schließen.
Mit steifen Bewegungen öffnete er die Schachtel, verharrte für einen Moment zögernd, bevor seine Finger ganz leicht das Ebenholz berührten.
Eine außergewöhnlich gute Arbeit; der Zauberstab wies überall erlesene Verzierungen auf, ohne dabei auch nur im Entferntesten prunkvoll zu wirken.
'Sieben Zoll - Drachenherzfaser', las Snape eine kleine Notiz, die wohl zur Identifikation hatte dienen sollen. Wie überflüssig. Mr. Ollivander kannte jeden seiner Zauberstäbe persönlich und bedurfte daher solcher Notizen nicht.
Für einen Moment reizte es ihn, das schöne Stück mit einem besonderen Fluch einzuweihen, aber dann kehrte die Erinnerung wieder.
Snape zog die Hand zurück. Er konnte den Stab nicht "ausprobieren". Es ging einfach nicht. Ein zweites Mal zu erleben, daß ihn die Zauberkräfte verlassen hatten, bedeutete nur, es noch endgültiger zu machen.
Er holte tief Atem, um die Konzentration aufzubringen, ein möglichst höfliches, aber gänzlich neutrales: "Vielen Dank, aber ein solches Geschenk kann ich nicht annehmen", zu murmeln.
Albus Dumbledore nickte so selbstverständlich, als habe er nichts anderes erwartet.
"Ich überlasse ihn dir gerne als Leihgabe, bis du dich von der Qualität überzeugt hast", sagte er liebenswürdig.
Sein sonniges Lächeln zerrte an Snapes ohnehin gespannten Nerven. Er fühlte sich grauenvoll und wußte, er würde nicht antworten können, ohne zu schreien oder in Tränen auszubrechen. Beide Optionen waren gleichermaßen indiskutabel, jedoch schien Dumbledore gar keine Antwort zu erwarten.
Er placierte die Schachtel auf dem Nachttisch, nickte dem Tränkemeister freundlich zu und verabschiedete sich mit einem "Bis später, Severus".
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