Kapitel 2: Das Erwachen
Zwei Tage waren vergangen, als Poppy Pomfrey eine Veränderung bemerkte. Sie war gerade dabei, ihren Patienten zu waschen, als sich der ausgezehrte Körper abrupt versteifte. Snapes Augen schossen auf. In ihnen stand das nackteste Entsetzen, das Madam Pomfrey jemals gesehen hatte.
Sofort breitete sie ein Laken über ihn, legte den Seiflappen beiseite und murmelte: "Ruhig, Professor, ganz ruhig."
Sie setzte sich zu ihm, vermied es jedoch tunlichst, ihn zu berühren.
"Wissen Sie, wo Sie sind?" erkundigte sie sich weich. "Wissen Sie, wer ich bin?"
Diese Fragen schienen den Verletzten völlig zu überfordern. Er umklammerte das Laken und starrte panisch geradeaus. Dabei zitterte er so, daß seine Zähne aufeinanderschlugen.
"Sie sind zurück in Hogwarts", erklärte ihm die Heilerin ernsthaft. "In Sicherheit, verstehen Sie? Glauben Sie, Sie können etwas hiervon schlucken? Severus..."
Snapes Atem flog. Er verstand sie nicht; keines ihrer Worte hatte eine Bedeutung für ihn, und das verstärkte nur noch seine Furcht.
"Severus", wiederholte sie, "ganz ruhig. Trinken Sie; dies hilft Ihnen, sich zu entspannen."
Behutsam flößte sie ihm die klare gelbliche Flüssigkeit ein, aber Snape verkrampfte sich nur noch mehr.
Der Beruhigungstrank wurde erbrochen.
Remus Lupin kam gerade noch rechtzeitig um zu sehen, wie Poppy Pomfrey den Kranken mit einem Lähmungszauber außer Gefecht setzte und ihm eine rasche Injektion gab.
"So", sagte die Heilerin erleichtert, "jetzt können wir ihn wenigstens säubern. Würden Sie mir helfen, Mr. Lupin?"
Er nickte nur und verkniff sich jegliche Fragen. Offenbar war Snape zu sich gekommen und in blanke Panik verfallen.
"Die Nieren sind noch immer nicht in Ordnung", bemerkte Poppy Pomfrey mißmutig. Sie hatte Blut in den durchnäßten Vorlagen entdeckt und begann nun einen weiteren Heilzauber.
Lupin beobachtete sie mit einer Mischung aus Ehrfurcht und Bewunderung. Wie konnte sie nur so gelassen bleiben, wenn er selbst doch innerlich bebte?
"Das Muggelmedikament läßt ihn mindestens vier Stunden schlafen", ließ sie ihn wissen. "Wenn Sie also etwas anderes tun wollen..."
Lupin horchte in sich hinein. Eigentlich war er müde und sehnte sich nach einem Spaziergang an der frischen Luft, aber sein Pflichtbewußtsein verbot ihm solche Wünsche kurzerhand. Dumbledore vertraute darauf, daß er - Lupin - an seiner Statt bei dem Tränkemeister wachte.
"Schon gut", winkte er daher ab und begleitete die Geste mit einem müden Lächeln. "Ich bleibe."
xoxoxox
Es war still in Severus Snapes Bewußtsein - keine Schreie, kein Kreischen, keine Stimmen, auch kein anderer Lärm, nichts von dem, das die Dementoren unablässig in ihm heraufbeschworen. Hatte er ihren Attacken anfangs noch souverän widerstanden, so bröckelten seine mentalen Barrieren immer mehr, je länger seine Gefangenschaft dauerte. Immer leichter wurde es für sie, in seinen Geist einzudringen und gräßliche Erinnerungen heraufzubeschwören - bis sein gemarterter Körper ihnen schließlich keinerlei Widerstand mehr entgegensetzte.
Die menschlichen Wachen taten nichts, um ihm die Gefangenschaft zumindest erträglich zu gestalten. Im Gegenteil. Sie schickten die Dementoren immer öfter zu ihm und verhöhnten ihn noch, wenn er sich nach ihren "Besuchen" nicht mehr aufrecht halten konnte.
Schon bald nach seiner Gefangennahme begann Snapes Magen gegen das, was sie als Essen austeilten zu rebellieren, so daß er meist gar nichts mehr zu sich nahm außer der kläglichen Ration brackigen Wassers, die jedem Insassen zustand.
Als er zu schwach wurde, sich zum Latrineneimer in der Ecke zu schleppen, spritzten ihn die Wachen mit eiskaltem Wasser ab und ließen ihn durchnäßt in der zugigen Zelle.
Kalt war ihm auch jetzt; sein Körper schien nicht mehr in der Lage zu sein, ausreichend Wärme zu produzieren, um den Frost aus seinen Gliedern zu vertreiben.
Eine warme Hand strich ihm über die Stirn. Reflexartig versuchte er zurückzuweichen, aber die Muskeln gehorchten ihm nicht. Die Decke (Seit wann gab es in Azkaban Decken?) wurde gelüftet und etwas an seine Seite gelegt, das sofort wohlige Wärme spendete.
Das Gefühl war so angenehm, daß es Snapes reduzierte Gedankenwelt für eine Weile völlig gefangennahm.
Eine Stimme drang von ferne an seine Ohren, nicht barsch oder schneidend, vielmehr wunderbar leise und beruhigend. Snape versuchte, sich soweit zu sammeln, um wenigstens etwas von dem zu verstehen, was sie sagte, aber die Worte plätscherten an ihm vorüber, zu schlüpfrig, um von seinem gequälten Bewußtsein festgehalten zu werden.
Einem plötzlichen Impuls folgend, wollte er um die tägliche Wasserration bitten, aber Mund und Kehle waren so trocken, daß er nur ein heiseres Krächzen hervorbrachte.
"Severus", rief die Stimme hocherfreut, "du bist ja wach! Hast du Durst? Vorsichtig, nur einige Schlucke."
Jemand stützte seinen Nacken, und er trank gierig, bis das köstliche Naß viel zu schnell fortgezogen wurde.
Snape spürte das Brennen von Tränen hinter geschlossenen Lidern und schalt sich dafür. Sie hatten ihm mehr und besseres Wasser gegeben als üblich - wieso war er nicht einfach zufrieden?
Niemand spritzte ihn eiskalt ab - weshalb lag er überhaupt so weich und nicht auf dem nassen, kalten Steinfußboden?
Mit unendlicher Mühe schlug Severus Snape die Augen auf.
In dem gedämpften Licht erkannte er nach geraumer Zeit einen Mann, der sich über ihn beugte.
"Severus", sagte der Fremde sichtlich erfreut, "wie fühlst du dich?"
Snape holte zittrig Atem. Der andere kam ihm bekannt vor, aber er konnte sich nicht erinnern, woher.
Als habe er seine Gedanken gelesen, sagte der Fremde sanft: "Du bist zurück in Hogwarts, Severus."
Hogwarts. Albus Dumbledore. Potter. Lupin.
Der Werwolf Remus Lupin. Jetzt erinnerte sich Snape, aber für den altvertrauten Haß war er zu schwach. Eigentlich fühlte er sich nur schwindlig, ein wenig wie in Watte gehüllt.
"Albus wird wissen wollen, daß du wach bist", sagte Lupin leise. "Ich gebe ihm Bescheid."
Als er zurückkehrte, hatte Snape die Augen wieder geschlossen. Er wirkte zerbrechlich und elend.
"Soll ich dir die Wärmflasche erneuern?"
Snape fuhr zusammen und wagte kaum zu atmen, als Lupin die Temperatur des Wärmezaubers überprüfte.
Wenn ihn der Werwolf nur nicht berührte.
Sein Blick glitt zur Seite und blieb auf der Infusion hängen, die kontinuierlich in seine Vene tropfte. Eine vage Übelkeit stieg in ihm auf, aber bei dem Gedanken an Zaubertränke drehte sich ihm der Magen um. Vielleicht war diese Muggelkonstruktion gar nicht so verkehrt.
"Severus." Die Stimme klang unendlich erleichtert. Der alte Schuldirektor ließ sich an Snapes Bett nieder und umschloß eine seiner spinnenartigen kalten Hände.
Obwohl Dumbledore die einzige Person war, der der Tränkemeister jemals völlig vertraut hatte, machte er den verzweifelten Versuch, der Berührung zu entkommen.
Dumbledore ließ ihn bekümmert los und strich sich nachdenklich den Bart.
"Es tut mir leid, Severus", sagte er leise. "Ich hätte dich früher herausholen müssen, aber es... gab keine Möglichkeit..."
'Weil das Wohl vieler immer schwerer wiegt als das Wohl eines einzelnen', dachte Snape bitter. Aber was machte es schon aus, er hatte ja auch als Spion in Voldemorts Reihen immer wieder Grausamkeiten erdulden und selbst tun müssen. Insofern war die Verhaftung nur konsequent gewesen. Es spielte wirklich keine Rolle.
Wortlos schloß er die Augen und versank in einen unruhigen Dämmerschlaf, aus dem er aufschreckte, weil jemand - nein, das konnte nicht sein!
Wellen der Scham überfluteten ihn abwechselnd heiß und kalt, als ihm zu seinem Entsetzen klar wurde, daß ihm jemand tatsächlich eine Windel angelegt hatte.
So sehr er sich bemühte, die Tränen der Demütigung zurückzuhalten, sie bahnten sich einen Weg durch die geschlossenen Lider und erhöhten nur die Scham.
"Schsch", murmelte Poppy Pomfreys weiche Stimme tröstend, "es ist ja nur, bis es Ihnen etwas besser geht."
Sie streichelte zärtlich sein Haar (seltsam, dies empfand er nicht als unangenehm), und irgendwann schlief er wieder ein.
xoxoxox
Remus Lupin, der auf einem Nachbarbett seine Nachtruhe hielt, fuhr durch einen seltsamen Laut aus leichtem Schlaf.
"Severus?"
Der Tränkemeister schien in einem Alptraum gefangen. Er hatte knochige Finger in die Bettdecke gekrallt; Schweißtropfen standen in seinem verzerrten, bleichen Gesicht, und die Augen hielt er fest geschlossen.
"Severus, wach auf." Lupin packte ihn an den Schultern.
Snapes Lider flogen auf. Einen stummen Schrei auf den Lippen, versuchte er, sich wenigstens so weit zu orientieren, daß er wußte, wo er sich befand.
"Es war nur ein Traum", tröstete Remus Lupin.
Mitgefühl preßte ihm die Kehle zu, wenn er sah, wie sehr Snape sich bemühte, sogar noch jetzt die Selbstbeherrschung zu wahren.
Der Zaubertränkemeister zitterte so, daß Lupin kaum die Worte ausmachen konnte, die sich über weiße Lippen quälten.
Im nächsten Moment überwältigte ihn der Brechreiz. Lupin riß ihn hoch. Irrer Schwindel verstärkte die Übelkeit.
"Okay, ruhig, gleich ist es besser", murmelte Lupin und versuchte, gleichzeitig Snapes Haar zurückzuhalten und ihn zu stützen, damit er sich nicht verschluckte. Dabei hatte Snape nichts im Magen, das er erbrechen konnte, aber unbarmherziges Würgen schüttelte ihn weitere zwanzig Minuten, bevor ihm Lupin behutsam die Lippen säuberte und ihn so sanft wie möglich zurücklegte.
Snape war schweißüberströmt; die Laken dunkel vor Feuchtigkeit.
Lupin graute vor dem, was er unweigerlich würde tun müssen.
"Severus", begann er, und wirklich schlug der Angeredete die Augen auf, doch inzwischen war er ganz offensichtlich zu schwach, um vorzugeben, es ginge ihm gut.
"Ich müßte dich umziehen und ... kurz abwaschen", sagte Lupin zögernd und spürte sich vor Verlegenheit erröten.
Snape wurde noch eine Spur blasser. Es war schon schlimm genug, vor Poppy Pomfrey so schrecklich hilflos zu erscheinen, aber vor Lupin... dem Werwolf, der ihn früher auch nur verhöhnt hatte? Undenkbar! Völlig ausgeschlossen!
Er spürte Panik in sich aufsteigen. Mit oder ohne seine Einwilligung, Lupin würde es tun, würde sehen, daß er... nicht einmal die Körperfunktionen zuverlässig kontrollieren konnte.
Nein! NEIN! Warum respektierte er nicht...
Snape verkrampfte sich vor Scham und Angst, die Augen geschlossen, die Lippen zu einem schmalen Strich zusammengepreßt.
Er wollte schreien, konnte es jedoch nicht. Die Schwäche schien übermächtig. Plötzlich wußte er nicht mehr, wie er das Ein- und Ausatmen koordinieren sollte. Der Brechreiz war zurückgekehrt, und Snape würgte trocken.
"Ist gut, Severus, ist ja schon vorbei." Ein feuchtes Tuch unter seinem Kinn. "Entspann dich, ich bin fertig."
Hatte Lupin tatsächlich...? Snape bekam beim besten Willen kein Gefühl für seinen Körper.
"Beruhige dich", tröstete Lupin, die Stimme schwer von unterdrücktem Mitgefühl. "Tief atmen, so ist es gut."
Er strich ihm mit äußerster Vorsicht eine dunkle Strähne aus der Stirn und breitete die Decke wieder über seine abgezehrte Gestalt.
"Versuch zu schlafen"; sagte er leise, obwohl er einen weiteren Alptraum mindestens ebenso fürchtete wie Snape. "Ich bin hier, wenn du etwas brauchst."
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