Harry Potter und das Sonnenamulett

 

Zurück

 

Zurück zur
Startseite


Kapitel 8: Der erste Schultag




Harry lag in seinem Himmelbett, die Vorhänge zugezogen. In Gedanken ließ er noch einmal die Ereignisse des vergangenen Tages an sich vorbeiziehen. Plötzlich verspürte er einen stechenden Schmerz in seiner Narbe. Ihm wurde schwindlig und seine Augen begannen zu brennen.

Harry saß auf einer Art Felsenthron, seine langen Knochenfinger spielten mit einem Zauberstab. Er war außer sich vor Wut. Vor ihm standen in einem lang gezogenen Halbkreis etwa zwanzig vermummte Gestalten.

"Das bin nicht ich", meldete sich auf einmal eine kleine Stimme in Harrys Kopf, "das ist wieder so eine Vision, die ich gar nicht haben sollte!"
Mit aller Kraft konzentrierte Harry seine Gedanken darauf, aufzuwachen, fort zu kommen von diesem Ort.

Und plötzlich veränderte sich etwas: Harry hatte das Gefühl, zu schweben. Er hatte nun nicht mehr die Empfindung, in Voldemorts Körper zu sein, war aber auch nicht wieder in seinem Himmelbett in Hogwarts, sondern schwebte körperlos über der Szenerie mit den vor Voldemort stehenden Gestalten. Der Ort war in silbernes Mondlicht getaucht. Aus dieser Perspektive sah Harry, dass sie sich auf einem Platz, der mit alten Bäumen umstanden war, befanden. Vor sich sah er eine alte Ruine und im Hintergrund erkannte Harry eine felsige Steilküste, an der sich die Wellen brachen. In Harry stritten sich gegensätzliche Empfindungen: Die Vernunft sagte ihm, dass er alles daran setzen musste, diese Vision abzublocken, doch die Neugierde war stärker. "Vielleicht kann ich etwas Wichtiges für den Orden herausfinden", gab er sich selbst eine Rechtfertigung.

"Malfoy, komm her zu mir", hörte Harry nun Voldemorts kalte, höhnische Stimme unter sich. Der Angesprochene machte ein paar unsichere Schritte auf den Felsensitz zu. Sein Gesicht war aschfahl. Als er bei Voldemort angekommen war, ließ er sich auf die Knie sinken und küsste den Saum von Voldemorts Gewand.
"Mein Lord", sagte Lucius Malfoy mit fast tonloser Stimme.
Voldemort hob seinen Zauberstab und richtete ihn auf die vor ihm kauernde Gestalt. "Crucio!"

Malfoy sackte zusammen und wand sich unter Schmerzen am Boden. Nach einer Weile hob Voldemort seinen Zauberstab und Malfoy kämpfte sich zitternd auf die Knie.
"Ich bin sehr enttäuscht von dir, Lucius", zischte die kalte Stimme, "du siehst ein, dass ich dich für dieses erneute Versagen schwer bestrafen muss?"
"Ja, mein Lord." Malfoy hatte seinen Blick gesenkt. "Aber Nott trägt die Hauptschuld an dem Fehlschlag", versuchte der am Boden kauernde Todesser eine Rechtfertigung, "er trägt die Hauptschuld am Scheitern des Unternehmens."
"Schweig! Auch er wird noch seine Strafe erhalten, wie alle, die meine Befehle nicht befolgen!"
"Aber ich wäre nicht geflüchtet ohne Potter. Ich war nicht bei Bewusstsein durch den Schockzauber dieser Aurorin und Nott..."

"Silencio!" Voldemort hatte seinen Zauberstab auf Malfoys Mund gerichtet. Malfoys Lippen bewegten sich weiter, aber es war kein Laut mehr zu hören. "Dein Gejammer interessiert mich nicht. Das einzige, was mich interessiert ist die Tatsache, dass Potter nun wieder in Hogwarts ist und nicht, wie es sein sollte, längst eine Leiche.
Snape, Avery, McNair!" Die drei Genannten traten vor und ließen sich vor Voldemort auf die Knie sinken. "Euch wird die besondere Ehre zu teil, ihn gleichzeitig mit dem Cruciatus-Fluch belegen zu dürfen." Da alle drei ihre Kapuzen heruntergezogen hatten, konnte Harry ihre Gesichter nicht sehen.

Voldemort hob seinen Zauberstab und hob den Schweigezauber auf. Harry wurde voller Entsetzen klar, dass er das nur deshalb getan hatte, um sich an Malfoys Schreien zu ergötzen, wenn dieser von drei Leuten gleichzeitig mit dem Cruciatus-Fluch gefoltert wurde.

Mehr wollte Harry nicht mehr sehen. Er wollte nur noch fort von hier, zurück in sein Bett! Mit aller Kraft konzentrierte er sich auf diesen Gedanken, in den Ohren Malfoys Schmerzensschreie.

Das nächste, was Harry wahrnahm, war ein Schrei. Er erkannte, dass er selbst diesen Laut ausgestoßen hatte. Harry saß aufrecht in seinem Bett. Die Vorhänge waren beiseite gezogen und Ron beugte sich besorgt über ihn. "Alles in Ordnung, Harry? Soll ich jemanden holen?"
"Nein, ist nicht nötig, mir geht's gut." Neville, Dean und Seamus blickten fragend und ängstlich zu ihnen herüber.
"Ihr könnt euch wieder hinlegen", beschwichtigte sie Harry, "tut mir echt leid, dass ich euch aufgeweckt habe, hatte bloß ‚nen Albtraum."

Die drei Jungen zogen sich wieder in ihre Betten zurück, Ron nahm auf Harrys Bettkante Platz. "Was war denn los?" Harry erzählte Ron, was er gesehen hatte.
"Aber du hast doch gesagt, dass du mit diesem Okklu... dingsda Zeugs mit Moody gut zurecht gekommen bist. Da dürfte so was doch gar nicht mehr vorkommen."
"Es hat sich doch auch was verändert. Ich meine, dass ich jetzt nicht mehr die ganze Zeit in Voldemorts Körper oder in einer Schlange gesteckt habe und dass ich es selbst geschafft habe, dass es aufhört, ist doch ein Fortschritt, oder?"

"Mann, das ist cool!" Ron war auf einmal sehr aufgeregt. "Wenn du das noch weiter übst, könntest du vielleicht richtig als Spion arbeiten, einfach in du-weisst-schon-wem seinem Kopf rumstöbern. Und du wärst sicher, könntest das einfach von deinem Bett aus machen, ohne dich in Gefahr zu bringen!"
"Darüber hab ich auch schon nachgedacht." Harry rieb sich nachdenklich seine Narbe, die sich wieder völlig beruhigt hatte. "Aber es ist gefährlicher, als du denkst. Die Verbindung ist, wie du weißt, gegenseitig und Voldemort würde es vielleicht merken. Das ist ja auch der Grund, warum Dumbledore so großen Wert darauf legt, dass ich weiter Okklumentikunterricht nehme. Es besteht die Gefahr, dass Voldemort so auch alles über unsere Pläne erfährt."
"Wir müssen morgen mit Hermine darüber reden", entschied Ron, "mal sehen, was sie von der Sache hält.
Obwohl es mir schon Spaß machen würde, Snape seinen Job wegzunehmen", fügte Harry nach einer kleinen Pause nachdenklich hinzu, "dem würde richtig was fehlen, wenn er keine Leute mehr foltern kann. Ich glaub nämlich, dem macht das richtig Spaß."
"Kann ich mir bei dem Ekel auch vorstellen", sagte Ron. Damit beendeten sie das Gespräch und legten sich schlafen.

"Sei vorsichtig, Harry", sagte Hermine am nächsten Morgen, als Harry und Ron ihr auf dem Weg zur Großen Halle von dem Vorfall in der letzten Nacht erzählt hatten, "du darfst keinesfalls ein Risiko eingehen. Bevor du nicht wirklich sicher in Okklumentik bist, ist es zu gefährlich, damit zu spielen."
"Das will ich ja auch gar nicht", entgegnete Harry leicht gereizt, "ich hab gedacht, du würdest mich wenigstens dazu beglückwünschen, dass ich weitergekommen bin."
"Ja, das ist schon richtig, aber eigentlich dürften solche Dinge überhaupt nicht mehr passieren."
"Also ich find' die Vorstellung echt cool, dass Harry in du-weisst-schon-wem seinem Kopf rumstöbern kann", meldete sich Ron begeistert.
"Typisch Ronald Weasley", fauchte Hermine, "so unüberlegt kannst auch nur du daherreden. Du solltest dir wirklich im Klaren darüber sein, was das für Gefahren mit sich bringen kann."

Inzwischen hatten die drei den Gryffindor-Tisch erreicht und ließen sich auf ihren Plätzen nieder. Als Harry gerade dabei war, sich einen Toast zu buttern, kam Professor McGonagall und verteilte die Stundenpläne. "Kommen Sie heute Nachmittag um fünf Uhr in mein Büro, Potter. Ich möchte wegen der kommenden Quidditchsaison mit Ihnen sprechen." Die Lehrerin reichte Harry seinen Stundenplan und ging weiter den Tisch entlang.
"Pass auf, Kumpel, du wirst bestimmt unser neuer Captain", sagte Ron begeistert.

Auf Harrys Züge trat ein glückliches Lächeln. Endlich würde er wieder Quidditch spielen! Das war das wichtigste überhaupt! Er wäre natürlich mächtig stolz, wenn er zum Captain ernannt würde. Doch erst einmal musste Harry den ersten Unterrichtstag hinter sich bringen.

"Verteidigung gegen die dunklen Künste und Zaubertränke. Zwei Doppelstunden heute Vormittag", verkündete Harry, nachdem er einen Blick auf sein Blatt geworfen hatte, "und heute Nachmittag noch eine Doppelstunde Kräuterkunde."

"Ich hab die letzten beiden Stunden frei", sagte Ron triumphierend, "ich bin ja nicht in Snapes UTZ-Kurs, Gott sei Dank!"
"Dann fang am besten gleich damit an, deine Hausaufgaben zu erledigen, die du bestimmt in den ersten beiden Stunden bekommen wirst", riet ihm Hermine mit erhobener Stimme.
"Nein, dazu hab ich keine Zeit. Ich hatte in den Ferien keine Gelegenheit, zu trainieren. Ich werd' die freie Zeit dazu nutzen, um fitt zu sein. Falls ich noch mal ne Chance bekomme in der Quidditch-Mannschaft."
Hermine schnaubte verächtlich und beschäftigte sich mit ihrem Rührei.

"Wenn dir der alte Snape zu unerträglich wird, dann wende dich vertrauensvoll an mich." Ginny zwinkerte Harry verschwörerisch zu. "Fred und George haben mir einige interessante Sachen mitgegeben."
"Danke, vielleicht werd' ich drauf zurückkommen." Harry grinste. "Wie hast du denn die Sachen durch die strengen Kontrollen deiner Mutter geschmuggelt", wollte er interessiert wissen.
"Das war genial. Wir, ich meine Fred und George, haben die Tüte zuerst mit einem Verkleinerungszauber belegt und dann haben wir sie noch so verhext, dass sie unsichtbar war. Ich hab diesen Zauber in einem Buch gefunden, aber George hat ihn ausgeführt."
"Wow, Ginny, das ist ja klasse!" Harry warf ihr einen bewundernden Blick zu.
"Naja, nicht direkt unsichtbar", relativierte sie, "man hätte sie schon sehen können, es geht eher darum, dass die Aufmerksamkeit davon abgelenkt wird. Der Zauber hat bewirkt, dass Mum, als sie meinen Koffer kontrolliert hat, immer drumherumgesucht hat."

"Was soll denn das bedeuten, Wahrsagen bei Trelawney und Astrologie bei Firenze?" Harry blickte verständnislos in die Runde.
"Ja, sie sind beide weiterhin Lehrer hier", erklärte Hermine ungeduldig. "Kannst du dich nicht mehr erinnern, was Dumbledore bei seiner Rede auf dem Fest zum Schuljahresende...?" erschrocken hielt sie inne und blickte Harry leicht verstört an. "Entschuldige, ich hab nicht mehr dran gedacht, dass du nicht in der Großen Halle warst."
"Schon gut, Hermine", sagte Harry beschwichtigend, "ich freu mich, dass Firenze weiter hier unterrichtet."
"Es ist so vorgesehen", fügte Hermine erklärend hinzu, "dass wir uns in den nächsten beiden Wochen entscheiden müssen, ob wir Astrologie oder Wahrsagen weiter belegen wollen. Man kann sich natürlich auch für beide Fächer entscheiden."

Auf einmal war ein heftiges Rauschen zu hören und Hunderte Eulen flogen in die Große Halle. Eine Schleiereule flog auf Hermine zu und diese löste die heutige Ausgabe des Tagespropheten vom Bein des Vogels. "Ein Bericht über den Kampf." Hermine hielt das Blatt so, dass Harry, Ron und Neville, der auf Hermines rechter Seite saß, mitlesen konnten.


HARRY POTTER, DER JUNGE, DER ÜBERLEBTE, DURCH HELDENHAFTEN EINSATZ VON MINISTERIUMSAUROREN VOR ENTFÜHRUNG DURCH TODESSER GERETTET!!!

Gestern am frühen Abend spielte sich auf dem Bahnhof von Hogsmeade eine dramatische Szene ab. Kaum war der Hogwartsexpress, der die Schüler aus den Ferien zu einem neuen Schuljahr nach Hogwarts zurückbrachte, auf dem Bahnhof eingefahren, da versuchten etwa zehn Todesser, unterstützt von ebenso vielen Dementoren, sich des von uns allen so geliebten und bewunderten Harry Potters zu bemächtigen. Doch, Merlin sei Dank, konnte dieser heimtückische Anschlag vereitelt werden.

"Ich hatte die Situation sofort im Griff", erklärt Jeremy Dawlish, 43, der Leiter der Aurorengruppe, die den Hogwartsexpress aus Sicherheitsgründen begleitet hatte, "wir waren vorgewarnt", so Dawlish. "Sie hatten keine wirkliche Chance, den Jungen in ihre Gewalt zu bringen. Nach einem kurzen Kampf waren diese Monster überwältigt, meine Kollegen haben mich natürlich tatkräftig unterstützt."

Wie wir aus sicherer Quelle erfahren haben, wird unser Zaubereiminister diesen mutigen Auroren mit einer Auszeichnung belohnen. Wir freuen uns, unseren Lesern solch beruhigende Mitteilungen machen zu können. Bei solchen mutigen Kämpfern an der Front können wir auch weiterhin ruhig schlafen, trotz der Gefahr, in der wir uns seit der Rückkehr von dem, dessen Name nicht genannt werden darf, befinden.

Rita Kimkorn



"Mann Hermine", sagte Ron, "warum hast du diese Rita Kimkorn jemals aus dem Glas rausgelassen?"
"Die lügen doch, wie gedruckt", empörte sich Harry, "dieser Dawlish war den ganzen Kampf über nicht zu sehen und jetzt kriegt der noch ne Auszeichnung! Außerdem schreiben die immer noch kein Wort davon, dass Lucius Malfoy und seine Kumpane wieder frei sind! Und dann tun sie noch so, als hätten sie alle Todesser gekriegt. Das ist nicht zu fassen, wie die die Leute für dumm verkaufen. Ich muss sofort mit Dumbledore reden!" Harry sprang so heftig von seinem Stuhl auf, dass dieser zu Boden fiel.

"Dazu hast du jetzt keine Zeit mehr", beschwichtigte ihn Hermine und legte eine Hand auf Harrys Schulter, "der Unterricht beginnt gleich. Außerdem wird Professor Dumbledore den wahren Hergang schon von Professor Fenwick erfahren haben. Beruhige dich, Harry."

Harry atmete ein paar Mal tief durch und ließ sich seufzend wieder auf seinem Platz nieder. Er warf einen Blick hinüber zum Lehrertisch. Der Schulleiter war in ein angeregtes Gespräch mit Professor McGonagall vertieft. Professor Fenwick zerknüllte gerade den Tagespropheten und warf ihn auf den Tisch, ihr Gesicht vor Wut verzerrt. Harry sah aus dem Augenwinkel, dass ihr Snape, der neben ihr saß, einen höhnischen, schadenfrohen Blick zuwarf. Harrys Blick blieb kurz an Snape hängen. Der Zaubertränkemeister sah noch blasser aus als sonst und hatte dunkle Ringe unter den Augen. Harry hatte den Eindruck, dass er noch übellauniger war, als gewöhnlich. Voller Unbehagen dachte er an die Doppelstunde Zaubertränke, die er an diesem Vormittag noch vor sich hatte.

Als Harry seinen Blick von Snape abwandte, begegnete er dem von Draco Malfoy. Dieser sah triumphierend zu Harry herüber, ein verschlagenes Grinsen auf dem blassen spitzen Gesicht. Harry hatte unwillkürlich das Bild vor Augen, als der falsche Moody Draco in ein Frettchen verwandelt hatte. 'Wahrscheinlich hat Malfoy gerade die Nachricht gekriegt, dass sein Vater schon wieder entkommen ist', dachte Harry und wieder spürte er, wie die Wut in ihm hochstieg.

"Wir müssen los", mahnte Hermine, "sonst kommen wir noch zu spät zur ersten Stunde."

Alle Gryffindors im sechsten Jahr fanden sich zeitig im Klassenzimmer für die Verteidigung gegen die dunklen Künste ein. Dieses Fach hatten sie auch in diesem Jahr - unabhängig von ihren Vornoten - im Klassenverband. Aufgrund der aktuellen Ereignisse hatte der Schulleiter Verteidigung gegen die dunklen Künste zum Pflichtfach bis zum Ende der siebten Klasse erklärt. In diesem Fach war es immer das gleiche: In jeder ersten Stunde des Schuljahres war man nicht sicher, was einen erwarten würde. In jedem Jahr hatten sie einen neuen Lehrer gehabt.

Kaum hatten sich alle Schüler auf ihren angestammten Plätzen eingerichtet, betrat Professor Fenwick das Klassenzimmer. Sie ließ ihren Blick über die Schüler schweifen, während sie mit kleinen, festen Schritten zu ihrem Pult ging, vor dem sie, der Klasse zugewandt, stehen blieb. Die Gespräche im Raum verstummten und jeder wandte seine Aufmerksamkeit der neuen Lehrerin zu. Sie wirkte streng und unnahbar in ihrem schwarzen Umhang und mit den zu einem festen Knoten hochgesteckten dunkelbraunen Haaren.

"Guten Morgen allerseits", begrüßte sie die Klasse, "ich freue mich auf eine gute Zusammenarbeit." Dann begann sie, die Schüler einzeln aufzurufen, indem sie ihre Namen von einem Pergament ablas. Dabei sah sie jeden der Schüler intensiv an, als wollte sie sich das jeweilige Gesicht, das zu dem Namen gehörte, genau einprägen.
"Heute werden wir eine Stoffwiederholung machen, damit ich Ihren Wissensstand einschätzen kann", fuhr Professor Fenwick fort, "doch vorher möchte ich noch ein paar grundsätzliche Dinge klarstellen: Ich erwarte in meinem Unterricht absolute Konzentration, Aufmerksamkeit und Pünktlichkeit. Wir befinden uns mitten im Krieg, seit Voldemort zurückgekehrt ist."
Bei dem Namen zuckten alle außer Harry und Hermine unwillkürlich zusammen und setzten gequälte Mienen auf. Professor Fenwick machte eine ungeduldige Handbewegung und fuhr in ihren Ausführungen fort: "Ich hoffe, Ihnen allen ist der Ernst der Lage klar. Nur, wer lernt, sich effektiv zu verteidigen, hat überhaupt eine Chance, diesen Krieg zu überleben!" Die Gesichtszüge der Lehrerin hatten sich bei den letzten Worten verhärtet und ein gefährliches Glitzern war in ihre Augen getreten.
"Wie Sie bereits Ihren Bücherlisten entnehmen konnten, wird der Schwerpunkt des Unterrichts in diesem Jahr, wie es meiner Meinung nach in diesem Fach immer sein sollte, auf der Praxis liegen."

"Aber wenn es kein obligatorisches Buch gibt, wie sollen wir dann für die Prüfungen lernen?", fragte Parvati Patil.

"Sie werden als Hausaufgabe - außer praktischen Übungen natürlich - Ausarbeitungen der Stunden anfertigen, die ich korrigieren werde. Die jeweils beste Ausarbeitung werde ich dann magisch kopieren und der gesamten Klasse zur Verfügung stellen. Das sollte als Grundstock genügen. Außerdem hat jeder interessierte Schüler die Möglichkeit, sein Wissen in der ausgezeichneten Bibliothek, die wir hier an dieser Schule haben, zu erweitern."

"Das hört sich nach 'ner Menge Arbeit an", raunte Ron Harry zu.
"Mr. Weasley, sprechen Sie bitte etwas lauter, damit wir alle an Ihren Ausführungen Teil haben können?"
"Nicht so wichtig", murmelte Ron.
"Ich dulde keine Seitengespräche in meinem Unterricht. Wenn Sie etwas zu sagen haben, tun Sie es laut oder überhaupt nicht. Das nächste Mal werde ich dieses Verhalten mit Punktabzug für Ihr Haus ahnden.
Bevor wir nun zur Stoffwiederholung kommen, werden wir eine Konzentrationsübung praktizieren, für die wir am Anfang jeder Stunde ein paar Minuten einplanen werden. Weiterhin erwarte ich von Ihnen, dass Sie diese Übung auch zu hause regelmäßig durchführen. Bitte stecken Sie Ihre Zauberstäbe ein."

Bei dieser Aufforderung ging ein enttäuschtes Raunen durch die Klasse. Harry musste sofort an Professor Umbridge, Professor Fenwicks Vorgängerin, denken, die in ihrer ersten Unterrichtsstunde ebenfalls von ihnen verlangt hatte, die Zauberstäbe einzustecken. Der gesamte Unterricht bei ihr war eine einzige Katastrophe gewesen.
"Aber Sie haben doch vorhin gesagt, wir würden vor allem praktisch arbeiten", protestierte Harry etwas ungehalten.
"Alles zu seiner Zeit, Mr. Potter. Für diese Übung brauchen wir aber keinen Zauberstab, er wäre eher hinderlich. Die Übung wird Ihnen helfen, Ihren Kopf leer zu machen, frei von allen im Moment unnötigen Gedanken, Gefühlen und Bildern. Das wird Sie dazu befähigen, sich ganz und gar auf das zu konzentrieren, was jetzt gerade wichtig ist, Ihre Zauber werden so wesentlich effektiver sein. Wir werden uns in diesem Jahr mit komplizierten Zaubern und Flüchen beschäftigen, die für die Verteidigung äußerst wirkungsvoll sind, jedoch nur dann, wenn man bei ihrer Ausführung vollkommen konzentriert ist. Wenn Sie mit den Gedanken zum Beispiel beim nächsten Quidditch-Spiel sind oder sich Ihr nächstes Rendezvous ausmalen, während Sie zaubern, kann dies sehr gefährlich werden. Ich werde Ihnen das zu einem späteren Zeitpunkt noch demonstrieren.
Doch nun lassen Sie uns beginnen:
Setzen Sie sich entspannt hin und schließen Sie Ihre Augen. Seien Sie sich immer dessen bewusst, dass es Ihr Ziel ist, an nichts zu denken. Konzentrieren Sie sich jetzt eine kleine Weile auf Ihren Atem. Lassen Sie Ihre Gedanken vorbeiziehen, wie die Wolken am Himmel und versuchen Sie, nichts festzuhalten. Fahren Sie so fort, bis ich mich wieder melde."

Harry spürte, wie er immer wütender wurde. Was sollte denn nun dieser Blödsinn bedeuten? Wie sollte einem das etwas nützen, wenn man Voldemort oder seinen Todessern gegenüber stand? Wenn das so weiterging, würden sie wieder nichts im Unterricht lernen. Was hatte sich Dumbledore nur dabei gedacht, diese Frau anzustellen? Harry schien es, als zögen sich die Minuten endlos dahin und Professor Fenwick brach diesen Schwachsinn immer noch nicht ab. 'Vielleicht ist sie ja ein Spion Voldemorts', schoss es Harry auf einmal durch den Kopf, 'und sie versucht, auf eine ganz hinterlistige Art, unsere Verteidigung zu schwächen. Oder sie ist einfach vollkommen ungeeignet für diesen Posten.'

Plötzlich hielt es Harry nicht mehr auf seinem Stuhl. Er sprang auf und schrie die Lehrerin, die gerade den Mund öffnete, um etwas zu sagen, mit zornfunkelnden Augen an: "DIESER QUATSCH BRINGT DOCH ÜBERHAUPT NICHTS, WENN MAN SICH VERTEIDIGEN SOLL! DA HAT DOCH JEDER ANGREIFER SCHON ZEHNMAL DEN TODESFLUCH ABGEFEUERT, BEVOR SIE MIT DIESEM UNSINN ÜBERHAUPT ERST ANGEFANGEN HABEN! WEISS DENN HIER NIEMAND, WORUM ES GEHT? ALS ICH VOLDEMORT GEGENÜBER GESTANDEN HABE, HATTE ICH KEINE ZEIT FÜR SOLCHE SPIELEREIEN!"

Die anderen Schüler waren erschrocken zusammengezuckt, als Harry aufgesprungen war und so abrupt die Stille unterbrochen hatte. Nun starrten sie gebannt ihre Lehrerin an.
"AUßERDEM WERDE ICH...", schrie Harry weiter. Doch, was er würde, erfuhren seine Klassenkameraden nie, denn Professor Fenwick unterbrach ihn. "Danke Potter, das genügt. Fünfzehn Punkte Abzug für Gryffindor!" Sie sprach sehr leise, mit eisiger Stimme, jede Silbe betonend. Ihr Gesicht war völlig ausdruckslos. "Jeweils fünf Punkte für undiszipliniertes, unhöfliches und unbeherrschtes Verhalten. Damit wir uns nicht missverstehen, Potter, ich habe Ihnen die Punkte nicht abgezogen, weil Sie Kritik an meinen Lehrmethoden geäußert haben, sondern wegen der untragbaren Art, wie Sie das getan haben. Lernen Sie endlich Selbstbeherrschung, Potter! Besonders in Ihrer Situation ist das unerlässlich, wenn Sie überleben wollen."
Harry starrte die Lehrerin wütend an, schluckte jedoch weitere Entgegnungen hinunter. Er nahm sich fest vor, Professor Fenwick genau zu beobachten, um sich Klarheit über ihre wahren Absichten zu verschaffen.

"In der nächsten Stunde", fuhr die Lehrerin fort, "beginnen wir wieder mit der Übung und zu Hause praktizieren Sie sie mindestens einmal am Tag für ein paar Minuten. Und nun beginnen wir mit der Stoffwiederholung. Zauberstäbe raus!"
Die Schüler zogen erleichtert ihre Zauberstäbe, froh, dass diese unangenehme Situation vorbei war.

"Ach, bevor ich es vergesse", wandte sich Professor Fenwick noch einmal an Harry, "bitte bleiben Sie nach der Stunde noch kurz hier, Mr. Potter, ich habe mit Ihnen zu sprechen." Harry nickte unbehaglich.

"Professor, das finde ich total unfair", sagte Ron mit lauter Stimme. "Sie haben Harry schon genug Punkte abgezogen, da müssen Sie ihm nicht auch noch eine Strafarbeit aufgeben!"
"Sie sollten sich in Zukunft folgenden Dreierschritt zu eigen machen, Weasley: Zuhören, nachdenken, reden. Hätten Sie dies getan, wäre Ihnen sicherlich nicht entgangen, dass ich lediglich mit Potter reden will, nichts weiter." Bei diesem Satz hatte Professor Fenwick einen sarkastischen Unterton in ihre Stimme gelegt und sie zog genervt die Mundwinkel herunter. Ron schlug verlegen die Augen nieder.

Den Rest der Stunde verbrachten sie mit Stoffwiederholungen und Professor Fenwick zeigte sich äußerst befriedigt über den Stand der Klasse. Als es läutete, war Neville gerade dabei, ausführlich zu erklären, wie man mit einem Irrwicht umging. Sofort begannen die Schüler, ihre Sachen zusammenzupacken, begierig, so schnell wie möglich in die Pause zu kommen.
"Halt", sagte Professor Fenwick gebieterisch, "bei mir gilt folgende Regel: Nicht das Klingeln beendet die Stunde, sondern der Lehrer. Wir haben vorhin unnötigerweise etwas Zeit verloren und ich bin nicht gewillt, dies auf Kosten des Stoffes durchgehen zu lassen. Longbottom, bitte fahren Sie mit Ihren Ausführungen fort."

"Sehr gut", sagte Professor Fenwick, als Neville geendet hatte, "fünf Punkte für Gryffindor. In der nächsten Stunde werden wir uns mit der Neutralisierung magisch verhexter Gegenstände beschäftigen. Ich würde mich freuen, wenn der eine oder andere sich auf dieses Thema etwas vorbereiten würde. Dies ist jedoch keine verpflichtende Hausaufgabe, sondern eine Möglichkeit, Sonderpunkte zu sammeln. Und nun sind Sie entlassen."

Harry sah beunruhigt auf seine Armbanduhr. Schon fünf Minuten der Pause waren vorbei. Nun sollte er noch bleiben, um mit Professor Fenwick zu reden. Bereits in zehn Minuten begann Snapes Unterrichtsstunde. Harry ging nach vorne zum Lehrerpult und sah die Lehrerin, die damit beschäftigt war, ihre Unterlagen zusammenzupacken, fragend an. Sie bedeutete ihm mit einer Handbewegung, zu warten. anscheinend wollte Professor Fenwick mit Harry alleine sprechen. In diesem Moment war ein Poltern zu hören: Dean Thomas' Schultasche war aufgerissen und ihr gesamter Inhalt verstreute sich auf dem Boden. Das würde weitere kostbare Minuten kosten! Ron, Neville und Seamus waren ihrem Kameraden zu Hilfe geeilt. Harry blieb nichts anderes übrig, als abzuwarten.
"Geh schon mal vor", sagte Harry zu Hermine, die ihn fragend ansah, "vielleicht kannst du Snape ja erklären, warum ich zu spät komme, falls ich es nicht mehr rechtzeitig schaffe."

Endlich schloss sich die Tür hinter dem letzten Schüler. Nur noch sechs Minuten, bis Snapes Stunde begann.

"Der Schulleiter hat mich beauftragt, Ihnen mitzuteilen", sagte Professor Fenwick in geschäftsmäßigem Ton, "dass ich Ihre Unterrichtsstunden in Okklumentik übernehmen werde. Finden Sie sich jeden Donnerstag um fünf Uhr Nachmittags in meinem Büro ein."
Harry bemühte sich, sich sein Unbehagen nicht anmerken zu lassen. Er war sich nicht sicher, ob diese Unterrichtsstunden viel angenehmer als bei Snape sein würden.
"Ich habe von Moody gehört", fuhr Professor Fenwick in dem gleichen geschäftsmäßigen Ton fort, "dass Sie schon gute Fortschritte in Okklumentik gemacht haben. Wir werden uns weiter mit den unverzeihlichen Flüchen beschäftigen, vor allem damit, wie Sie dem Cruciatus- und dem Imperius-Fluch Widerstand leisten können. Ich habe gehört, dass Sie bei der Abwehr des Imperius-Fluches schon erfolgreich waren, doch ist es wichtig, dies noch zu effektivieren."
"Aber den Cruciatus kann man doch nicht abblocken", wandte Harry ein.
"Nein, nicht wirklich, aber es gibt Techniken, die es einem ermöglichen, die Folgen etwas abzumildern, zumindest dann, wenn der Fluch nicht zu lange aufrechterhalten wird. Weiterhin werden Sie eine Ausbildung im Fechten und Schwertkampf erhalten." Harry sah die Lehrerin verblüfft an. "Ja, diese Muggeltechniken sind wunderbar dafür geeignet, Ihren Körper zu trainieren. Diesen Teil des Unterrichts wird ab einem gewissen Punkt Professor Snape übernehmen. Doch an diesem Punkt werden wir erst in einigen Wochen angelangt sein."

Harry war entsetzt. Wieder Einzelunterricht mit Snape! Wie konnte ihm Dumbledore das nur antun!!! Er nahm sich vor, mit dem Schulleiter darüber zu reden. Wenigstens sollte der Unterricht mit Snape nicht schon in den nächsten Tagen beginnen.

"Erzählen Sie niemandem etwas über den Inhalt dieser Stunden, Potter. Wenn es unumgänglich ist, dass Sie darüber sprechen, dann erzählen Sie nur, dass Sie einen Zusatzunterricht in Verteidigung gegen die dunklen Künste erhalten. Es ist durchaus üblich, dass besonders begabte Schüler zusätzlich gefördert werden können. Und das bringt mich zum zweiten Punkt."

Harry sah mit einem gequälten Blick auf seine Armbanduhr. Snapes Unterricht hatte seit zwei Minuten begonnen.

"Weiter bittet mich der Direktor, Ihnen mitzuteilen, dass er sehr erfreut darüber wäre, wenn Sie auch in diesem Schuljahr einen Übungskurs für Verteidigung gegen die dunklen Künste leiten würden, wie Sie das offenbar im vergangenen Schuljahr so erfolgreich getan haben. Denken Sie darüber nach. Bis Donnerstag möchte der Schulleiter eine Antwort haben. Wir Lehrer, einschließlich des Schulleiters, würden Sie bei dieser Arbeit natürlich unterstützen."
"Warum spricht Professor Dumbledore nicht selbst mit mir darüber?", fragte Harry. Im letzten Schuljahr hatte Dumbledore über Monate hinweg nicht direkt mit Harry gesprochen, ihn nicht einmal angesehen. Sofort fühlte Harry sich wieder an diese Zeit erinnert und verspürte einen Stich in der Brust, obwohl er genau wusste, dass Dumbledore damals seine Gründe für sein Verhalten gehabt hatte.

"Wir können gerne in sein Büro gehen", wieder war der sarkastische Unterton in Professor Fenwicks Stimme, "aber ich war der Meinung, Sie würden es vorziehen, nicht allzu spät zu Ihrer nächsten Stunde zu kommen. Sie können jetzt gehen, Potter. Dann bis Donnerstagnachmittag um fünf in meinem Büro. Bitte seien Sie pünktlich." Harry murmelte noch ein "Ja, Professor" und rannte dann aus dem Klassenzimmer. Das schlimmste, was ihm jetzt noch passieren konnte, war, dass ihm Peeves, der Poltergeist, in die Quere kam. Doch Harry hatte Glück. Völlig außer Atem kam er vor der Tür des Klassenzimmers für Zaubertränke zum Stehen.

All seinen Mut zusammennehmend, klopfte Harry an die Tür.
"Ja, bitte", sagte Snapes leise, sanfte Stimme. Harry atmete noch einmal tief durch, bevor er die Klinke herunterdrückte und das Klassenzimmer betrat.
"Hält es der von uns allen so bewunderte und geliebte Harry Potter endlich für angemessen, uns mit seiner Anwesenheit zu beehren?" Snapes Stimme triefte nur so vor Sarkasmus und Hohn. Er hatte sich Harry zugewandt und hielt dessen Blick fest. Harry hatte die Empfindung, als würde er in den schwarzen tunnelartigen Augen versinken. Er senkte als erster den Blick.

"Der Unterricht hat bereits seit sieben Minuten begonnen. Aber solche für uns Normalsterblichen gemachten Regeln haben für einen berühmten, von uns allen bewunderten Star anscheinend keine Gültigkeit. Er kommt und geht, wie es ihm beliebt."
"Professor Fenwick hat mich..."
"Zweiundvierzig Punkte Abzug für Gryffindor", fuhr Snape fort, ohne auf den Einwand Harrys zu achten. Auf Snapes Gesicht lag ein hämisches Grinsen. Harry musste sich zusammennehmen, damit ihm nicht vor Schreck die Kinnlade herunterfiel.

"Dies ist Ihr sechstes Jahr an dieser Schule, Potter. Ihre Verspätung beträgt sieben Minuten. Ihr Jahrgang multipliziert mit Ihrer Verspätung ergibt sechs mal sieben gleich zweiundvierzig Punkte Abzug für Gryffindor." Snape hörte sich an, als würde er einem unendlich begriffsstutzigen Schüler etwas ganz einfaches erklären. Aus dem Augenwinkel sah Harry, dass Draco Malfoy schadenfroh grinste.

"Aber Professor Fenwick hat mich...", versuchte Harry noch einmal eine Rechtfertigung.
"Halten Sie endlich den Mund, Potter", unterbrach ihn Snape erneut, "sonst werde ich Gryffindor den höchsten Punktabzug verpassen, den es in der Geschichte Hogwarts je gegeben hat. Herein!" Schon wieder klopfte jemand an die Klassenzimmertür. Professor Fenwick trat ein, ein Päckchen in der Hand. "Entschuldigen Sie die Störung, Professor Snape", wandte sie sich an den Zaubertränke-Meister.

"Was kann ich für Sie tun?", fragte Snape. Er zog verächtlich eine Augenbraue hoch.
"Dieses Päckchen wurde gerade für Sie im Lehrerzimmer abgegeben. Professor McGonagall sagte, Sie erwarteten dringend Zaubertrankzutaten, da habe ich mich erboten, das Päckchen herzubringen."
"Danke", sagte Snape unwirsch und nahm Professor Fenwick das Päckchen aus der Hand.

Die Lehrerin für die Verteidigung gegen die dunklen Künste wandte sich um und ging zur Tür. Plötzlich blieb sie stehen und sah Harry an. Aus irgendeinem Grund hatte sie, wie es Harry schien, ein hinterhältiges Grinsen aufgesetzt.
"Bevor ich es vergesse, Mr. Potter. Ich habe Sie noch gar nicht zu Ihrem ausgezeichneten Patronus von gestern Abend beglückwünscht. Zwanzig Punkte für Gryffindor. Einen guten Tag, allerseits." Harry sah die Lehrerin irritiert an. Was sollte nun dies wieder bedeuten? Professor Fenwick wandte sich nun endgültig ab und verließ das Klassenzimmer. Wenn Blicke töten könnten, wäre sie sofort von dem Blick, den Snape ihr zuwarf, tot umgefallen.

"Nehmen Sie Platz, Potter", sagte Snape, nachdem sich die Tür hinter der Lehrerin geschlossen hatte. "Und Sie fahren mit Ihrer Arbeit fort", fügte er an die Klasse gewandt hinzu.
Harry hatte zum ersten Mal Gelegenheit, sich richtig umzusehen. Er stellte fest, dass die anderen Schüler paarweise zusammen saßen und bereits mit dem Brauen eines Zaubertrankes, dessen Rezept an der Tafel stand, begonnen hatten. Als Harry die Paare betrachtete, war ihm klar, dass Snape die Auswahl, wer mit wem zusammenarbeitete, getroffen haben musste. Susan Bones und Draco Malfoy hätten sich sicherlich niemals freiwillig zusammengetan. Hermine arbeitete mit Blaise Zabini, einem feingliedrigen Slytherin-Mädchen mit schulterlangen schwarzen Locken. Dann waren da noch Terry Boot mit einem Ravenclaw-Mädchen, das, wenn Harry sich richtig erinnerte, Lisa Turpin hieß, Hannah Abbott mit einem unauffälligen dunkelblonden Jungen aus Slytherin, dessen Namen Harry nicht kannte, und zwei Mädchen, von denen Harry nur sagen konnte, dass sie aus Ravenclaw kamen. Harry registrierte voller Entsetzen, dass sich der einzige noch freie Platz vorne, in der Nähe von Snapes Pult befand. Zögernd setzte sich Harry auf den freien Stuhl und begann, seine Zaubertrankutensilien auszupacken.

Snape war an Harrys Tisch getreten und starrte ihn durchdringend an. "Wenn Sie nicht riskieren wollen, diese Stunde mit einem Ungenügend zu verlassen, sollten Sie unverzüglich mit Ihrer Arbeit beginnen, anstatt Ihren Mitschülern zuzusehen", sagte Snape ölig.

"Welchen Zaubertrank genau brauen wir heute, Sir", fragte Harry zögernd.
"Ich pflege nicht, meine Ausführungen zu wiederholen", antwortete Snape genüsslich, "es ist nicht meine Schuld, dass Sie es nicht für nötig befunden haben, am Anfang der Stunde anwesend zu sein. Doch, wenn Sie der Gabe des Lesens mächtig sind, dürften Sie alle erforderlichen Informationen an der Tafel finden. Ich werde Sie genau im Auge behalten, Potter." Bei den letzten Worten hatte Snapes Gesicht einen drohenden Ausdruck angenommen.

Harry spürte, wie eine Woge des Hasses in ihm aufbrandete. Wie konnte es dieser arrogante, schmierige Typ nur wagen, so abgrundtief gemein und unfair zu sein! Harry wäre am liebsten aufgesprungen und hätte Snape seinen Haß ins Gesicht geschrieen, doch er unterdrückte diesen Impuls. Snape würde ihm nur noch mehr Punkte abziehen, wenn er jetzt die Beherrschung verlor. Plötzlich kam Harry ein Gedanke: Diesem Bastard würde er es zeigen! In der Prüfung, als Snape nicht da gewesen war, hatte es Harry geschafft, einen ganz passablen Zaubertrank hinzubekommen. Warum nicht jetzt einfach so tun, als wäre der Mistkerl nicht hier? Harry würde ihm heute nicht die Genugtuung verschaffen, dass sein Zaubertrank wieder missglückte! Er richtete seinen Blick auf die Tafel und las: "Trank zur Steigerung der Konzentration." 'Na bestens', dachte Harry. Er hätte alles dafür gegeben, diesen Trank jetzt schon fertig vor sich zu haben, um einen großen Schluck davon einnehmen zu können. Verbissen machte er sich daran, seine Krötenhirne zu zerkleinern. Bei jedem Schnitt stellte Harry sich genüsslich vor, wie er Snape wehtat. Seine Wut befähigte Harry dazu, alles um sich herum zu vergessen, selbst Snape, der ihn ständig anstarrte. Für Harry gab es nur noch die Tafel mit dem Rezept und sein Arbeitstisch mit dem Kessel und den Zaubertrankzutaten.

Harry schrak zusammen, als Snape plötzlich sagte: "Ihr Trank sollte jetzt eine hellgrüne Farbe angenommen haben."
Harry stellte entsetzt fest, dass sein Gebräu eine dunkelblaue Färbung hatte.
"Wenn Sie nachgedacht hätten, Potter", sagte Snape, dem Harrys Erschrecken natürlich nicht entgangen war, "dann hätten Sie erkannt, dass dies für Ihren Trank aufgrund des Umstandes, dass Sie Ihre Ginsengwurzel noch nicht hinzugefügt haben und der darauf folgende Siedevorgang noch nicht abgeschlossen ist, natürlich nicht gilt."
Harry schluckte eine wütende Entgegnung hinunter und fuhr mit seiner Arbeit fort. Am Ende der Stunde, gerade in dem Moment, als es läutete, füllte Harry ein Fläschchen mit dem fertigen Zaubertrank, der den gestellten Anforderungen, wie Harry fand, vollauf entsprach. Voller Genugtuung trat er an Snapes Pult und reichte ihm sein Fläschchen.
"Geben Sie endlich her, Potter", sagte der Lehrer ungeduldig, "ich habe nicht ewig Zeit." Er nahm Harry die Phiole aus der Hand und spielte gedankenverloren damit. Ein gehässiges Grinsen trat auf Snapes Gesicht und Harry befürchtete schon, Snape würde das Fläschchen, wie er es schon einmal getan hatte, einfach fallen lassen, doch dann stellte er es zu den Anderen. Harry packte schnell seine Sachen zusammen und verließ, ohne sich noch einmal umzublicken, das Klassenzimmer.

***



Nachdem sich die Tür hinter dem letzten Schüler geschlossen hatte, begann Violet Fenwick erleichtert damit, ihre Unterlagen zusammenzupacken. Den ersten Unterrichtsvormittag hatte sie erfolgreich hinter sich gebracht. Nur, wenn sie an die Sache in Snapes Klassenzimmer dachte, beschlich Violet ein leises Unbehagen. Welcher Teufel hatte sie nur geritten, so offensichtlich die Autorität eines Kollegen zu untergraben? Snape hatte es nicht besser verdient, gab sie sich selbst sofort eine Rechtfertigung. Violet war, nachdem sie mit dem jungen Potter gesprochen hatte, ins Lehrerzimmer gegangen, um dort eine Tasse Kaffee zu trinken, denn sie hatte nach der sechsten Klasse der Gryffindors eine Freistunde gehabt. Kaum war sie dort angekommen, da hatte eine Schleiereule das Päckchen für Snape abgegeben. Aus irgendeinem Grund war das Geschäft, bei dem Snape die Zutaten bestellt hatte, nachlässig gewesen, so dass der Eule nur das Ziel ihres Auftrages, nicht aber der Name des Empfängers bekannt gewesen war. Außer Violet war nur Professor McGonagall anwesend gewesen, die aber gewusst hatte, dass Snape dringend Zaubertrankzutaten erwartete. Violet hatte sich daraufhin aus Gründen der Höflichkeit sofort bereit erklärt, das Päckchen zu seinem Bestimmungsort zu bringen. Als sie dann Snapes Klassenzimmer betreten hatte, war ihr die Situation sofort klar gewesen: Snape hatte den jungen Potter für sein Zuspätkommen bestraft. Das hatte ihr bereits ein Blick auf die sich in der Mitte des Klassenzimmers feindselig gegenüber stehenden Kontrahenten gezeigt. Als sie das hämische Grinsen auf Snapes Gesicht und die ohnmächtige Wut des Jungen gesehen hatte, hatte Potter Violet fast ein bisschen Leid getan. Sicher, sie hatte ihn auch bestraft, aber das hatte auch einen guten Grund gehabt. Dagegen hatte Violet das Gefühl, dass Snape nur aus reiner Bosheit gehandelt hatte. Ansonsten wäre er dem vernünftigen Argument, dass Potter nichts für seine Verspätung konnte, weil Violet ihn im Auftrag des Schulleiters aufgehalten hatte, zugänglich gewesen. Violet war sich sicher, dass Potter Snape eine Erklärung für sein Zuspätkommen gegeben hatte. Wie sie den Jungen bis jetzt kennen gelernt hatte, war der doch nie um eine Antwort verlegen. Violet hatte sich einen Augenblick lang gefragt, ob sie Snape die Situation erklären sollte, doch sie hatte diese Überlegung gleich wieder verworfen. Violet hatte die Angelegenheit auf ihre Weise geregelt. Wenn sie ehrlich zu sich selbst war, musste die Lehrerin sich eingestehen, dass sie nicht in erster Linie eingegriffen hatte, um Potter einen Gefallen zu tun. Sie war der Überzeugung, je eher der Junge lernte, sich selbst zu verteidigen und durchzusetzen, desto besser für ihn. Doch der Versuchung, die Fledermaus zu ärgern, hatte sie einfach nicht widerstehen können. Snape hatte es nicht anders verdient. Er hatte kein Recht dazu, Violet so von oben herab zu behandeln, wie er es tat. Entschieden schob sie die Zweifel an der Richtigkeit ihres Handelns beiseite, ergriff ihre Tasche und verließ das Klassenzimmer, um in ihre Privaträume hinüberzugehen.

Als Violet ihr Büro betrat, hörte sie einen ohrenbetäubenden Lärm aus dem Wohnzimmer, den sie nicht zuordnen konnte. Als die Lehrerin die Wohnzimmertür öffnete, kam Molly Weasley mit einer kleinen Reisetasche in der Hand auf sie zu. "Hallo Violet. Gut, dass du kommst! James ist gerade total abgelenkt, so dass jetzt für mich ein günstiger Zeitpunkt ist, um aufzubrechen." Molly musste beinahe schreien, um den Krach, der im Zimmer herrschte, zu übertönen.

"Vertragen sich die Beiden?", fragte Violet und blickte zu ihrem Sohn und der Hauselfe hinunter. Beide saßen nebeneinander auf dem Boden. Sie spielten offenbar ein Spiel, das darin zu bestehen schien, dass Winky unablässig Türme aus Bausteinen baute, die James dann, vergnügt krähend, wieder umwarf. Die Bausteine waren verhext, denn immer, wenn James die Türme umstieß, gab jeder Stein ein anderes Quietsch-, Schrei-, Brumm- oder Knallgeräusch von sich.
"Sie verstehen sich blendend, wie du siehst", erwiderte Molly beruhigend. "Diese Bausteine sind ein Geschenk von Fred und George für James. Die Beiden sind dabei, auch noch Kinderspielzeug in ihr Sortiment aufzunehmen. Wenigstens einmal Dinge, die relativ harmlos sind."
"Dann sag deinen Söhnen herzlichen Dank für das Geschenk, aber schlag ihnen vor, dass sie die nächste Serie so produzieren sollen, dass die Steine etwas weniger Krach machen."
"Ich fürchte, dieser Vorschlag wird bei den Beiden auf wenig Gegenliebe stoßen", antwortete Molly schmunzelnd.
"Danke Molly für alles." Violet umarmte die ältere Frau herzlich.
"Schon in Ordnung, Violet. Und jetzt mach's gut. Wir sehen uns beim nächsten Treffen im Hauptquartier." Molly ergriff ihre Reisetasche und verließ das Wohnzimmer.

Violet stellte fest, dass James so beschäftigt war, dass er weder bemerkt hatte, dass sie gekommen noch dass Molly gegangen war. Nun sah sie zum ersten Mal Winky richtig an. Der Hauselfe schien es nicht sehr gut zu gehen. Sie hatte dunkle Ringe unter den Augen, ihre Hände zitterten heftig und auf ihrer Stirn standen dicke Schweißperlen. Es schien ihr große Mühe zu bereiten, immer wieder einen Stein auf den anderen zu setzen. Immer, wenn James die Türme umwarf, griff sich Winky an den Kopf und ein gequälter Ausdruck trat in ihre großen, braunen Augen, doch sie beklagte sich nicht. Immer wieder schichtete Winky Stein auf Stein und James warf die Türme um, vor Vergnügen krähend. Der ohrenbetäubende Lärm, den die Steine machten, schien bei Winky jedes Mal neue Wellen des Kopfschmerzes auszulösen. Violet stellte fest, dass die Kleidung der Hauselfe ordentlich gebügelt war. Offensichtlich hatte sie seit gestern Abend auch kein Butterbier mehr getrunken und litt jetzt sicherlich an schweren Entzugserscheinungen. Violet seufzte. Der Krach war für sie selbst schon schwer zu ertragen. Wie furchtbar musste er da erst für die Hauselfe sein! Violet empfand auf einmal tiefes Mitgefühl mit dem kleinen Wesen. Winky war butterbierabhängig und Violet erkannte, dass es grausam von ihr gewesen war, der Hauselfe einfach nur zu befehlen, kein Butterbier mehr zu trinken, ohne ihr weitere Hilfe anzubieten. Eine derartige Sucht konnte man nicht allein mit einem Befehl aus der Welt schaffen.

"Winky, komm einmal her zu mir", sagte Violet freundlich. Winky erhob sich zitternd und kam zu Violet herüber.
"Was wünschen Sie, Professor-Madam?", fragte die Hauselfe, während sie wieder diese übertrieben tiefe Verbeugung machte, die sie beinahe das Gleichgewicht verlieren ließ. Winky zitterte inzwischen so heftig, dass sie Schwierigkeiten hatte, sich auf den Beinen zu halten.
"Ich bin sehr zufrieden mit dir, Winky", fuhr Violet in dem gleichen freundlichen Ton fort, "ich habe jetzt Mittagspause bis drei Uhr, dann beginnt meine nächste Stunde. Deshalb kann ich mich jetzt selbst um James kümmern und du kannst dich ein wenig ausruhen. Du hast doch einen Freund, der Dobby heißt und unten in der Küche arbeitet, nicht wahr?" Winky nickte unsicher.
"Dann setz dich hier auf diesen Sessel. Ich werde Dobby rufen, damit er uns etwas zu essen und einen Krug Kürbissaft bringt."

Zu Violets Verwunderung begann Winky nach diesen Worten, heftig und lautstark zu weinen. Ein gekränkter Ausdruck war in ihre Augen getreten. "Winky ist eine gute Hauselfe", sagte sie mit unerwartet fester Stimme, "Winky hat ihre Familie verloren, aber nicht ihre Ehre! Winky setzt sich nie nich hin, wenn eine Hexe im Zimmer ist! Winky lässt nie nich Dobby ihre Arbeit tun! Bitte Professor-Madam, zwingen Sie Winky nicht dazu, solche schlimmen Sachen zu machen!" Die braunen Augen der Hauselfe blickten flehend zu Violet auf und Winky begann wieder, herzzerreißend zu schluchzen.

"Turm", sagte James und streckte fordernd eine Hand nach Winky aus. Als diese nicht reagierte, wiederholte James seine Forderung immer nachdrücklicher, bis er schließlich in wütendes Schreien ausbrach, weil er seinen Willen nicht bekam. Violet beugte sich zu ihrem Sohn hinunter und sagte ruhig aber bestimmt: "Winky ist ein bisschen müde, James. Mama baut dir einen Turm."
Doch James war nicht gewillt, sich so einfach zufrieden zu geben. Er unterbrach sein Wutgeheul nur, um seine Hände wieder fordernd nach Winky, die immer noch mit hoher, piepsiger Stimme anhaltend schluchzte, auszustrecken und gebieterisch "Turm!" zu rufen.
Violet hatte inzwischen selbst Kopfschmerzen von dem ständigen Lärm in diesem Zimmer. Das war nicht auszuhalten! Wie sollte sie da Kraft für ihren Nachmittagsunterricht sammeln?
"Ruhe jetzt, alle Beide", sagte Violet leise, Jede Silbe betonend. Das wirkte. James hörte schlagartig mit seinem Gebrüll auf, wandte sich aber beleidigt von seiner Mutter ab. Winky verstummte ebenfalls, doch blickte sie Violet immer noch flehend an.
"Winky, ich werde dich nicht zwingen, Dinge zu tun, die gegen deine Ehre verstoßen", sagte Violet, bemüht, ihrer Stimme wieder den freundlichen Ton von vorhin zu geben, "geh jetzt selbst in die Küche hinunter und hole eine Kleinigkeit zu Essen und zu Trinken."
"Ja, Professor-Madam", sagte Winky, verbeugte sich noch einmal und verließ dann stolpernd das Wohnzimmer.

Violet wandte sich wieder ihrem Sohn zu. James war inzwischen damit beschäftigt, mit seinem Plüschelefanten zu spielen. Die Lehrerin atmete erleichtert auf. Endlich war es einmal still in diesem Zimmer!

Dann ging Violet hinüber in ihr Büro und öffnete eine kleine Vitrine, in welcher sie ihre Zaubertrank-Vorräte und -Zutaten aufbewahrte. ‚Ich muss unbedingt meine Vorräte ergänzen', dachte Violet, als sie ihren Blick suchend über den Inhalt der Vitrine gleiten ließ. Schließlich griff sie nach einer Phiole, die noch zu einem Drittel mit einer hellbraunen Flüssigkeit gefüllt war. Dieser Beruhigungstrank würde erst einmal genügen, um die Symptome etwas zu lindern. Da Violet zurzeit kein Labor zum Brauen von Zaubertränken zur Verfügung stand, würde sie gleich nach dem Nachmittagsunterricht zu Poppy Pomfrey gehen, um sie um eine Medizin zur Unterstützung von Winkys Entzug zu bitten.

Nach einigen Minuten kam Winky zurück, beladen mit einem großen Tablett, das sie kaum tragen konnte. Auf dem Tablett befanden sich mehrere Schüsseln und Platten mit den unterschiedlichsten Speisen sowie eine Flasche Rotwein und ein Krug mit Kürbissaft. Violet fragte sich verwundert, wer diese Riesenmengen vertilgen sollte, doch, um die Hauselfe nicht unnötig zu verunsichern, machte sie keine Bemerkung darüber.
"Danke, Winky." Sie lächelte die Hauselfe aufmunternd an. Dann nahm sie ein Glas vom Tablett, schüttete ein paar Tropfen aus der Phiole hinein und goß Kürbissaft darüber, um den bitteren Geschmack des Trankes etwas zu neutralisieren.

"Winky, sag mir jetzt bitte, wie viel von diesem Zeug du jeden Tag getrunken hast."
Der Hauselfe rannen schon wieder dicke Tränen über das Gesicht. "Winky weiß, dass sie eine schlechte Hauselfe ist, wenn sie Butterbier trinkt, aber sie kann den Schmerz sonst nicht aushalten. Winky war immer eine gute Hauselfe, bis ihr Herr ihr Kleidung gegeben hat!"

"Das glaub ich dir, Winky. Ich frage dich nicht, weil ich dir wehtun will, sondern weil ich dir helfen möchte. Also, wie viel Butterbier hast du in der letzten Zeit täglich getrunken?"
Winky blickte auf ihre Füße. "Winky kann das nicht sagen, Professor-Madam, wenn Winky die Schande nicht mehr aushält, trinkt sie Butterbier."

Violet träufelte noch ein paar Tropfen des Trankes in das Glas.
"Ich will dir helfen, von dieser Sucht los zu kommen", sagte sie und blickte Winky fest an, "aber das kann ich nur dann tun, wenn du selbst wirklich damit aufhören willst, dieses Zeug zu trinken. Es reicht nicht aus, wenn ich dir das nur befehle, du selber musst es wirklich wollen. Du hast jetzt eine Aufgabe. James braucht dich, Winky. Wer soll sich sonst um ihn kümmern, wenn ich im Unterricht bin? Und sicherlich siehst du ein, dass du deine Arbeit nicht anständig tun kannst, wenn du weiterhin Butterbier trinkst."
Die Hauselfe nickte langsam. "ja, Professor-Madam. Winky will wieder gesund werden. Sie will damit aufhören, dieses schreckliche Butterbier zu trinken, aber sie hat Angst, dass sie es nie nich schafft! Sie hat schon versucht, aufzuhören, aber dann ging es ihr so schlecht, dass sie,,, dass sie wieder angefangen hat. Doch dann ging es ihr auch nicht gut. Seit Winky Butterbier trinkt, will keiner der anderen Hauselfen, außer Dobby, etwas mit ihr zu tun haben. Das macht Winky sehr traurig. Winky war immer eine angesehene Hauselfe, aber jetzt..."Unablässig liefen ihr dicke Tränen über das Gesicht.

"Ich will dir helfen", sagte Violet noch einmal und hielt Winky das Glas hin. "Trink das. Es ist eine Medizin, die dir helfen wird, etwas ruhiger zu werden."

Gehorsam griff die Hauselfe nach dem glas, ihre Hände zitterten so heftig, dass Violet befürchtete, das Getränk würde überall, nur nicht in Winkys Mund, landen. Doch erstaunlicherweise schaffte sie es schließlich, das Glas auszutrinken, nur ihre Bluse wies einige Flecken auf, nachdem sie damit fertig war.

"Was soll Winky jetzt tun?"
Violet sah zu ihrer kleinen messingfarbenen Kaminuhr hinüber. "Es ist jetzt kurz vor zwei. Du kannst eine Pause machen. Sei um viertel vor drei wieder hier."
"Darf Winky hinuntergehen und ein bisschen mit Dobby reden?"
"Du hast Pause, Winky. Du darfst alles tun, was du möchtest, außer natürlich - Butterbier trinken."

In Winkys Augen war wieder ein gequälter Ausdruck getreten.
"Vertrau mir, Winky", sagte Violet begütigend, "ich bin sicher, dass du es schaffen wirst, von dieser Sucht los zu kommen."
"Danke, Professor-Madam." Winky verbeugte sich noch einmal vor Violet, bevor sie das Wohnzimmer verließ.

Auf Violets Zügen breitete sich ein zynisches, selbstquälerisches Lächeln aus. Ausgerechnet sie hatte ein anderes Wesen gebeten, ihr zu vertrauen. Ausgerechnet sie, die schon so oft hatte erleben müssen, dass die Menschen, denen sie vertraut hatte, denen sie sich geöffnet hatte, nicht hatten verhindern können, dass sie Schmerz, Verzweiflung und Verlust erlebte. Schon vor langer Zeit hatte Violett den Beschluss gefasst, niemanden mehr an sich heranzulassen, um den Schmerz, die Verzweiflung, den Verlust nicht mehr fühlen zu müssen. Das letzte Mal hatte Violet vor etwa zwei Jahren gegen ihre eigene Regel verstoßen. Und was war daraus entstanden? Wieder Schmerz, Verlust und Enttäuschung. Und nun bat ausgerechnet sie ein anderes Wesen, ihr zu vertrauen. Das Leben war paradox. Aber nein, das letzte Mal war es anders: Da war nicht nur Schmerz, Verlust und Verzweiflung. Sie hatte James, ihren Sohn, den sie aus tiefstem Herzen liebte.

"Nun werd bloß nicht sentimental", rief sich Violet selbst zur Ordnung, "fang endlich an etwas zu essen, sonst kannst du deine Schüler heute Nachmittag mit den Geräuschen, die dein knurrender Magen verursacht, unterhalten."

***



Harry fühlte sich, als würde er schweben, als er am Nachmittag das Büro von Professor McGonagall verließ. Er konnte es noch immer nicht fassen. Seine Hauslehrerin hatte ihn zum Captain der Quidditch-Mannschaft ernannt! Der Ärger des Vormittags war wie weggeblasen, als Harry sich auf den Weg zum Gryffindor-Turm machte.

"Passwort", forderte eine gereizte Stimme. Vollauf mit seinen Gedanken und Plänen beschäftigt, hatte Harry gar nicht bemerkt, dass er bereits vor dem Porträt der Fetten Dame stand, das den Eingang zum Gryffindor-Turm versperrte. "Calendula", antwortete Harry schnell.

Als er durch das runde Loch, das das zur Seite schwingende Porträt nun freigab, in den Gemeinschaftsraum der Gryffindors kletterte, wurde Harry von seinen klatschenden und johlenden Kameraden lautstark empfangen.
"Unser Captain lebe hoch.
Den Pokal, den krieg'n wir doch", skandierte eine begeisterte Menge. In der Mitte des Raumes schwebte ein riesiges Transparent, das zeigte, wie Harry auf seinem Feuerblitz unablässig durch das Bild schoss, die rechte Hand zur Faust geschlossen. Zwischen Harrys Fingern konnte man etwas goldenes, flatterndes, das versuchte, sich zu befreien, erkennen. Harrys Stimme sagte ständig: "Wir haben gewonnen!" Im Hintergrund des Bildes war ein großer Löwe, der majestätisch einher schritt, zu sehen.

"Herzlichen Glückwunsch, Harry!" Die Creevey-Brüder hatten sich als erste zu Harry durchgedrängt. Jeder der Beiden ergriff eine Hand des frisch gebackenen Mannschaftskapitäns. "Ist das nicht toll?", fragte Collin, mit der freien Hand auf das Transparent deutend, "das haben Dennis und ich gemacht."
"Ja, schon", sagte Harry und streckte beide Hände abwehrend nach vorne, nachdem sie die Creeveys endlich wieder losgelassen hatten, "aber bis jetzt haben wir ja noch nicht einmal ein Spiel gewonnen."
"Allein schon, dass du jetzt Captain bist, garantiert uns unseren Sieg", sagte Collin enthusiastisch.

"Da, Kumpel, trink ein Butterbier." Ron schlug seinem Freund kräftig auf die Schulter.
"Woher wusstet ihr überhaupt, dass sie mich zum Captain machen werden", fragte Harry.
"Mensch, was hätte McGonagall denn sonst von dir wollen können, wo sie doch über Quidditch mit dir reden wollte, wo doch die Spielerauswahl erst am Freitag ist?" Ron blickte Harry verständnislos an.

Harry fühlte sich unbehaglich. Natürlich freute er sich darüber, dass man ihn zum Captain gemacht hatte, doch warum mussten ihn die Anderen schon wieder als einen Helden feiern, wo er doch noch gar nichts geleistet hatte? Begriff denn niemand, dass jetzt erst einmal eine Menge harter Arbeit vor ihm lag? Harry hatte nun die schwierige Aufgabe, eine völlig neue Mannschaft zusammenzustellen und diese zu trainieren. Bei realistischer Betrachtungsweise hatten Ravenclaw, und vielleicht sogar Slytherin, im Augenblick wesentlich bessere Chancen als Gryffindor. Harry seufzte und versuchte, sich einen Weg durch die Menge zu seinem Lieblingssessel zu bahnen, was jedoch nicht einfach war, weil er überall von Leuten, die ihm zuprosten oder auf die Schulter klopfen wollten, aufgehalten wurde.

Schließlich entdeckte er Hermine und Ginny, die etwas abseits des Getümmels in einer Nische saßen.
"Herzlichen Glückwunsch, Harry", sagte Ginny.
"Danke", antwortete Harry und ließ sich in einen Sessel fallen, "hättest du sie nicht davon abhalten können, diesen Unsinn hier zu veranstalten, Hermine?"
"Keine Chance, Harry. Ron hat das mit deinem Termin bei Professor McGonagall heute Morgen überall rumerzählt und dann haben sie schon mit den Vorbereitungen angefangen."
"Na toll", sagte Harry gereizt, "Ron kann auch nicht mal was für sich behalten!"
"Ron hat sich nichts dabei gedacht", sagte Ginny, "er wollte dir eine Freude machen."
"Wann begreift hier eigentlich mal jemand, dass ich es hasse, immer etwas Besonderes zu sein, immer im Mittelpunkt zu stehen", sagte Harry bitter.
"Du wirst dich damit abfinden müssen, für die Anderen immer etwas Besonderes zu sein", sagte Hermine nachdenklich, "allein schon wegen der Umstände, wie du damals überlebt hast."

"Ich soll mich damit abfinden, zum Mörder zu werden oder mich selbst ermorden zu lassen", brach es heftig aus Harry heraus, "erklärt mir mal, wie ich das anstellen soll!"
Ginny und Hermine starrten Harry entsetzt an. Nachdem er sie ausgesprochen hatte, war Harry selbst zutiefst erschrocken über seine Worte. Jetzt war es also heraus. Harry hatte nun keine andere Wahl mehr, als Ginny und Hermine vom Inhalt der Prophezeiung zu erzählen. Vielleicht war es besser so, wenn er diese schwere Last endlich einmal mit jemandem teilte.

Harry blickte sich um, um sicher zu sein, dass ihnen niemand zuhörte, dann begann er hastig zu sprechen: "Wie ihr wisst, ist das Glasding mit meinem Namen drauf damals im Ministerium zerbrochen. Wir dachten also, dass die Prophezeiung für immer verloren gegangen wäre, doch das stimmt nicht. Professor Dumbledore war dabei, als sie gemacht wurde. Er hat sie in seinem Denkarium für immer aufbewahrt."
Ginny und Hermine warfen Harry verwunderte Blicke zu, doch unterbrachen sie ihn mit keinem Wort. "Dumbledore hat mich die Prophezeiung hören lassen. Aus irgendeinem Grund hat sich mir jedes Wort genau eingeprägt. Vielleicht ist da eine besondere Magie am Werk, wenn jemand eine Prophezeiung hört, die ihn betrifft."

"Warte einen Moment", sagte Ginny und zog ihren Zauberstab. Sie beschrieb einen Kreis um die Drei und sagte dabei: "Inaudiabilis!" Harry und Hermine blickten sie fragend an. "Ich hab dafür gesorgt, dass wir nicht belauscht werden", sagte Ginny stolz, "ist so ähnlich, wie der Zauber, den wir benutzt haben, damit Mum die Tüte von Fred und George nicht findet. Diesen Zauber hier hab ich übrigens selbst erfunden. Er wirkt allerdings nur ein paar Minuten, wie ich ihn dauerhaft hinkriege, weiß ich noch nicht."
Hermine kniff die Lippen zusammen. Harry hatte das Gefühl, als wäre sie eifersüchtig darauf, dass dieser Zauber nicht von ihr stammte.

Als Hermine und Ginny ihm wieder ihre Aufmerksamkeit zugewandt hatten, atmete Harry tief ein und rezitierte mit einer monotonen Stimme, die nicht zu ihm zu gehören schien:

"Der Eine mit der Macht, den Dunklen Lord zu besiegen, naht heran.
Jenen geboren, die ihm drei Mal die Stirn geboten haben, geboren, wenn der siebte Monat stirbt .. und der Dunkle Lord wird ihn als sich Ebenbürtigen kennzeichnen, aber er wird eine Macht besitzen, die der Dunkle Lord nicht kennt' und der Eine muss von der Hand des Anderen sterben, denn keiner kann leben, während der andere überlebt .. der Eine mit der Macht, den Dunklen Lord zu besiegen, wird geboren werden, wenn der siebte Monat stirbt."

Harry sah seine beiden Zuhörerinnen an. Sie versuchten, ihren Gesichtern einen gleichmütigen Ausdruck zu geben, es gelang ihnen nicht. Harry sah genau das, womit er gerechnet hatte: Entsetzen und Betroffenheit.

"Warum ist sich denn Dumbledore so sicher, dass du überhaupt gemeint bist?", fragte Hermine. "Ich meine, Prophezeiungen sind doch nie ganz eindeutig."
Harry erzählte ihnen das, was ihm Dumbledore an jenem Morgen erzählt hatte: Dass die Prophezeiung kurz vor Harrys Geburt von Sibyll Trelawney gemacht worden war, dass man zunächst nicht sicher gewesen war, welchen Jungen sie betraf. Denn aufgrund des Umstandes, dass sowohl Neville Longbottom, als auch Harry am 31. Juli Eltern geboren waren, die Voldemort bereits drei Mal entkommen waren, konnten sie Beide gemeint sein. Doch dann hatte Voldemort Harry mit der Narbe gekennzeichnet und damit war klar gewesen, dass er gemeint war.

Harry hatte die Hände ineinander gekrampft und ein gequälter Ausdruck verdunkelte seine Züge. Ginny legte impulsiv einen Arm um seine Schultern.

"Aber Harry", Hermine rieb sich nachdenklich die Stirn, "ich glaube nicht, dass das zwangsläufig bedeutet, dass du entweder von Voldemort getötet wirst, oder dass du ihn umbringen musst."
"Selbst Dumbledore scheint das zu glauben", erwiderte Harry hitzig, "sonst würde er nicht soviel Wert darauf legen, dass ich all diesen zusätzlichen Unterricht mache."
"Natürlich müssen wir davon ausgehen, dass du wieder gegen Voldemort kämpfen musst", sagte Hermine beschwichtigend, "aber da war auch die Rede davon, dass der, der den Dunklen Lord besiegt, eine Macht hat, die der Dunkle Lord nicht kennt. Harry, wenn du derjenige bist, der die Macht hat, Voldemort zu besiegen, hast du auch die Macht, die Voldemort nicht kennt!"
"Wenn ich doch nur wüsste, was das für eine Macht ist", sagte Harry eindringlich.
"Ich werde alles tun, um dir zu helfen, das herauszufinden", sagte Hermine und sah Harry fest an.

"Vielleicht", sagte Ginny leise, "ist das eine Macht, die bewirkt, dass du-weißt-schon-wer stirbt, ohne dass du zu seinem Mörder werden mußt. Ähnlich, wie damals, als er dich umbringen wollte, du aber durch die Liebe deiner Mutter gerettet wurdest und du-weißt-schon-wer fast selber gestorben wäre."

Harry sah Ginny und Hermine dankbar an. Er fühlte sich seltsam erleichtert und getröstet nach dieser Unterhaltung. Er hätte schon längst mit jemandem über diese Sache sprechen sollen.

"Hey Captain", Seamus Finnigan war zu ihnen getreten und hielt Harry eine Flasche Butterbier hin, "trink einen mit mir und sitz hier nicht so traurig rum an so einem Freudentag." Seufzend erhob sich Harry und trat neben Seamus.


 Kapitel 7

 Kapitel 9

 

Zurück