Harry Potter und das Sonnenamulett

 

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Kapitel 1: Die Postwurfsendung




Ein heftiges Sommergewitter braute sich über dem Ligusterweg zusammen. Es war die letzten Tage unerträglich heiß gewesen, nun türmten sich riesige Wolkenberge am Himmel auf. Ein heftiger Wind war aufgekommen und langsam begannen dicke Regentropfen zu fallen. Ein schwarzhaariger, schlaksiger Teenager mit Brille und einer blitzförmigen Narbe auf der Stirn war im Garten von Nr. Vier damit beschäftigt, das dürre Laub zusammenzuharken. Nachdem er sein Arbeitsgerät in den Schuppen gestellt hatte, ging er durch die Hintertür ins Haus. Er ging direkt nach oben in sein Zimmer, froh, keinem seiner Verwandten begegnet zu sein.

Die Ferien hatten vor vier Wochen begonnen. Es hätten die angenehmsten Ferien sein können, die Harry bis jetzt bei den Dursleys gehabt hatte. Harrys Empfangskomitee am Bahnhof King's Cross nach dem Eintreffen des Hogwartsexpress am Schuljahresende hatte mächtig Eindruck auf die Dursleys gemacht, wenn sie das auch mit keinem Wort zugegeben hätten. Sie behandelten Harry fast ausnahmslos so, als würde er überhaupt nicht existieren. Das bedeutete jedoch nicht, dass Harry nicht mit einer Menge Arbeiten, die im Haus und im Garten zu erledigen waren, überhäuft wurde. Harry hatte sich auf keine Diskussionen eingelassen und die ihm aufgetragenen Arbeiten erledigt, das lenkte ihn wenigstens etwas von seinen trüben Gedanken ab. Er hätte sich bei Moody oder einem anderen Mitglied des Ordens über diese Behandlung beschweren können, aber irgendwie wäre er sich dabei kindisch vorgekommen. Nur wenn es zu schlimm kam, ließ Harry eine kleine Bemerkung über seine Freunde fallen und das genügte, um die Dursleys in gebührendem Abstand zu halten. Zumindest hielten sich seine Verwandten mit direkten Provokationen zurück.
Wenn Harry sich zu den Dursleys ins Wohnzimmer setzte, um die Muggelnachrichten zu sehen, reagierte Onkel Vernon allenfalls mit einem säuerlichen Blick und einem undefinierbaren Grunzen, das seine Missbilligung ausdrücken sollte, und Tante Petunia rümpfte verärgert die Nase. Die Vorstellung, dass plötzlich ein halbes Dutzend von diesen unmöglichen Leuten bei ihnen im Haus auftauchen könnten, ängstigte sie offensichtlich so, dass sie sich Harry gegenüber sehr zurückhielten.
Vor drei Tagen, während des Abendessens, hatte Onkel Vernon jedoch, merkwürdigerweise, nachdem er einen Werbeprospekt gelesen hatte, den irgendwer in den Briefkasten geworfen hatte, ein hämisches Grinsen aufgesetzt und Harry schadenfroh angeblickt. Harry hatte keine Ahnung, was das zu bedeuten hatte, ihm war nur klar, dass es nichts gutes sein konnte.

Was Harry im Moment viel größere Sorgen machte, war der Umstand, dass Hedwig, seine Schneeeule, nun bereits seit über einer Woche nicht mehr zurückgekehrt war. Nachdem er sie mit einem Brief zu seinem besten Freund, Ron Weasley, geschickt hatte, war zwei Tage später eine Schleiereule mit einem besorgniserregenden und nicht gerade aufschlussreichen Brief von Remus Lupin angekommen.

Hallo Harry,
Hedwig kann nicht kommen, sie ist aber in Sicherheit. Du wirst sie bald wieder sehen. Geh' auf den Vorschlag deines Onkels ein, es ist alles in Ordnung. Wir holen dich bald ab. Unternimm nichts auf eigene Faust. Mach dir keine Sorgen. Bis bald.
R. L.


Seit dem hatte Harry keine Nachricht mehr erhalten, außer dem Tagespropheten, den er auch in diesen Ferien wieder abonniert hatte. Auch die Lektüre des Tagespropheten war nicht dazu geeignet, Klarheit zu schaffen oder Harrys Laune zu verbessern. Im Gegensatz zum letzten Jahr, wo man die Rückkehr von Lord Voldemort totgeschwiegen hatte, war die ganze Zeitung jetzt voller Artikel und Leserbriefe über Voldemorts Rückkehr. Wenigstens waren die Todesser, an deren Festnahme Harry und seine Freunde nicht ganz unbeteiligt gewesen waren, noch nicht wieder aus Askaban geflohen, doch auch das konnte nur eine Frage der Zeit sein, wo die Dementoren offensichtlich nicht mehr unter der Kontrolle des Ministeriums standen. Oder unterdrückte das Zaubereiministerium die schlimmsten Nachrichten, um eine Panik zu vermeiden, oder die eigene Unfähigkeit zu vertuschen?

Harry versuchte in seinem Lieblingsbuch 'Quidditch im Wandel der Zeiten' zu lesen, aber er konnte sich nicht konzentrieren. Unruhig ging er in seinem Zimmer auf und ab. Auch die Prüfungsergebnisse der ZAG-Prüfungen hatte er noch nicht erhalten.
Harry war wütend. Sollte es denn für immer so sein, dass er jeden Sommer für eine Zeit im Haus seiner Verwandten feststeckte, ohne auch nur die geringste Ahnung zu haben, was wirklich in seiner Welt passierte? Er hatte gehofft, dass wenigstens das in diesem Jahr anders sein würde. Zunächst hatte es auch so ausgesehen, denn in den ersten beiden Wochen der Ferien hatte Harry fast täglich Nachrichten mit einem Mitglied des Ordens oder einem seiner Freunde ausgetauscht; doch das hatte schlagartig aufgehört, nachdem er diesen rätselhaften Brief von Lupin erhalten hatte. Wenn doch nur endlich jemand käme, um ihn hier rauszuholen! Übermorgen war sein Geburtstag. Der würde auch so trostlos, wie immer, verlaufen - die Dursleys hatten seinen Geburtstag in den letzten Jahren geflissentlich vergessen. Aber wenigstens von seinen Freunden würde Harry dann Nachricht erhalten, aber nach dem Ausbleiben jeglicher Briefe in der letzten Woche konnte er da auch nicht mehr sicher sein. Plötzlich durchzuckte ihn ein jäher Schmerz, als er an seinen Paten dachte, von dem er nie mehr einen Brief erhalten würde. Sein Pate, Sirius Black, war am Ende des letzten Schuljahres im Kampf mit den Todessern gestorben. Wieder, wie so oft seit dem Tod seines Paten, verspürte Harry nagende Schuldgefühle. Hätte er damals...

"Harry", brüllte Onkel Vernon plötzlich von unten, "komm mal runter ins Wohnzimmer, Bursche! Deine Tante und ich haben mit dir zu reden.!
Widerwillig ging Harry nach unten. Wahrscheinlich war seinen Verwandten wieder eine Menge lästiger Arbeiten eingefallen, die sie ihm aufhalsen wollten. Als Harry das Wohnzimmer betrat, saßen Onkel Vernon und Tante Petunia auf dem Sofa, Dudley, sein Cousin, war nirgends zu sehen. Wahrscheinlich war er wieder mit seiner Bande unterwegs, um Jüngere zu verprügeln.
"Bursche", begann Onkel Vernon mit einem gehässigen Grinsen, "deine Tante und ich sind der Meinung, dass du nun langsam alt genug dafür bist, um selber etwas zu deinem Lebensunterhalt beizutragen. Seit sechzehn Jahren frisst du uns nun schon die Haare vom Kopf. Ich habe genau das Richtige für dich im Briefkasten gefunden. Ich hab' dich schon angemeldet." Onkel Vernon reichte Harry den Prospekt, der vor drei Tagen dieses hämische Grinsen ausgelöst hatte. Harry las:
"TOLLIVERS FERIENCAMP FÜR SCHWIERIGE JUNGEN
Die ideale Lösung für vielbeschäftigte Eltern!
Ihre Sprösslinge lernen Disziplin, Ordnung und Gehorsam.
TEAMGEIST wird bei uns groß geschrieben.
Sie bezahlen keinen Schilling!
Die Jungen arbeiten selbst für ihren Aufenthalt im Camp.
Schicken Sie Ihren Sprössling vier Wochen zu uns und Sie werden eine freudige Überraschung erleben!
Unser Team besteht aus gut ausgebildeten Pädagogen und Psychologen.
Nächster Termin:
vom 30. Juli bis 31. August.

Für nähere Informationen setzen Sie sich mit uns in Verbindung."
Anschrift, Telefon, Fax.

Weiter waren einige Fotos von Jungen zu sehen. Auf einem marschierten sie in Reih und Glied, auf einem anderen konnte man sehen, wie sie ein Zeltlager aufbauten.
"Du brauchst gar nicht erst zu versuchen, deine komischen Freunde zu benachrichtigen", blaffte Onkel Vernon. "Morgen Früh kommen sie und holen dich ab, Bursche. Dort werden sie dir endlich mal Manieren beibringen. Ich weiß auch, dass du deine komischen Freunde gar nicht mehr benachrichtigen kannst", feixte Onkel Vernon, "mir ist nicht entgangen, dass deine blöde Eule seit einer Woche nicht mehr zurückgekommen ist und auch sonst haben sie den Verkehr wohl eingestellt, bist ihnen wohl auch auf die Nerven gefallen."
"Pass auf, was du sagst", erwiderte Harry drohend, "meine Freunde könnten jetzt plötzlich alle durch den Kamin hereinkommen. Wie würde euch denn das gefallen?"
Tante Petunia gab ein seltsames Quietschen von sich.
"Bursche, erschreck deine Tante nicht so, sonst kannst du was erleben", blaffte Onkel Vernon.
"So, kann ich?" Harry grinste seinen Onkel frech an. "Ach übrigens, was soll ich überhaupt in diesem blöden Camp", fragte er weiter, "aber, wenn ich es mir so richtig überlege, kann es eigentlich nur besser sein, als bei euch hier", fügte er dann hinzu.
"Du undankbarer Junge", kreischte Tante Petunia. "Jahrelang opfern wir uns für dich auf und dann so etwas. Aber, wie dein Onkel schon sagte, dort wirst du endlich mal Manieren lernen. Du wirst dort mit vernünftigen Leuten zusammen sein, was man ja für den Rest des Jahres nicht behaupten kann."
Schlagartig fiel Harry der Brief von Remus Lupin ein und er verkniff sich eine Antwort. Sollte der Orden hinter diesem Unsinn stecken?
"So, Bursche und jetzt ab nach oben. Pack deine Sachen, sie holen dich morgen früh ab."
Ohne eine weitere Entgegnung verließ Harry das Wohnzimmer. Hatten seine Verwandten wieder einmal vergessen, ihn zum Abendessen zu rufen? Nun ja, wenn sie nachher vor dem Fernseher saßen, würde er sich in die Küche schleichen und sich bedienen. Genau genommen war ihm das sowieso lieber, denn Dudleys Diätärztin hatte ihm für die Ferien einen noch kargeren Speisezettel als sonst verordnet und so sahen dann die Mahlzeiten auch aus, denn Tante Petunia brach es ja das Herz, wenn ihr armer Duddes alleine fasten sollte. Das war die offizielle Seite der Angelegenheit, doch der Kühlschrank war gefüllt mit allem, was das Herz oder bessergesagt der Magen, begehrte. In den Stunden nach dem Essen schlich sich jedes Familienmitglied, einschließlich Dudleys, in die Küche, um sich gütlich zu tun.

Am nächsten Morgen, Harry wollte gerade nach dem Frühstück in sein Zimmer hinaufgehen, fuhr ein alter Ford Anglia die Einfahrt zu Nr. Vier hinauf.
"Bursche, ich hoffe, du hast deine Sachen gepackt. Sie holen dich endlich ab", erklärte Onkel Vernon, genüsslich grinsend.
"Ein Glück, dass ich nicht in so ein blödes Camp muss", meldete sich Harrys fetter Cousin Dudley mit einem schadenfrohen Grinsen zu Wort, "da würde ich ja alle meine Lieblingssendungen verpassen."

Harry blickte neugierig aus dem Fenster.
Zwei Leute stiegen aus dem Auto und kamen die Einfahrt herauf. Harrys Blick fiel sofort auf Kingsley Shacklebolt, einen großen kahlköpfigen schwarzen Zauberer mit einem goldenen Ring in der Nase. Der Anblick von Shacklebolt beruhigte Harry. Dann war ja alles in Ordnung, der Orden hatte sich diese seltsame Maskerade ausgedacht, warum auch immer. Neben Shacklebolt ging eine kleine Frau mit dunklen Haaren, die sie zu einem strengen Knoten aufgesteckt hatte. Sie mochte anfang dreißig sein und trug einen schwarzen Faltenrock und eine weiße Rüschenbluse. Sie hielt sich sehr gerade.

Onkel Vernon hatte die Haustür geöffnet und die beiden Besucher traten ein.
"Mr. Dursley?" Die Frau blickte Onkel Vernon aus grau-grünen Augen fragend an.
"Ja", bestätigte dieser.
"Ich bin Professor Fenwick, pädagogische Leiterin von Tollivers. Feriencamp für schwierige Jungen. Das hier ist unser Sicherheitsbeamter, Mr. Shacklebolt", stellte sie Kingsley vor. Kingsley hatte eine grimmige Miene aufgesetzt, die Onkel Vernon zu beeindruckend schien. Er warf dem Zauberer einen anerkennenden Blick zu.
"Wer ist Harry Potter?", fragte die Frau, nachdem sie zuerst Dudley und dann Harry angeblickt hatte.
"Ich", meldete sich Harry, der nun begierig war, so schnell wie möglich vom Ligusterweg wegzukommen.
"Dann holen Sie Ihre Sachen, Mr. Potter, damit wir aufbrechen können. Ich hoffe, Sie haben alles fertig gepackt. Bitte bringen Sie alles mit, was Sie für das nächste Schuljahr benötigen, Sie werden in den Ferien nicht mehr hierher zurückkommen."
Das war eine gute Nachricht. Auf dem Weg zur Treppe hörte Harry noch, wie Professor Fenwick mit kalter, schnippischer Stimme sagte: "Das gehört zu unserem Service, wir bringen die Jungen gleich in ihre Schule. Ich verspreche Ihnen, Sie werden sich wundern, was für einen heilsamen Einfluss wir auf Ihren Neffen haben werden."
Harry wuchtete seinen schweren Koffer und Hedwigs Käfig die Treppe hinunter. Hätte nicht wenigstens Kingsley mitkommen können, um den Koffer mit Zauberkraft zu transportieren?
"Was soll denn das sein?", fragte Professor Fenwick und deutete auf Hedwigs Käfig. "Ist auch egal", unterbrach sie dann Harry, der zu einer Antwort angesetzt hatte, mit einer ungeduldigen Handbewegung, "nehmen Sie das Ding ruhig mit, wir haben für alles eine Verwendung. Und jetzt verabschieden Sie sich von Ihren Verwandten Mr. Potter, wir haben nicht viel Zeit."
Plötzlich wandte sich Professor Fenwick an Dudley und ein schalkhaftes Lächeln heiterte ihre strengen und angespannten Züge auf. "Nun, Mr?"
"D...Dursley", stotterte Dudley unangenehm berührt.
"Mr. Dursley, möchten Sie uns nicht auch begleiten? Bei Ihrer Figur dürften Ihnen ein paar Wochen körperliche Arbeit an frischer Luft nur gut tun. Es ist noch ein Platz frei."
"Aber nein", schaltete sich Tante Petunia in das Gespräch ein, "unser Duddybaby ist doch viel zu zart für so etwas, außerdem hat er schon so viele Verabredungen mit seinen Freunden, er ist ja so beliebt unser Duddy."
Dudley lief bei dieser Lobrede seiner Mutter puterrot an und warf Harry einen vernichtenden Blick zu, so, als würde er ihn persönlich für diese Blamage verantwortlich machen.
"Nun, dann lasst uns aufbrechen", wandte sich Professor Fenwick wieder an Harry. Kingsley, der die Szene die ganze Zeit schweigend beobachtet hatte, half Harry mit seinem Koffer und sie verließen das Haus. Bevor die Tür hinter ihnen ins Schloss fiel, hörte Harry Onkel Vernon erleichtert aufseufzen.
"Fahren wir zum Hauptquartier?", fragte Harry sofort, als sie auf den Wagen zugingen.
"Bitte bezähmen Sie Ihre Neugier, Mr. Potter", entgegnete Professor Fenwick ungeduldig. Aus ihrer Stimme war eine leichte Gereiztheit herauszuhören. "Wir müssen so schnell, wie möglich hier verschwinden, für Erklärungen ist später noch Zeit."
Nachdem der Koffer und Hedwigs Käfig im Kofferraum verstaut waren, setzte sich Kingsley ans Steuer. Bevor Professor Fenwick auf der Beifahrerseite einstieg, blickte sie sich aufmerksam um. Sie gab ein verärgertes Fauchen von sich, als sie feststellte, dass anscheinend die gesamte Nachbarschaft damit beschäftigt war, die Szene zu beobachten.
"Dann muss es eben ohne Zauberstab gehen", presste sie zwischen zusammengekniffenen Lippen hervor und stieg ein. Nachdem Harry auf dem Rücksitz Platz genommen hatte, startete Kingsley den Motor und sie verließen den Ligusterweg wie ganz normale Muggel.
Nachdem sie sich eine Strecke entfernt hatten, murmelte Professor Fenwick etwas, das Harry nicht verstand. Er hatte allerdings ein ähnliches Gefühl, wie damals, als Mody ihn mit dem Desillusionierungszauber belegt hatte.
"Meinst du, das genügt", fragte sie dann, sich an Kingsley wendend.
"Ich glaube schon", antwortete dieser mit seiner tiefen, ruhigen Stimme, "es ist ja auch nicht sehr wahrscheinlich, dass wir angegriffen werden."
"Man kann nie wissen", antwortete sie düster.


 

 Kapitel 2

 

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