Kapitel 17
Dumbledore setzte sich Snape gegenüber, einen stummen Seufzer auf seinen Lippen. Die blauen Augen beobachteten ihn, verzeichneten jeden Ausdruck in seinem Gesicht, jedes Zucken seiner Mundwinkel und jedes Aufflackern in seinen schwarzen Augen. Er fürchtete sich vor dem Gespräch, mehr als vor allem anderen. Er fürchtete, dass die weltverbesserische Seele des alten Mannes sein Herz ansprach und ihn dazu zwang diese Qual zu erdulden. So wie er immer die Qualen erduldet hatte, die ihm das Leben bereitete. Dumbledores Blick verriet ihm, dass er wieder durch die Hölle würde gegen müssen. Dieser Mann sei verflucht, der ihn ständig in diesen seelischen Terror trieb, nur damit Severus am Leben blieb. Doch wie konnte man einem Mann, der so Gryffindor war, der immer und jedem seine Hilfe anbot, erklären, dass manche Hilfe genau das Gegenteil bewirkte. Dass der vermeintliche Versuch das Leben eines verhassten Tränkemeisters zu retten, der sichere Gang zu Hölle forderte. Albus meinte soviel über ihn zu wissen. Ihn so gut zu kennen. Das tat er wohl auch. Mehr als jeder andere, wahrscheinlich mehr als Snape selbst. Aber zu einem war der große Albus Dumbledore nicht in der Lage: Ein hartes Urteil im Sinne von Logik und Vernunft hinzunehmen, zu einem Zeitpunkt, in dem ein Kampf nur noch größeren Schaden nimmt und die Niederlagen noch schmerzhafter werden, die Realität einfach zu akzeptieren und den Dingen seinen Lauf zu lassen.
Und wieder würde es Albus tun. Er würde Severus zwingen seine Lage anzunehmen und für ein weiteres Leben als Squib zu kämpfen. Er hatte sicher schon eine Menge Ideen wie Severus' Leben in Zukunft weiterlaufen sollte. Was er tun könnte, was er weiter unterrichten könnte, wie er sein Quartier umgestalten müsste, um ohne Magie in ihm auszukommen. Dumbledore wusste immer eine Antwort und immer einen Rat.
Verdammt es war unmenschlich ihn am Sterben zu hindern!
"Du hast uns einen großen Schrecken eingejagt, Junge", begann der alte Mann das Gespräch und damit die Folter an einem ohnehin schon gebrochenen Mann.
‚Lass mich sterben!' brüllte er in Gedanken so laut, dass er sich selbst die Ohren zuhalten hätte müssen, wären diese Worte über seine Lippen gekommen.
"Ich war mir bewusst, dass es nicht einfach wird, mit dieser neuen Situation umzugehen, allerdings habe ich nicht gedacht, dass du so schnell reagierst."
Snape schwieg sich darüber aus. Die schnelle Reaktion war die einzige, die ihm in den Sinn gekommen war.
"Das macht mir Angst, Severus. Natürlich war eine Kurzschlusshandlung voraussehbar, aber dass du wirklich gesprungen bist, macht mir sehr viel Angst. Angst um dich."
Ein leichtes Schnauben entwich Severus. Wäre es nicht Dumbledore, würde er es für leere Worte halten, aber selbst dem alten Mann konnte er nicht ganz glauben.
"Erinnerst du dich jetzt wieder an alles, was Poppy gesagt hat?"
Snape nickte. Ja, und wie er wieder alles wusste. Sie konnte ihm nicht helfen, er war ein Squib, verkrüppelt und für niemanden noch wertvoll.
"Dann weißt du auch, dass eine Heilung nicht ausgeschlossen ist."
"Ich glaube nicht, dass die Chance einer Heilung derart hoch ist, um eine Hoffnung darauf aufzubauen", flüsterte er leise.
"Eine Chance ist immer eine Hoffnung, Severus. Egal, wie klein sie ist. Und je mehr man für die Hoffnung kämpft, desto höher kann sie werden."
Oh ja, Snape kannte Dumbledore ebenso gut. Ein leiser Seufzer kam über seine Lippen.
"Ich kann mich nicht auf Spekulationen stützen. Ich brauche Fakten, um zu hoffen."
Dumbledore rückte seinen Stuhl näher. Die alten, feingliedrigen Hände legten sich auf seine. Sanft, Dumbledore war immer sanft, strich er über die blassen Handflächen und Finger des Tränkemeisters. Sie waren ebenso wie seine Magie das höchste Heiligtum, das Severus besaß, denn diese Hände konnten die Zutaten für einen Zaubertrank mit künstlerischer Geschicklichkeit zubereiten. Mit Absicht massierte der alten Mann die Händes des Schwarzhaarigen. Es machte Severus bewusst, dass er wohl noch andere Talente hatte, in denen er vielen Zauberern weit überlegen war.
"Fakt ist, dass dein Körper überlastet ist, deine Nerven überbeansprucht und deine Seele zuviel ertragen musste."
"Muss...!" flüsterte der Slytherin fast lautlos.
"Fakt ist auch, dass mit genügender Ruhe und ein wenig Ablenkung die Stresssymptome reduziert werden können, um deinen Körper wieder auf einen gesunden Level zu bekommen. Wenn der ständige Ärger aus dir gewichen ist, wenn du wieder zu Ruhe und zu einer inneren Ausgeglichenheit gekommen bist, dann kann dein Körper das reparieren was zu Schaden gekommen ist. Er kämpft, Severus. Er kämpft so bitter gegen den Stress und den Ärger. Er hat kaum Gelegenheit sich auszuruhen, oder gesund zu werden, da er immer wieder gegen neuen Stress ankämpfen muss. Deine Magiefähigkeit war das erste was er abschalten musste, weil er mit den ganzen Aufgaben nicht mehr zurecht kam. Wie ein Schüler, der zu viele Strafarbeiten erledigen muss, der nur noch hinter den Hausaufgaben der letzen Wochen herräumt und gar nicht die neuen Aufgaben bearbeiten, geschweige denn den Stoff für die nächste Stunde vorlernen kann. Er muss Fach für Fach ablegen um dieser Situation wieder Herr zu werden. Und wenn er es geschafft hat, die anderen Fächer unter Kontrolle zu kriegen, kann er sich wieder um die kümmern, die er vernachlässigen musste."
"Wunderschön bildlich ausgedrückt", murmelte er sarkastisch.
"Lass ihn arbeiten, gib ihm keine neuen Strafarbeiten."
"Er könnte für immer in..."
"Severus!" Dumbledore unterbrach ihn. "Ich möchte nicht wieder von dir hören, dass du dir das Leben nehmen willst. Ich will es auch nicht von jemandem erfahren oder gar selbst sehen."
"Das ist doch wohl meine Entscheidung!"
"Dann werde ich sie dir abnehmen! Ab sofort wirst du immer unter Beobachtung bleiben."
Die Stimme des alten Mannes war hart geworden. Er benutzte diese Stimme nur sehr selten, denn ein Dumbledore verlor niemals die Geduld. Sein Versuch sich selbst das Leben zu nehmen, hatte den Direktor wirklich getroffen. Ein wenig überrascht zog der Slytherin die Augenbrauen hoch. Doch der Ärger darüber, von Albus entmündigt zu werden, schob diesen Gedanken wieder ganz schnell zur Seite.
"Ich brauche keinen Aufpasser!"
"Du brauchst einen Menschen, der dich auffängt."
"Erinnern Sie mich nicht daran, was der dumme Hund da draußen vollbracht hat!"
"Der ‚dumme Hund' hat ziemlich selbstlos gehandelt, wenn man beachtet, dass er es für dich getan hat."
"Er hat es doch nur getan, um wieder zu beweisen, was für ein toller Gryffindor er ist und wie undankbar der böse Slytherin."
"Ich glaube nicht, dass er Dank erwartet."
"Das hoffe ich für ihn."
"Severus, ich will dich nicht verlieren und ich denke, dass jemand in der nächsten Zeit für dich da sein muss, der dir hilft mit der Situation umzugehen und, ja, ein wenig darauf aufpasst, dass du keine Dummheiten anstellst. In der ersten Zeit will ich dich nicht aus den Augen lassen. Zumal es in der magischen Welt einige Hürden für dich geben wird, die du ohne Magie nicht wirst bewältigen können."
"Grmpf." Er würde nicht zurecht kommen müssen, wenn der blöde Köter etwas langsamer gewesen wäre. Doch es hätte keinen Sinn dies laut zu sagen. Stattdessen appellierte er an die Unmöglichkeit einer solchen Opferbereitschaft.
"Das ist doch lächerlich. Dafür haben Sie keine Zeit, Direktor."
"Ich werde Remus und Sirius damit beauftragen."
Severus hustete schwer. "WAS???" rief er aufgebracht. Er sprang auf und starrte den Direktor mit weit aufgerissenen Augen an. "Das kann nicht Ihr Ernst sein! Sie wissen genau, dass ich nicht mit den beiden auskomme! Abgesehen davon, dass auch sie weder Zeit noch Lust dazu haben."
"Das ist mir bewusst, Severus, und ich sehe es auch als Chance Eure Streitigkeiten beizulegen."
"Ich will und werde meine Streitigkeiten mit Sirius Black nicht beiseite legen. Und der Werwolf kann ebenfalls aufhören um mich herumzuschlawenzeln."
"Dennoch werde ich die beiden bitten, sich um dich zu kümmern. "
"Ich wiederhole: Ich brauche niemanden, der sich um mich kümmert!" brüllte der Zaubertränkemeister erbost. Sofort setzten wieder Kopfschmerzen ein und er rieb sich die Schläfe.
"Junge, du brauchst diese Hilfe. Ich werde nicht zulassen, dass du dir etwas antust. Du kannst immer noch ein erfülltes Leben führen. An deiner Stelle würde ich es nicht als Qual ansehen, sondern als eine Chance nicht mehr ein Leben als Spion oder Deatheater, als Spielball zwischen zwei Fronten führen zu müssen. Du kannst ganz neue andere Gebiete deines Lebens erforschen, Dinge, denen zu bisher kaum Aufmerksamkeit geschenkt hast."
"An meiner Stelle würden Sie genau wie ich sagen, dass es diese Aufgabe war, die mich zu einem wertvollen und akzeptablen Mitglied in der Zauberergemeinschaft gemacht hat. Ohne meine Spionagetätigkeit bin ich nur der ehemalige Deatheater, der einer Menge Menschen das Leben gekostet hat."
"Und noch viel mehr gerettet hat. Meine Hand liegt immer noch über dir. Ich habe mich vor dem Gericht für dich verbürgt, doch mittlerweile sind es wesentlich mehr Personen geworden, die das Gleiche tun würden. Du hast lange gebüßt. Du hast dir ein Ziel gesetzt, deine Taten wieder ins Lot zu bringen und die Menge an Personen, die dir jetzt ebenso vertrauen wie ich, sagt mir, dass du dein Ziel schon seit einer geraumen Weile erreicht hast."
"Sie vertrauen auf Ihr Urteil, Albus. Nicht mir!"
"Die Grenze dazwischen ist so verwaschen, dass keiner von uns das mehr genau sagen kann, Severus."
Snape setzte sich wieder. Sein Zorn verflog, obwohl er ihn krampfhaft bei sich halten wollte. Hatte Dumbledore Recht? Hatte er sein Ziel erreicht? Dann wäre Dumbledore also nicht hier, weil er seinen Spion nicht verlieren will. Dann wäre es Dumbledore egal welcher Tätigkeit Snape nachging, war er trotzdem noch der Mann, der immer hinter ihm stand. Die Leute vertrauten ihm? Wer denn? Black sicherlich nicht. Aber Lupin...? Lupin vielleicht. Der Werwolf hatte ihn nie wirklich angegriffen, das einzige was er ihm vorgeworfen hatte war, dass er nur weggesehen hatte, wenn die anderen auf Severus losgegangen waren. Damals war das für den jungen Snape einem Angriff gleichgekommen. Doch musste er heute akzeptieren, dass Lupin wohl ebenso unsicher in der Schule gewesen war, wie er selbst und sich nicht getraut hat gegen seine Freunde zu gehen, aus Angst sie zu verlieren. Er hatte verdammtes Glück gehabt, dass sie ihn aufgrund der Lykanthrophie nicht ausgestoßen hatten. Ein schüchterner, geouteter Werwolf wäre mit Sicherheit die Basis einer Beliebtheitsskala geworden, während Black und Potter immer auf der Turmspitze hausten.
Heute sah es etwas anders aus. Zumindest bei den anderen. Potter war tot und Black geächtet, Lupin geoutet, aber erwachsen genug um damit umzugehen, und dennoch von vielen seiner ehemaligen Schüler geliebt. Und er selbst? Sein Beliebtheitsgrad war weder gesunken noch gestiegen. Er hielt sich die Waage auf einer sehr niedrigen Stufe. Am Beispiel des Turms würde er sich auf der ersten Treppenstufe ansiedeln. Doch während er früher niemanden wirklich nennen konnte, der ihm Freundlichkeit entgegenbrachte, hatte sich dies nun geändert. Nur hatte die Liste seiner hasserfüllten Feinde zugenommen, so dass es sich wieder ausgeglichen hatte.
Lupin war freundlich zu ihm, warum auch immer. Schon seit einiger Zeit. Er wurde angelächelt und... heute hatte er auch nicht weggesehen. Er hatte eingegriffen, aber nicht gegen Snape. Und er hatte sich entschuldigt, was selten ein Mensch ihm gegenüber tat. Vertraute Lupin dem Schwarzhaarigen? Im Orden des Phönix musste er es tun. Das war Dumbledores Voraussetzung innerhalb des Ordens. Ohne Vertrauen würden sie nicht kämpfen können. Das war das was Dumbledore vom dunklen Lord unterschied. Dumbledores Kampf beruhte auf dieses riskante Vertrauen. Wenn es ohne Verräter funktionierte, war die Organisation allerdings mächtiger als wenn sich alle Mitglieder ständig gegenseitig überprüften. Aber würde Remus es auch privat tun? Wenn Severus nicht für den Orden arbeiten würde? Ein Gedanke, der es durchaus wert war, gedacht zu werden. Wollte sich Lupin mit ihm anfreunden? Ohne Orden?
Denn nun würde er kaum noch dafür arbeiten können.
Vielleicht als der andere Nachbar der Dursleys? Allerdings konnte sich Severus nicht vorstellen, den leichtgefälligen Potterjungen den ganzen Sommer über beobachten zu müssen.
Er würde den Orden verlassen müssen. Ob dann Leute wie Molly oder Arthur Weasley ihm immer noch vertrauten? Oder die anderen Mitglieder wie Fletcher, Tonks, oder gar Moody?
Severus wagte das zu bezweifeln. Allerdings konnte es ihm doch ziemlich egal sein, ob die anderen ihm vertrauten. Wann er das Ziel seiner Buße erreicht hatte, bestimmte er selbst. Er spionierte doch nicht um den anderen zu gefallen, sondern um selbst mit sich ins Reine zu kommen. Und dieser Prozess war noch nicht abgeschlossen. Nein ganz und gar nicht. Und dieser verdammte Zustand eines Squibs machte es ihm nicht gerade einfacher. Er gehörte gerne dem Orden an. Er war für ihn eine Gemeinschaft, der er angehören durfte und er akzeptiert und gewollt war. Bei Voldemort war er auch gewollt gewesen, aber zu welchem Preis? Dort war er nicht akzeptiert, nur geduldet. Voldemort konnte seine Talente nutzen, war aber nicht auf den Tränkemeister angewiesen. Severus war, wie jeder anderer Deatheater, ganz leicht austauschbar.
Wie konnte er so der Seite des Lichts noch helfen? Vielleicht einen anderen Deatheater ausquetschen. "Hey, du, wen plant denn der Lord demnächst zu überfallen und wann und am besten noch wer ist daran beteiligt? Warum ich frage? Ach nur so, bin neugierig und schreibe gerade meine Biographie." Das war doch lächerlich.
"Severus, ich weiß, dass du aufgeben willst. Und ich kann es auch verstehen, aber gib dir selbst die Chance damit umzugehen. Es gibt mehr Dinge auf der Welt als Magie."
Dumbledore sah ihn weiter mit seinen schrecklich freundlichen blauen Augen an. Er erwartete eine Antwort. Und er ließ nur eine Antwort zu.
Wann konnte er endlich selbst wählen, wie sein Leben verlaufen sollte?
Seufzend nickte er. Er konnte sich noch nicht vorstellen, dass es irgendwas gab, dass ihn ebenso interessierte wie das Herstellen von Zaubertränken, aber er würde wohl versuchen müssen, etwas vergleichbares zu finden, das keiner Magie bedarf. Was konnte noch soviel Spaß machen und war gleichzeitig so nützlich.
Er würde gründlich darüber nachdenken müssen.
Die warmen Hände Dumbledores legten sich um seine Schultern und er wurde an den Körper des alten Mannes gedrückt. Die Nähe tat gut. Mehr als er je zugeben würde. Unbewusst drängte er sich an Dumbledore. Na ja, die Umarmung würde doch niemand sehen, oder? Und Dumbledore ging bestimmt nicht damit Hausieren. Es war eigentlich mal ganz schön so.
Die Nähe zu einem anderen Menschen gab mehr Kraft, als man es glauben wollte. Die aufgewühlten Gedanken, der rumorende Magen, all das wurde besänftigt und beruhigt.
Dumbledore strahlte soviel Stärke aus, soviel Mut und Lebenswillen, dass er langsam auf Snape übertragen wurde. Sein argwöhnisches Selbst warnte ihn, dass Albus ein wenig beruhigende Magie in seinen Körper fließen ließ, doch er konnte es nicht nachprüfen und wenn, dachte der verborgenste Teil seiner Seele, der sich nach Geborgenheit sehnte, dann war das doch auch egal.
Langsam, wenn auch unaufhörlich, ließ er sich fallen und offenbarte Dumbledore ein Stück des gewaltigen Schmerzes, der auf ihm lastete. Seine Schultern zitterten und er war nahe daran in Tränen auszubrechen. Doch dazu kam es nicht. Soviel Selbstbeherrschung konnte auch kein Dumbledore durchstoßen.
-to be continued-
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