Kapitel 2
Es war mitten in der Nacht, als Harry von einem Geräusch erwachte. Verwirrt schaute er sich um. Ein Geräusch? In seinem Schrank? Dann erst begriff er, dass er gar nicht bei seinen Verwandten war, sondern in Hogwarts. Erleichtert ließ er sich in seine Kissen sinken, um gleich darauf wieder hochzufahren. Er hatte Schritte gehört. Zugegeben, extrem leise Schritte, aber Schritte. Sie entfernten sich vom Bett links neben ihm. Ebenso leise stand er auf - wenn er einmal wach war, würde er sowieso nicht mehr einschlafen, und zog die Vorhänge von seinem Bett zurück. Das Bett links neben ihm war leer, Lumos lag nicht mehr darin. Ein Neuer, der mitten in der Nacht in Hogwarts rumschlich? Er würde sich wahrscheinlich hoffnungslos verlaufen. Harry angelte seine Brille vom Nachttisch, setzte sie sich auf, schlüpfte in seine Schuhe und warf den seinen Tarnumhang über. Alles, nur nicht Nachts von Snape erwischt werde - er würde ihm so viele Punkt abziehen, dass sie Ende des Jahres immer noch im Minus wären.
Er eilte in den Gemeinschaftsraum, nur um gerade noch zu sehen, wie sich das Portraitloch schloss. Schnell sprang er hinterher, schlüpfte unter dem Bild hindurch und sah sich um. Einige Meter vor ihm sah er einen schwarzen Schatten um die Ecke verschwinden - Lumos. Leise eilte er hinterher. Bald hatte er aber jede Illusion, dass er den Jungen einholen könnte, aufgegeben - Lumos war sehr schnell. Und anscheinend wusste er ganz genau, wo er hinwollte.
Harry fühlte sich unwohl dabei, dem Neuen nachzuschnüffeln, aber er konnte doch jetzt nicht zurückgehen. „Das ist unanständig“, hörte er Hermines Stimme in seinem Kopf. Aber das war ihm jetzt auch egal. Keuchend rannte er hinter dem schwarzen Schatten her, der sich unter der nächsten Kerze tatsächlich als Lumos entpuppte. Er trug eine weite, schwarze Robe, seine langen Haare fielen ihm zerzaust ins Gesicht. Er wirkte aufgeschreckt, eilte immer weiter und mied das Licht der Kerzen. Mehrmals änderte er die Richtung und sah sich gehetzt um. Anscheinend befürchtete er, Professor McGonagall in die Arme zu laufen, eine Furcht, die Harry nur zu gut verstehen konnte.
Als sie am Aufgang zum Astronomieturm zum Halten kamen, war Harry klar, wo Lumos hinwollte. Flink rannte der Junge die Stufen zum Turm hinauf und wurde von der Dunkelheit des Treppenaufgangs verschluckt. Wahrscheinlich wollte er einfach nur den Mond betrachten, die Sterne, vielleicht dachte er an seine Eltern. Warum er wohl jetzt nach Hogwarts gegangen war? Aus familiären Gründen, hatte Dumbeldore gesagt. Und hatte Lumos nicht gesagt, seine Eltern waren Engländer? Waren. Das würde bedeuten.. mit einemmal gab Harry sich einen Ruck. ‚Los, geh da rauf und rede mit ihm. Du weiß doch, wie das ist, ohne Eltern..’, befahl er sich selbst.
Ein Geräusch hinter ihm, das man nur als Schritte deuten konnte, nahm ihm den Kampf mit sich selbst ab. Wenn das Professor McGonagall war, musste er Lumos warnen. Schnell rannte Harry die Stufen hinauf, stolperte, fiel, raffte sich wieder auf und rannte weiter. Als er die Plattform erreicht hatte, blieb er wie angewurzelt stehen. Lumos stand am Rand des Turmes, der Wind spielte mit seinen Haaren und seine weite Robe flatterte um ihn. Sein Gesicht war im Mondlicht weiß wie frisch gefallener Schnee, sein Atem ging schnell und seine Augen glänzten tiefschwarz.
Hinter ihm hörte er Schritte die Treppe hinaufkommen. Anscheinend hatte, wer auch immer an diesem Abend den Rundgang durchführte, seine Schritte gehört. Es waren leise Schritte, also war es nicht der Direktor, wahrscheinlich Professor McGonagall. Zu spät um Lumos noch zu warnen. Harry fluchte leise, dann verzog er sich in eine Ecke des Turmes.
Beim Geräusch der Schritte hatte Lumos sich umgedreht und starrte jetzt über das Gelände der Schule bis zum Verbotenen Wald. Anscheinend wollte er ‚Schlafwandler’ spielen. Dann kam eine Gestalt aus dem Treppenaufgang und betrat den Turm.
Harry wäre fast ein schnaufendes Geräusch entschlüpft, aber im letzten Moment konnte er sich noch zurückhalten. Die Schritte hatten nicht Professor McGonagall gehört. Auf dem Turm stand Professor Snape. ‚Er wird Lumos in Stücke hacken...’, dachte Harry entsetzt. Dann betrachtet er das Gesicht seines Lehrers, das ausnahmsweise einmal nicht zu einer Grimasse des Unmuts verzogen war. Professor Snape sah sehr besorgt aus. ‚Ich dachte nicht, das er das könnte...’, dachte Harry.
„Bon Nuit, Lumos“, sprach Snape den Jungen auf französisch an.
‚Snape kann französisch? Wenn ich das Hermine erzähle..’
Der Junge antwortete etwas auf französisch, das Harry nicht verstand, dann drehte er sich um.
Snape ging einige Schritte nach vorne und lehnte sich an das Geländer des Turmes. Und da fiel es Harry ‚wie Schuppen von den Augen’, wie Muggel immer so schön sagten. Beide trugen wehende, schwarze Roben, die langen schwarzen Haare, das bleiche Gesicht, beide hatten sie tiefschwarze Augen und eine Stimme wie schwarzer Samt. Sie waren beide groß, gertenschlank - wobei man das bei Snape nicht genau bestimmen konnte, schließlich trug er immer weite, schwarze Roben, und davon meistens auch noch mehrere, was man verstehen konnte, in den Kerkern war es schließlich kalt - , hatten schmale Gesichter, und sehr elegante Hände. Sie mussten verwandt sein. Eine solche Ähnlichkeit.. Außerdem stand Snape schon eine Weile auf dem Turm und Lumos lebte noch. Kein anderer Schüler hätte eine solche Begegnung mit Snape überlebt und vor allem kein Gryffindor.
„Und? Bist du enttäuscht?“, fragte der Junge.
Snape schaute überrascht. „Lumos, warum sollte ich?“
Der Junge schüttelte den Kopf. „Ich bin ein Gryffindor geworden.“
„Du kannst nichts dafür. Außerdem ist das perfekt. Slytherin ist zu gefährlich für dich..“
Lumos nickte. „Ich mag die Gryffindors. Sie sind sehr nett. Außerdem ist dieser dämliche Malfoy ein Slytherin, und mon dieu, allein der Gedanke, mit ihm in einem Schlafsaal..“.
„Lumos, pass auf, was du sagst.“ Snapes Stimme klang scharf.
‚Natürlich - er muss doch seinen Lieblingsschüler verteidigen..’, dachte Harry zynisch.
„Ich mag den Jungen auch nicht. Aber du weißt genau, wer und vor allem was sein Vater ist.. Wir können es uns nicht leisten, es uns mit ihm zu verderben. Ich nicht, und schon gar nicht der Rest meiner Familie. Es steht zuviel für uns auf dem Spiel. Lumos, du weiß es doch. Du bist ein intelligenter Junge. Ich bin sehr stolz auf dich.“
Die Augen des Jungen waren auf den Mann gerichtet. „Wirklich?“, fragte er leise.
„Natürlich. Sehr sogar.“ Mit diesen Worten zog Snape den Jungen in eine Umarmung und Lumos klammerte sich an ihn, als würde er sonst vom Turm fallen.
Harry, der so stand, dass er Lumos’ Gesicht sehen konnte, sah, dass der Junge lautlos weinte. Leise schlich er aus seiner Ecke heraus und huschte deieTreppe hinunter. Er hatte schon viel zuviel gesehen. Tief in seine Gedanken versunken lief er durch die Gänge von Hogwarts zurück zum Gryffindorturm. Ohne auf den Weg zu achten, überlegte er immer wieder, in welche Verbindung Lumos zu Snape stehen mochte. Onkel? Vater? Snape ein liebender Vater? Ein Gedanke, an den man sich erst würde gewöhnen müssen. Er würde Lumos irgendwann fragen. Allein. Hermine und Ron brauchten nicht alles zu wissen. Nicht immer.
Schließlich kam er, komplett außer Atem am Portraitloch an, flüsterte das Passwort und entkam grade noch Peeves, dem Poltergeist. Erschöpft riss er sich dem Umhang vom Körper, aber anstatt ins Bett zu gehen setzte er sich den Gemeinschaftsraum, um auf Lumos zu warten.
Er musste nicht allzu lange warten. Nur knapp zehn Minuten später klappte das Bild weg und Lumos kam durch das Portraitloch in dem Gemeinschaftsraum geklettert. Harry schaute ihn an, sagte aber kein Wort. Lumos war komplett in Gedanken versunken, er bemerkte Harry nicht einmal, aber als er an ihm vorbeiging und dabei über Harry’s Füße stolperte, schrie er vor Schreck auf. Er fuhr herum, und ehe Harry sich auch nur im mindesten bewegen konnte, hatte er Lumos Zauberstab am Hals. Geschockt über die Reaktionsschnelligkeit des Jungen schaut er in dessen Gesicht. Wie auch immer er mit Snape verwandt sein mochte, er beherrschte das Minenspiel des Professors noch nicht perfekt. Man sah in seinem Gesicht noch Gefühle. Momentan stand eine Mischung aus Schreck, Panik und Wut im Gesicht des Jungen.
„He, ich bin es!“, versuchte Harry den Jungen zu beruhigen.
„Erschreck mich niemals mehr. Niemals! Das könnte schlechte Folgen für dich haben!“ Dann steckte er seinen Zauberstab in seine weite Robe zurück und verschwand in Richtung Schlafsaal.
Als Harry ihm fünf Minuten später nachfolgte und sich ins Bett legte, stellte er fest, dass Lumos sich wirklich nicht so gut unter Kontrolle hatte wie Snape. Denn durch die zugezogenen Vorhänge des anderen Bettes und durch die zugezogenen Vorhänge des eigenen Bettes hörte Harry ein Geräusch, das ihm sehr vertraut vorkam. In dem Bett links neben ihm versuchte jemand, sein Schluchzen im Kopfkissen zu unterdrücken.
Zurück