Kapitel 2
Sabina Selpent lief schneller. Ihr rotes Haar wehte hinter ihr her und trocknete im Frühlingswind. Was für ein schöner Tag, um eine neue Stelle anzutreten. Na ja, eigentlich war der Tag noch viel schöner, um andere Dinge zu tun. Wie schwimmen zu gehen, beispielsweise. Und nun spazieren gehen zu können, später vielleicht ein Frühstück, im Garten eines Cafés. Aber nein, sie musste arbeiten. Sich erwachsen verhalten. So als ob sie das ernst nähme und nicht nur wegen des Geldes arbeiten würde. Sondern weil sie einen Sinn darin sah. Ihre Nase kräuselte sich. Immer das gleiche Theater. Nicht genug, dass man nicht machen durfte was man wollte, man musste auch noch so tun, als würde man sich nichts sehnlicher wünschen. Kein Wunder, dass die meisten Menschen so verklemmt waren.
Wie dieser Typ da unter der Dusche vorhin. Sie hatte sich nur einfach gefreut, ein anderes menschliches Wesen, oder überhaupt ein Wesen, das mit ihr die Freude am frühen Morgen in der Natur teilte, zu treffen. Er war so plötzlich da gewesen, erst als sie die Augen zugekniffen hatte, um auf die fernen Berge zu sehen. Er hatte sehr nett ausgesehen, wie er da so unter der Dusche stand, mit geschlossenen Augen das Wasser genießend, den Körper gebogen, um das Wasser überallhin zu lassen. Durchaus - ansprechend. Aber wie er sie dann aus den goldbraunen Augen angestarrt hatte, als habe sie ihm ein Heiligtum weggenommen, oder es berührt, nein, also so was Doofes. Er hatte ihr beinahe den Spaß verdorben, sie war sich aufdringlich und kindisch mit ihrer Freude vorgekommen. Später hatte sie ihn aus dem Wasser dabei ertappt, wie er sie immer noch anstarrte. Komischer Spinner. Attraktiv, sogar sehr, aber wohl doch sehr sonderbar.
Sie schüttelte wieder den Kopf, um den Mann loszuwerden. Mit dem wollte sie sich jetzt nicht mehr belasten. In Kürze würden wieder neue Eindrücke auf sie einstürmen, da sollte sie ihre letzte freie Zeit noch genießen. Sie atmete tief durch, sah die Bäume, die Eichhörnchen und die Vögel an und jubilierte beinahe laut. Jetzt noch gehörte sie hier her, zur Natur. Hier war sie sie selbst. Bald musste sie schon wieder anständig gucken und aussehen und sich benehmen, und so tun, als würde sie sich für das grenzenlos blöde Geplapper über Autos und so interessieren. Sie seufzte. Irgendwie hätte jemand mal wieder was Neues erfinden können.
Menschen waren einfach langweilig, meistenteils. So berechenbar. So gefangen in ihren kleinen Sorgen. Sahen nicht die Weite, die Schönheit, das Ganze. Wollten es auch nicht. Wollten gefangen sein. Unglücklich. Krank. Sich nicht von Kreatur zu Kreatur begegnen und das Leben feiern, sondern Formen wahren. Anstand. Sozialen Abstand. Wie dieser Typ unter der Dusche. Selber schuld. So eine Verschwendung. Dabei war er in seiner kreatürlichen Freude, als er sich unbeobachtet glaubte, so schön gewesen, wie - dieser Adler, da oben. Aber er musste sie ja böse angucken, statt sie einfach anzulächeln und den Moment mit ihr zu teilen. Bitte schön. Sie würde sich nicht weitere Momente von der Erinnerung an ihn verderben lassen. Sie sah dem Adler nach, als er sich in die Lüfte aufschwang und dann verschwand. Sie seufzte und sah auf die Straße. Sie war schon beinahe da.
Sie blieb stehen und steckte ihr Haar in einer oft geübten Bewegung zurück, zückte einen Lippenstift und bemalte sich die Lippen. Sie holte ein schwarzes bügelfreies Hemdblusenkleid aus ihrer Tasche und zog es über ihre Shorts und das sonnenfarbene T-Shirt. Dann setzte sie ein professionell freundliches Lächeln auf, das sie ebenfalls lange geübt hatte, bis es ihr nicht mehr in den Mundwinkeln weh tat. Sie öffnete die Tür zu ihrer neuen Arbeitsstätte.
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