Geheimnisse

 

 

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Kapitel 57: Relativität der Zeit


Hoffnung ist der Anker der Welt.

Bantu-Weisheit



Irgendwann wußte Sirius nicht mehr wie viel Zeit vergangen war. Der Tag strich dahin, die Sonne überschritt den Zenit und näherte sich dem Horizont. Aber für dieses tagtägliche Schauspiel hatte er keine Zeit, das Fieber sank zwar über den Tag, aber als die Nacht anbrach holte es von neuem Anlauf und biss sich im Körper des Todessers fest. Die Tränke taten nicht mehr ihre Wirkung und der ausgemergelte Körper schien sich seiner selbst nicht mehr so sicher, ob er kämpfen oder aufgeben sollte. Was hatte Hagrid einmal geschrieben? Zu oft und zu schnell hatte man Snape wieder auf die Beine bekommen, um sein und das Leben anderer zu schützen. Der Körper hatte diese Behandlung trotz all der Jahre nicht vergessen, er erinnerte sich an jede überschrittene Grenze, an jedes Medikament, an jeden Zaubertrank. Firenze war unerschütterlich in seinem Versuch dem Kranken sein Los zu erleichtern, und selten hatte Sirius den Zentauren mit solcher Beharrlichkeit und solcher Sanftheit handeln sehen. Doch das Fieber kümmerte sich wenig um die gutgemeinten Aktionen des Zentauren.
Traurig sah das magische Wesen auf die Eisschüssel und meinte: "Es war einen Versuch wert gewesen."
Sirius klopfte dem Zentauren auf den Rücken, auch wenn er sich dazu etwas auf die Zehenspitzen stellten musste. "Es war ein guter Versuch gewesen, ein guter! Und wir sollten ihn nicht aufgeben! Es bringt vielleicht doch Linderung."
Mit diesem Worten schob er die Schüssel wieder zum Zentauren und ließ weitere Eisbrocken in das Wasser gleiten.
Der geschundene Todesser brannte von innen förmlich aus. Einmal mehr fragte sich Sirius was in einem solchen Moment in einem vorging.

In Askaban hatte Black auch den Schrecken von Folter erlebt, er hatte Mad Eye nicht alles erzählen können, dass die Wachen in Askaban beinahe so schlimm waren wie die Todesser. Dass auch dort zeitweise Erniedrigung und Folter herrschten. Die Gefangenen waren oft die Spielbälle der Aufseher gewesen. Aber nie, nie waren sie so weit gegangen wie Voldemort, keiner hatte je dem Dunklen Lord das Wasser reichen können, geschweige denn Peter Moray. Nie war er, Sirius Black, in einem solchen Zustand gewesen. Verhungern lassen hatte man ihn einmal beinahe, verdursten, erfrieren, in der stillen Hoffnung, der Verräter würde endlich sterben. Ja, sogar einige Flüche hatte er aushalten müssen, die ihn manchmal fast um den Verstand gebracht hatten. Aber nie, nie hatte er an dem Punkt gestanden, wo jetzt Severus Snape stand. Immer hatte er gewusst, er musste am Leben bleiben und hatte um jeden Tag, manchmal sogar um jede Minute gekämpft, am Leben zu bleiben!

Krämpfe kamen und gingen, manche schlimmer, manche waren nur ein stilles Zittern. Der Körper hielt diese durch, wie eine kleine Lebensflamme, die immer wieder aufflackerte, wenn das Leben heraus zu fließen schien. War da doch noch Kraft, trotz der Tortur, die Snape durchlebt hatte? Oder täuschte sich Sirius wieder einmal in seinem alten Feind, der nun sein Schützling geworden war. Sirius fuhr sich zum zigsten Male durch die Haare. Er wurde einfach nicht schlau aus diesem Menschen, war er nie geworden. Auch nie in der Vergangenheit. Die Vergangenheit....

Sirius wandte sich kurz ab, tat so als ob er eine weitere Salbe begutachtete. Jetzt, im Nachhinein, hätte er gerne einige Dinge rückgängig gemacht. Aber wenn dem so gewesen wäre, würde er dann immer noch der Gleiche sein? Oder Snape? Zornig schüttelte er den Kopf, es war an der Zeit, die Vergangenheit ruhen zu lassen, das gehörte nicht hier her.

Mit größer Vorsicht löste er die verkrampften Finger von Snape von der Bettdecke und begann die wohlriechenden Salben in die Sehnen einzumassieren. Firenze wurde in diesen Momenten ein stiller Beobachter, gab dann und wann Medikamente weiter, aber mehr nicht, und das Einhorn stand einfach nur im Raum, als ob allein seine Anwesenheit alles besser machen müsste.
Die Nacht kam und das einzige Licht, das sie hatten, war das vom Kamin und dem Mond, der durch die Fenster in den Raum schien. Das Fieber stieg weiter und Sirius wagte es, eine weitere, diesmal weit stärke Dosis des Trankes Snape zu verabreichen. Viel zu verlieren hatten sie jetzt nicht mehr. Entweder starb Snape an einer Überdosis Medikamente oder das Fieber raffte ihn dahin. Die dritte Möglichkeit, Leben, schien in weite Ferne gerückt zu sein.

***



Seine Kehle brannte, als ob ihm jemand heißes Blei in die Kehle geschüttet hätte. Warum tat man ihm weh? Warum war er hier? War da nicht Hoffnung gewesen? Vorhin? Ganz kurz? Ein Schimmer des Verbotenen Waldes und die unmögliche Gestalt von Sirius Black? Selbst hier in der Dunkelheit hatte er keine Ruhe, die Schmerzen quälten ihn, zeigten, dass er noch lebte. Die Uhr tat nicht ihren Dienst, ihre Zeiger zitterten, manchmal sprangen sie einen kleinen Tick weiter. Für diese kurzen Momente spürte er den Frieden, den er so ersehnte, aber wenn die Uhr wieder still stand, holte in das bisschen Leben, was er noch hatte, gnadenlos ein.
Erinnerungen kamen hoch aus der Dunkelheit, Bilder, Emotionen, Geschehenes was er nicht mehr rückgängig machten konnte, und es waren die Schlimmsten seines Lebens.

***



Severus schrie, es waren die Schreie einer gequälten Seele, die zu viel gesehen hatte. Firenze seufzte. "Delirium, er ist im vollen Fieberschub."
Sirius hielt in stummer Verzweifelung die Hand des Kranken und versuchte der Seele, die da schrie, Trost zu geben. Snape schlug um sich oder erschlaffte vollends mit einem leisen Wimmern. Es wurde die längste Nacht in Sirius' Leben. In dieser Nacht hatte er beschlossen, dass seine Jahre in Askaban nichts waren gegen diese quälende Ungewissheit, die an Sirius nagte, die Hölle, die er jetzt durchlebte und die unendliche Sorge um ein Menschenleben.

Die Mittel hatte nicht gewirkt. Hagrids Worte waren grausame Realität geworden. Das alles, ihre Versuche das Fieber zu stoppen, hatten das Unwiderrufliche nur hinausgezögert. Manchmal sprach Snape Wortfetzen, flehte um Gnade, versicherte seine Loyalität und rief nach Freunden, Herren, die es nicht mehr gab. Manchmal stellten die Wortfetzen selbst Black und Firenze vor Rätsel. Sie reichten wohl so tief in die Vergangenheit zurück, von der niemand etwas wußte, außer Hagrid vielleicht. Der Atem kam immer unregelmäßiger und der Herzschlag war bei weiten nicht mehr so stark wie vorher. Sirius saß auf dem nahen Stuhl und war am Rande seines Wissens angelangt. Der Kranke lag eingefallen, bleich, ausgezehrt auf dem Bett, ein Schatten seiner selbst. Die Lippen waren halb offen, sogen zitternd Luft. Die Haut wurde bleicher und fast durchsichtig wie Pergament. Ein Außenstehender hätte den Menschen im Bett für eine Wachsfigur gehalten, wenn da nicht das unregelmäßige Heben und Senken des Brustkorbes gewesen wäre. Black wünschte sich Alastor wäre nicht gegangen, er könnte ihn jetzt heilen oder ihm wenigstens mit seinem Zauberstab helfen. Er hatte es wohl unbewußt ausgesprochen, denn plötzlich sprach Firenze: "Glauben Sie er hätte etwas ändern können? Oder Pomfrey?"
Sirius sah auf, der Zentaure ließ sich direkt neben ihm auf dem Boden nieder.
"Habe ich Ihnen eigentlich erzählt wie ich ihn kennen gelernt habe?" fragte Firenze.
Was sollt das werden, Märchenstunden? Während Snape ums Überleben kämpfte? Entgeistert sah Sirius den Zentauren an. Dieser jedoch wirkte sehr ernst und es sah wirklich nicht wie ein Witz aus.
Vielleicht half es ihm, Sirius Black, etwas besser zu verstehen warum Firenze hier war. Und vielleicht warum ER, Sirius Black, sich entschlossen hatte zu helfen. Firenzes Geschichte könnte seine eigene möglicherweise erklären.
Firenze begann zu erzählen.

"Es war Winter, ein sehr kalter Winter. Die Tiere des Waldes reden gerne mit Zentauren, wußten Sie das?"
Sirius schüttelte den Kopf.
"Sie erzählten mir seit langem von einem dunklen Schatten, von Dunkler Magie im Wald. Doch ich nahm sie nicht ernst. Klein-Tiergeschwätz, wie es tagtäglich vorkommt. Sie erzählen viel, meinen jedoch sehr wenig. Bis an jenem Abend, da hieß es, da sei ein verletztes magisches Wesen in einer Senke des Waldes aufgetaucht und starb. Es war ein kalter Winterabend damals, der Wind blies und es schneite dicht. Besorgt machte ich mich auf die Suche nach dem Wesen. Ich ging zur Senke, wo man es gesehen hatte. Nur noch einen schwachen Lebenshauch konnte ich unter dem Schnee ausmachen, aber ich begann sofort zu graben. Hagrid kam dazu und so wußte ich, dass ich da etwas ausgrub, was für Hagrid sehr wichtig war."
"Snape", mutmaßte Sirius halbherzig.
"Korrekt! Ich half Hagrid ihn ins Schloß zu bringen. Es sah nicht gut aus. Blut überall und er war so kalt. So kalt." Unbewußt schlang Firenze die Arme um seinen Oberkörper, das Feuer im Kamin knisterte leise. "Ich ging ins Schloß mit Hagrid und dort warteten der Direktor Dumbledore und Madame Pomfrey. Es war das erste Mal, dass ich IM Schloß war, ich hatte ja keine Ahnung wie Hogwarts von innen aussah. Wir Wesen des Waldes sehen es ja immer nur von außen. Von innen ist es so anders und doch irgendwie vertraut. Fast so als würde man einen alten Bekannten besuchen, der jemanden herzlich willkommen heißt." Der Zentaur starrte ins Leere, fast so als könne er Hogwarts sehen. "Aber zurück zu Dumbledore und Pomfrey, sie heilten ihn so gut es ging, aber sein Überleben hing an einem seidenen Faden. Hagrid erzählte mir was Snape alles Gutes getan hatte und wie oft er dabei verletzt worden war. Doch an dem Abend sah es nicht sehr gut aus. Selbst Dumbledore zweifelte an sich und an dem was er getan hatte. Er war sehr zornig und gleichzeitig sehr besorgt an diesem Abend."
Firenze senkte den Kopf und schwieg.
"Es sieht jetzt auch nicht gut aus", meinte Sirius traurig.
"Ja, aber damals schaffte er es. Weil sich Geist und Körper irgendwann einig waren zu leben. Er hatte eine Aufgabe! Die er erfüllen musste! Er wusste, dass seine Zeit noch nicht reif war!" sagte Firenze geheimnisvoll.
"Aber jetzt hat er nichts mehr! Firenze, er hat nichts mehr! Keinen Herrn! Keine Aufgabe!" Sirius' Stimme klang hart und verzweifelt zugleich.
"Damals, nach dem Fall des Dunklen Lords, viel später, da hatte er auch keine Aufgabe mehr, aber er hatte Hagrid." Firenze legte dem Magier sachte eine Hand auf die Schulter.
Sirius sah in die unglaublich blauen Augen und Firenze flüsterte: "Jetzt hat er Sie! Hagrid hat ihn nie aufgeben! Er hatte genug Kraft für sich und für Snape. Geben Sie auch nicht auf! Für sich und für ihn! Es ist nicht nur sein Kampf, sondern auch der Ihre."
Die Worte des Zentauren gaben ihm zu denken. War dies wirklich auch sein Kampf? War er immer noch so unsicher? Wobei es bei ihm wohl eher heißen müsste, sein "Ich", das er nach außen zur Schau trug und seine Seele waren sich nicht einig. Von außen war Sirius Black immer noch der tollkühne mutige Mensch, dem man Askaban nicht anmerkte wenn er sprach, aber seine Augen und sein Aussehen straften den unerschütterlichen Black Lügen. Bei Snape waren es Geist und Körper. Ja, so konnte man das hier nennen, Geist und Körper waren sich nicht einig. Sonst würde es nicht so schlimm aussehen.

Langsam begann es in ihm zu arbeiten. Dies war vielleicht mit sein Kampf, aber momentan nicht sein Schlachtfeld, um seine eigene Vergangenheit und Zukunft würde Black später nachdenken. Jetzt musste er irgendwie Snapes Geist und Körper dazu bringen, wieder gemeinsam an einem Strang zu ziehen. Geist und Körper mussten sich wieder einig sein, sie mußten weiter kämpfen. Verdammt, Snape hatte es so weit geschafft, hatte so lange durchgehalten. Es wäre einfach zu unfair wenn er jetzt sterben würde. Sein Blick hing an den zitternden Lippen und er hörte das leise Pfeifen, wenn Snape Luft sog. Der Atem ging sehr schwer. Überhaupt sah Snape nicht ganz so entspannt aus wie er gewünscht hätte, fast so als fürchte sich der Kranke zu erwachen.
"Firenze?" fragte der ehemalige Gefangene von Askaban vorsichtig.
"Ja, Mr. Black."
"Wo war Snape am meisten glücklich?" Ein Gedanke setzte sich in Sirius fest und die endgültige Antwort hing von Firenze ab.
Firenze hatte die Augen geschlossen und den Kopf schief gelegt, er dachte nach.
"Es gab mehrere Stellen, mehrere Dinge, die er sehr mochte. Er mochte Dumbledores Büro und Hagrids Hütte", antwortete Firenze langsam.
Sirius schüttelte den Kopf.
"Auch lag er oft im Verbotenen Wald, einfach so. Weil er die Geräusche, den Geruch und die Farben entspannend fand. Es war wie ein großer Rückzugsraum für ihn, Fawkes hat ihn auch einmal dort gefunden", überlegte der Zentaur weiter.
Langsam sah Sirius von Firenze zu dem Einhorn. Der Wald. Dass er da nicht früher daran gedacht hatte. Immerhin hatten er und Snape einmal eine Nacht darin verbracht. Schnell warf er einen Blick aus dem Fenster, es war noch dunkel.
"Ich habe eine Idee, und Firenze, ich brauche Ihre Hilfe", sagte Sirius und langsam streckte er auch eine Hand nach dem Einhorn aus.
Es suchte seine Nähe und schnob freundschaftlich. "Und auch die deine, Tochter des Mondes."

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